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Warum die Teenagerzeit auf dem Land die Hölle ist

Niemand interessiert sich in der Pubertät für Kühe und wer kein Fan von inzestuösen Überraschungen ist, sollte auf One-Night-Stands verzichten.
Foto: plaits | Flickr | CC BY 2.0

Foto: plaits | Flickr | CC BY 2.0

Kürzlich hat ein zufriedenes Dorfkind euch erklärt, warum es so geil ist, auf dem Land aufzuwachsen. Sicher hat das Landleben seine Vorzüge: die frische Luft, die grünen Wiesen und die süßen Kälbchen lassen jedes Kinderherz höher schlagen. Sobald du aber in das Alter kommst, in dem du anfängst, über dich und die Welt nachzudenken, ist es mit der Idylle vorbei. Bauern sind nicht deine Freunde. Sie bringen ihre Kälbchen persönlich zum Schlachter, ertränken Babykätzchen und ihre beschissenen Bauernregeln stimmen auch nie.

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Darüber hinaus gleicht das Leben als Teenager auf dem Land einem Vielfrontenkrieg. Neben den alltäglichen Sorgen eines Heranwachsenden musst du dich mit quälender Langeweile, unzuverlässigen Transportmitteln, neugierigen Nachbarn und ignoranten Stammtischbrüdern herumschlagen. Das Kultur- und Fortgehangebot ist unterirdisch und die nächste große Stadt weit entfernt. Lasst euch euch an dieser Stelle also von einem traumatisierten Dorfkind darüber aufklären, was es wirklich bedeutet, in der Provinz aufzuwachsen.

Natur und gutes Essen sind dir als Teenager scheißegal

Foto: martinak15 | Flickr | CC BY 2.0

Als Kind wirst du dir zugegebenermaßen nichts Schöneres vorstellen können, als im Matsch zu toben und im Wald auf Schnitzeljagd zu gehen. Und ja, als gestresster Großstädter mit Hang zur sehnsüchtigen Hofladenromantik wirst du dich zweifelsohne nach der frischen Luft und sogar nach dem Gestank eines frisch gedüngten Kartoffelfeldes zurücksehnen, doch in den Jahren dazwischen ist dir all das herzlich egal. Als erlebnisorientierter Teenager ist die Betonwüste Großstadt die Heimat all deiner Träume, für die du ohne zu überlegen jede grüne Wiese und selbst die 700 Jahre alte Eiche auf dem Marktplatz opfern würdest. Als Teenager verbringst du die Zeit nicht draußen, um die Natur zu genießen, sondern nur um heimlich zu rauchen, zu trinken oder rumzuhängen, weil du ja schließlich irgendetwas tun musst.

Die Partys sind ein Albtraum

Foto: Death Disco ddxxx | Flickr | CC BY 2.0

Rocko Schamoni hat in seinem Roman Dorfpunks das provinzielle Nachtleben, wenn es denn so etwas gibt, seinerzeit schon sehr präzise mit nur zwei Worten auf den Punkt gebracht: „totaler Totentanz". Was nicht heißen soll, dass zwischen Kuhstall, Sportplatz und Maisfeld überhaupt nichts geht. Es geht sogar eine Menge: die Wahl zur Spargelkönigin, Traktor-Rallys, Stadlpartys und Spanferkelessen, bei denen trinkfeste Mitglieder irgendeiner Jugend-Organisation naiven Nachwuchsschluckspechten beim Antrag auf Parteibeitritt den Finger führen. Und—natürlich—Zeltfeste. Partys, bei denen die Musik so schlimm ist, dass du am liebsten schon nach zehn Minuten deine Mutter anrufen würdest, damit sie dich schnell wieder nach Hause fährt. Auch die ein oder andere weit entfernte Großraumdisko bietet keine wirkliche Alternative.

