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Darf die Schweiz weiterhin Flüchtlinge zurück nach Ungarn schicken?

Die Neubeurteilung von rund 200 Asylanträgen bringt für Behörden und Asylsuchende mehr Fragen als Antworten.

Foto von Freedom House | Flickr | Public Domain Mark 1.0 "Ich habe Schlafprobleme", antwortet Walid auf die Frage, wie es ihm geht. "Ich muss Medikamente nehmen, damit ich überhaupt einschlafen kann." Der Afghane lebt in der Flüchtlingsnotunterkunft in Urdorf, einem ausgedienten Zivilschutzbunker. In Walids Zimmer gibt es 30 Betten, aber keine Fenster. Geschlafen werde in zwei Schichten, erklärt der junge Mann. Ruhe fände man im Bunker jedoch keine. Die anderen Männer seien oft laut, oder würden die ganze Nacht rauchen. Zudem fühle er sich in der Notunterkunft nicht sicher. "Jemand hat letzthin mein Fahrrad kaputt gemacht. Einige Leute sind mir offensichtlich nicht wohl gesinnt", ist Walid überzeugt. Er habe Angst, dass er das nächste Mal anstelle des Fahrrads herhalten müsse. "Ich schlafe immer mit einem offenen und einem geschlossenen Auge."

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Jeder vierte Mensch, der derzeit in der Schweiz Asyl beantragt, stammt aus Afghanistan – ein zerrüttetes Land, in dem seit bald vierzig Jahren Krieg herrscht. Auch Walid musste seine Heimat verlassen. Aus Angst, sein Asylgesuch zu gefährden, will er seinen richtigen Namen nicht angeben. Als Mitglied der schiitischen Bevölkerungsgruppe der Hazara wurde Walids Familie zuhause in einer ländlichen Provinz in Afghanistan von den Taliban verfolgt. In deren Augen sind alle Schiiten Ungläubige und werden als solche immer wieder Opfer von tätlichen Angriffen, die oft auch tödlich enden.

Walids Asylantrag wurde in der Schweiz vom Staatssekretariat für Migration (SEM) jedoch abgelehnt. Denn gemäss dem Dublin-Abkommen wäre eigentlich Ungarn für Walids Asylverfahren zuständig, da er über Ungarn in die Schweiz einreiste und dort bereits registriert wurde.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVG) beschloss vor einem Jahr jedoch, vorläufig keine Asylsuchenden im Dublin-Verfahren mehr nach Ungarn zurückzuführen, da der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban das Asylsystem seit 2015 massiv verschärft hatte und in vielen Flüchtlingslagern unmenschliche Zustände herrschen. Zudem sind die Chancen, in Ungarn ein Bleiberecht zu erhalten, für allein reisende Männer wie Walid minimal: 2016 wurden von insgesamt 29.432 Asylanträgen gerade mal 425 bewilligt – die meisten davon waren Familien mit Frauen und Kindern.

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Das SEM muss Walids Antrag nun neu beurteilen, zusammen mit rund 200 weiteren hängigen Fällen. Bis er vom SEM Bescheid erhält, sitzt der Flüchtling in der Schweiz fest, ohne zu wissen, wie es mit ihm weitergehen soll. Es gebe generell drei Möglichkeiten, wie sich der Entscheid des BVG auf die hängigen Fälle auswirken könnte, erklärt Constantin Hruschka von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe auf Anfrage von VICE:

· Das SEM stellt fest, dass Rückschaffungen nach Ungarn wegen systemischer Mängel rechtlich unmöglich sind und übernimmt pauschal alle Fälle.
· Das SEM prüft weiterhin jeden Fall einzeln und erklärt sich bei besonders gefährdeten Personen (Familien mit Kleinkindern, Folteropfer, schwer kranke Personen) dazu bereit, ein Asylverfahren zu eröffnen.
· Das SEM schafft nicht-gefährdete Personen innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Beschwerdefrist nach Ungarn zurück.

Das SEM habe aber bereits signalisiert, dass es weiter an einer Einzelfallprüfung festhalten werde, so Hruschka. Nicht-gefährdete Personen müssen also davon ausgehen, künftig wieder von Schweizer Behörden nach Ungarn rückgeschafft zu werden.

Obwohl das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen bereits 2012 festgestellt hatte, dass Asylsuchende in Ungarn systematisch inhaftiert sowie verbal und physisch misshandelt werden.

Das SEM rechtfertigt diese Praxis auf Anfrage von VICE damit, dass es jedes Asylgesuch individuell und sorgfältig prüfen würde: "Aufgrund der Entwicklungen in Ungarn […] verzichtet das SEM bereits seit März 2016 darauf, bei besonders vulnerablen Personen […] Dublin-Verfahren durchzuführen." Es verweist dabei auf die Motion Häsler, die vom Nationalrat Anfang Juni mit 135 zu 53 Stimmen abgelehnt wurde und sich damit gegen einen pauschalen Verzicht auf Dublin-Rückführungen nach Ungarn ausgesprochen hat. Die Tendenz der Rückführungen ist zwar rückläufig – während 2015 noch 94 Personen nach Ungarn ausgeschafft wurden, so waren es 2016 noch 65 und im laufenden Jahr sind es deren zehn.

