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Wie schwul ist der Song Contest wirklich?

Dem ESC eilt ein Homo-Ruf voraus. Trotzdem ist der Wettbewerb kein reines Schwulenfest.

Foto: Albin Olsson | CC by 3.0

Meine erste bewusste Erinnerung an den Eurovision Song Contest war das Jahr, in dem die Rounder Girls für Österreich angetreten sind. Ich war 6, sie waren dick und ich durfte zum ersten Mal länger aufbleiben. Die ganze Show fand ich super—die übertriebene Inszenierung, die geschmacklosen Outfits, den Kitsch, das ganze Trara.

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Es ist ein Klischee, aber ich falle da nun mal irgendwie rein. Der ESC spricht eine Sprache, die viele Schwule zu verstehen scheinen. Hetero-Männer begeistern sich eher selten für den Wettbewerb, zumindest kenne ich keine. Ich hatte Jahre, in denen mir der Song Contest nicht egaler hätte sein können, aber auch Jahre, in denen mich das ganze Drumherum einfach gepackt hat. 2008 war so ein Jahr. Damals hatte ich meinen bisherigen und einmaligen Zenit als Eurovisionär. Ich weiß beim besten Willen nicht mehr wieso, aber damals habe ich sogar die internationalen Vorauscheidungen mitverfolgt wie ein verblödeter Fanboy. Ich habe viel Zeit verloren, dafür haben die Schweden meinen ewigen Respekt gewonnen—dort zelebriert man den Vorentscheid als wochenlanges Festival in ausverkauften Fußballarenen. Ich glaube, niemand feiert die Eurovision so hart wie die Schweden.

Nachdem 2008 dann dieser schmierige Russe mit dem geklauten Timbaland-Beat und dem willkürlichen Eiskunstläufer auf dem ersten Platz landete, war ich irgendwie raus. Bis zum letzten Jahr, als Conchita uns den Schaß gewonnen hat und damit selbst meinen Papa zum Weinen brachte. In erster Linie war es aber ein gesellschaftliches Statement für Europa.

Als Lena Meyer-Landrut für Deutschland den Titel holte, war von einer „Entschwulung" des Contests die Rede, da homosexuelle Männer sich nicht mit ihrer Mädchenhaftigkeit identifizieren konnten—wenn Lena den ESC entschwult hat, dann hat spätestens Conchita diese Entwicklung wieder rückgängig gemacht. Die Flagge, die in diesem Jahr in der Stadthalle am häufigsten geschwenkt wird, ist die Regenbogenfahne.

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Dem Song Contest eilt also dieser Homo-Ruf voraus, aber wieso eigentlich? Weil es um Glanz und Glamour geht, und das auch eine dieser Schwulen-Schablonen ist? Weil eine theatralische Diva im Glitzerkleid mit reichlich Windmaschinen-Action nichts ist, was Hetero-Männer verstehen? Man kann versuchen, das so zu erklären. Im Grunde genommen ist es aber doch nicht ganz richtig.

Es gibt nämlich auch Männer, die rein gar nichts mit der Eurovision anfangen können und—oha—trotzdem schwul sind. Höchstwahrscheinlich sind sie den schwulen ESC-Fans gegenüber sogar in der Überzahl. Aber, und das ist der springende Punkt: Von denen kriegt man eben nichts mit. Man nimmt sie nicht so wahr, wie die Jungs, die neben mir in Tränen ausbrechen, weil sie die Schönheit und den Herzschmerz der spanischen Sängerin nicht packen. Und wie auch, sie gehen am Tag des großen Finales vielleicht lieber in den neuen Vin Diesel-Film oder bleiben zuhause und hören Jazz, was weiß ich.

Ergo sind nicht alle schwulen Männer ESC-Fans, aber alle ESC-Fans sind schwul, oder? Das ist auch wieder nicht ganz richtig. Es sind mehr die Leute hinter den Kulissen, die Organisatoren, die Mitarbeiter, die Journalisten, und die richtig leidenschaftlichen Hardcore-Fans, die das Schiff seit Jahrzehnten über Wasser halten und von denen eben ziemlich viele schwul oder—nicht so oft, aber immer öfter—lesbisch sind. Tausende Journalisten arbeiten derzeit im Wiener ESC-Pressezentrum, Jan Feddersen von der taz schätzt die Anzahl der Heterosexuellen auf ungefähr 5. Dass die ESC-Fangemeinde aber nur aus Schwulen besteht, geht sich allein von den Zuschauerzahlen her nicht aus. Und wie bereits erwähnt, Conchita hat meinen Papa zum Weinen gebracht.

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Da schubladisieren wir wohl einfach zu gern. Ein Hetero-Mann kann genau so gut zu „Waterloo" abgehen, nur passt das eben nicht so gut in unsere stereotypisierten Vorstellungen von Heteros, die nur Fußball spielen und Schwulen, die jedes Musical auswendig können. Die Eurovision steht in erster Linie nicht für Homosexualität, sondern viel mehr für Offenheit, Freundschaft und ganz, ganz viel Spaß. Zumindest sollte sie das.

Was da nicht so ins Bild passt, sind die teils nationalistischen Beiträge aus Ländern, die das Konzept des ESC nach außen hin nicht gerade teilen—mal mehr, mal weniger subtil. Weißrussland schickte 2011 beispielsweise mit „I Love Belarus" eine ziemlich gruselige Liebeserklärung an sich selbst ins Rennen.

Foto: Alexandra Xubersnak | Flickr | CC by 2.0

Russland sah im Sieg von Conchita ja sowieso eine globale Verschwulung und prophezeite infolgedessen das Ende der Welt, macht aber trotzdem jährlich—und durchaus ehrgeizig—beim Song Contest mit. 2003 wurden t.A.T.u. (die knutschenden Lesben, die dann doch keine waren) geschickt, im vergangenen Jahr gab's traditionelle Babuschkas aus dem Jahre Schnee und nach Wien kommt Russland mit einem Schmachtfetzen über Weltverbesserung und Frieden. Trotzdem gab's beim ersten Semifinale tosenden Applaus in der Halle.

Dazu muss aber gesagt werden, dass Conchita auch aus dem homophob regierten Russland Punkte bekam und somit gezeigt hat, dass ein Land eben nicht immer so denkt wie seine Politik(er).

Ein Land wie Serbien, in dem homosexuelle Aktivisten auf der Straße immer noch verfolgt, bedroht und lebensgefährlich verletzt werden, gewann den Wettbewerb 2007 mit einer lesbischen Sängerin und schickt in diesem Jahr einen Song nach Wien, dessen Refrain den Text „I'm different and it's okay" beinhaltet. Es ist schon irgendwie paradox, und auch fast ein bisschen anbiedernd dem ESC-Publikum gegenüber. Aber es funktioniert. Gestern beim ersten Halbfinale wäre der Typ neben mir fast umgekippt, weil er jede Zeile dieses Songs so inbrünstig mitgeschmettert hat, als ginge es um sein Leben.

So gesehen ist der Song Contest eigentlich eine sehr bizarre Veranstaltung, weil er homosexuelle Hardcore-Fans und Nationalisten durch ihre Vorliebe für Kitsch verbindet und ihnen damit einen gemeinsamen Nenner bietet. Er ist widersprüchlich, kitschig, politisch, geschmacklos, fad, aufregend, deppert, unterhaltsam, vielfältig und ja, der Song Contest ist schon auch schwul. Ungefähr so schwul, wie die Fußball-EM hetero ist.

Franz twittert hier: @FranzLicht