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Die Musik ist genauso unterirdisch und die Leute dort trinken wirklich Korn. Im Club. In meiner Heimat mit Vorliebe den Getreideschnaps der Marke Oldesloer, dem manche männlichen Dorfbewohner so zugeneigt sind, dass sie sogar Sweatshirts davon tragen. Als wäre das alles nicht schon gruselig genug, kommt noch dazu, dass du den Heimweg, wenn dich niemand abholt, in kompletter Dunkelheit zurücklegen musst. Da die Laternen spätestens um 1:00 Uhr nachts ausgeschaltet werden, darfst du nach dem überstandenen Zeltfest—oder Großraumdiskomartyrium—noch den ganzen Weg nach Hause darüber nachdenken, hinter welchem kaum zu erkennenden Busch ein entlaufener Triebtäter lauert, und dass dich niemand in dieser gottverdammten Einöde hören wird, wenn du schreist.

Die Auswahl der potenziellen Sexpartner ist sehr begrenzt

Eine Visualisierung des dörflichen Sexuallebens. Foto: Oliver Liegmann | Flickr | CC BY 2.0

Die Welt, in der du zu Hause bist, ist winzig klein und der Radius, in dem sich dein tägliches Leben abspielt, auf wenige Kilometer beschränkt. Mit wem also schlafen, wenn die Auswahl der potenziellen Sexualpartner so wenig verlockend erscheint, dass es dir die Tränen in die Augen treibt? Die wirklich Attraktiven sind dünn gesät, die Sportskanone der Klasse ist sowieso schon mit dem Mädchen zusammen, das in jedem Schultheaterstück die Hauptrolle spielt, und wenn du nicht dem gängigen dörflichen Schönheitsideal entsprichst—das sich generell auf große Euter und heufarbenes Haar beschränkt—wird es ziemlich schwierig, den Traum vom ersten Sex noch vor dem Traum vom Führerschein zu verwirklichen. Neidisch blickst du auf die Bauernkinder, die traditionell bei der Partnersuche keinen großen Firlefanz veranstalten, sondern pragmatischer vorgehen. Jeder, der kräftig genug aussieht, fünfzehn Stunden am Stück den Stall ausmisten zu können und einen Düngerstreuer von einer Sähmaschine unterscheiden kann, ist eine gute Partie.

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Jeder kennt jeden

Foto: onnola | Flickr | CC BY-SA 2.0

Bevor du jemandem auf dem Dorf ein Geheimnis anvertraust, kannst du auch gleich persönlich einen Artikel über dein innerstes Seelenleben in der örtlichen Tageszeitung veröffentlichen. Der Effekt ist derselbe. Jeder kennt jeden auf dem Land und nirgendwo sind die Leute so neugierig wie hier. Während jemand in der anonymen Großstadt einen Mord begehen kann, ohne dass seine Nachbarn etwas davon mitkriegen, bleibt auf dem Dorf nichts unbemerkt: kein Ehestreit, kein ungemähter Rasen, kein ungefegter Bürgersteig und kein Auto, das laut Pickerl seit drei Tagen überfällig ist.

Warum es geiler ist, auf dem Land aufzuwachsen.

In jeder Straße gibt es mindestens eine Tratschtante, die, wie einst Martha Huber in der Wisteria Lane, mit Adleraugen tagein tagaus unter dem Vorwand, die Hecke zu schneiden, rumspioniert. Wenn du es doch mal so lange auf einer Zeltfest ausgehalten hast, dass du erst im Morgengrauen nach Hause kommst, ist sie schon wach und liegt auf der Lauer. Die Neuigkeiten werden ohne Verzug an den Briefträger weitergeleitet, der erzählt es beim Bäcker dem Elektriker, und wenn deine Mutter schließlich im Hofladen auf deine Religionslehrerin trifft, erfährt auch sie endlich, dass du dich nachts herumtreibst, dich prostituierst und außerdem drogenabhängig bist.

Du lernst einiges über Intoleranz

Foto: mhx | Flickr | CC BY-SA 2.0

Das Landleben ist eine harte Schule. In einer Dorfgemeinde, in der die meisten Leute seit Generationen ansässig sind und Zugezogene selbst nach 20 Jahren nicht als Ihresgleichen akzeptieren, kannst du ein paar wichtige Lektionen über Intoleranz und menschliches Zusammenleben lernen. Wenn Stadtpartys, freiwillige Feuerwehr oder Sportvereine nicht so dein Ding sind und du dich lieber mit Hilfe von Büchern und dem Nachtprogramm auf Arte in eine Parallelwelt flüchtest, mutierst du schnell zum Außenseiter und Sonderling. Der einzige Trost besteht darin, dass du als geächtetes Dorfkind, das sich in die Großstadt geflüchtet hat, schnell auf Menschen triffst, die Ähnliches durchgemacht haben wie du. Auf das Mädchen, das für ihren Nirvana-Pulli an der Bushaltestelle verprügelt wurde, oder auf den Jungen, der sich immer noch davor fürchtet, aufgrund seiner engen Jeans in seiner dörflichen Heimat als Schwuchtel beschimpft zu werden.

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Inmitten der ländlichen Idylle herrscht selbst heutzutage vielerorts immer noch eine Zero-Tolerance-Politik gegenüber solch exzentrischen Modevorlieben und alternativen Lebensentwürfen. Anstatt im Internet über Genderwahn und Gutmenschen zu wettern, wird hier Politik noch von echten Männern am Stammtisch diskutiert, bevor man zum gemütlichen Teil übergeht und wie zu Großvaters Zeiten bei ein paar Flaschen Korn herzlich über Frauen, Schwule und Vegetarier lacht.

Regionalzüge sind deine Verbindung mit der Zivilisation

Oder Fahrräder. Foto: ClickFlashPhotos / Nicki Va | Flickr | CC BY 2.0

Sie kommen generell zu spät, fahren mit etwas Glück alle ein bis zwei Stunden und stinken oftmals nach verstopften Toiletten. Trotzdem sind Regionalzüge eine großartige Erfindung, denn mit einer Fahrkarte in die weit entfernte Großstadt erwirbst du gleichzeitig dein persönliches Ticket in die Freiheit. Sobald du das Alter erreicht hast, in dem dich deine Eltern abends alleine weglassen und dein Kaff so privilegiert ist, dass es einen Bahnhof sein Eigen nennen darf, wirst du Gott auf Knien dafür danken, dass er diese quietschenden, stinkenden Ungetüme auf Rädern erschaffen hat. Regionalzüge sind ständig überfüllt mit Menschen, die laut Musik hören, mit sich selbst sprechen oder so viel Gepäck dabei haben, als hätten sie sich spontan dazu entschlossen, mit ihrem gesamten Hausstand auszuwandern. Doch all das ist ein geringer Preis für das Gefühl, dass sich in deinem Innern ausbreitet, wenn du eingezwängt zwischen den Einkäufen einer Großfamilie und dem Seesack eines Marinesoldaten hinter den verschmierten Fenstern auf einmal die Lichter der großen Stadt erblickst.

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Leider verlässt dich dieses romantische Gefühl schnell wieder, sobald du dich auf den Rückweg machst. Wenn du nachts an einer S-Bahn-Endstation bei Minusgraden zwei Stunden auf deinen Anschluss ins Nirgendwo warten musst oder wenn dir schlecht ist und du trotzdem noch die ganze Nacht weiter trinkst, weil die erste Bahn erst um 6:00 Uhr morgens fährt.

Später einmal wirst du den mit U-Bahnen und Nachtbussen verwöhnten Stadtkindern von diesen Abenteuern erzählen. Und du wirst es mit einem Gefühl der Überlegenheit tun, weil sie nicht so abgehärtet sind wie du. Wer in Wien aufgewachsen ist, wird die Privilegien der Großstadt nie wirklich zu schätzen wissen. Und wer noch nie morgens volltrunken in den Mistkübel eines Regionalexpresses gekotzt hat, hat keine Ahnung vom Leben.