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Das hilft Walid in seiner Situation aber auch nicht weiter. Als junger, physisch gesunder Mann wird der Anfang 20-Jährige wohl kaum als besonders gefährdet eingestuft werden. "Ich habe gehofft, dass mir die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition eine faire Chance auf ein Bleiberecht gewährt", sagt Walid etwas resigniert. Aber wirklich überrascht scheint er auch nicht zu sein.

Als Walid noch ein kleines Kind war, flüchtete er mit seiner Familie aus Afghanistan in ein iranisches Flüchtlingscamp ausserhalb von Teheran. "Es war ein Leben in Schmerzen", blickt Walid auf seine Zeit im iranischen Exil zurück. Er zeigt mir zahlreiche Wunden an seinem Knöchel, seiner Hand, seiner Nase und seinen Rippen. Wunden von Verletzungen, die ihm nach eigenen Angaben iranische Polizisten im Camp zugefügt haben. "Zwei, drei Mal pro Woche haben mir die Polizisten aufgelauert. Sie haben mich schikaniert und geschlagen, bis ich ihnen Geld gegeben habe. Trotzdem wollte ich im Iran bleiben", erklärt Walid. Ende 2013 hätte ihn die iranische Revolutionsgarde jedoch vor die Wahl gestellt: Krieg oder Abschiebung.

Wie Recherchen von Human Rights Watch bestätigen, mussten tausende afghanische Flüchtlinge im Syrienkrieg mit regimetreuen Milizen an Assads Seite für ihr Bleiberecht im Iran kämpfen.

Doch Walid bezeichnet sich als Pazifist: "Ich kann keine Menschen töten. Und ich hatte auch keine Lust, auf dem Schlachtfeld von Dschihadisten für ein Land abgeschlachtet zu werden, dessen Behörden mich ein Leben lang gedemütigt haben", begründet Walid die Entscheidung, seine Familie zu verlassen.

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Und so ist er vor drei Jahren abermals geflüchtet – dieses Mal aber alleine und nach Europa. Die 3.000 Kilometer nach Griechenland habe er grösstenteils zu Fuss zurückgelegt. Auf einem Gummiboot erreichte er Mytilini, eine Hafenstadt der griechischen Insel Lesbos. Flüchtlinge werden dort in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht. Das mit Stacheldraht eingezäunte Camp war ursprünglich die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung, wo Flüchtlinge registriert werden sollten. Inzwischen ist es zu einer Dauerunterkunft für rund 2.400 mehrheitlich männliche Flüchtlinge geworden. Das vermeintliche Ziel seiner Reise war jedoch erst der Beginn einer mehrjährigen Odyssee durch mehrere Flüchtlingszentren und Ausschaffungsgefängnisse: Nach einem Monat schicken ihn die Beamten weiter Richtung Norden, ohne ihn zu registrieren. Er durchquert Mazedonien und Serbien und überquert Mitte 2014 die serbisch-ungarische Grenze, wo er von einer Grenzpatrouille aufgegriffen wird. Die Beamten registrieren seine Fingerabdrücke in der europäischen Fingerabdruck-Datenbank EURODAC.

Damit verwirken sie Walids Anspruch auf ein Asylverfahren in der Schweiz und verpflichten gleichzeitig Ungarn – gestützt auf das Dublin-Abkommen –, sich um sein Asylgesuch zu kümmern. Doch wie die griechischen sind auch die ungarischen Institutionen heillos überlastet. "Nach einem Monat in diesem unmenschlichen Flüchtlingszentrum haben sie mich weggeschickt. Der Beamte meinte zu mir: 'Geh von mir aus nach Österreich, Hauptsache du kommst nicht zurück nach Ungarn!'", erinnert sich Walid. Da er in Zürich Bekannte hat, entschied er sich dafür, in die Schweiz zu kommen. "Ich dachte, die Schweiz als demokratisches Land gäbe mir eine faire Chance auf ein Bleiberecht", sagt Walid.

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Doch anstelle eines Asylverfahrens erhielt er eine mehrmonatige Haft im Flughafengefängnis. Walid wurde zum Spielball der Schengenpolitik. Die Schweiz hatte ihn zurück nach Ungarn geschickt, wo er nach zwei Monaten im Gefängnis wiederum des Landes verwiesen wurde. Diesmal bringen ihn die Beamten sogar in die Nähe der Grenze. Seit einigen Monaten ist Walid nun wieder in Zürich und lernt an der Autonomen Schule Zürich Deutsch. Zu wissen, dass er jeden Tag von der Polizei aufgegriffen und nach Ungarn ­­– und von dort vielleicht sogar zurück ins kriegsgebeutelte Afghanistan – ausgeschafft werden könnte, nagt allerdings etwas an seiner Motivation.

Wenn es die Schweiz mit dem Schutz von Flüchtlingen wirklich ernst meint, sollte sie pauschal auf alle Rückführungen von Asylsuchenden nach Ungarn verzichten, bis dort eine menschenwürdige und rechtsstaatlich korrekte Behandlung der Flüchtlinge gewährleistet wird. Wie die Abstimmung im Nationalrat jedoch klar gezeigt hat, scheinen die Politiker andere Prioritäten zu haben.

Dies zeigt sich auch in der aktuellen Praxis, afghanische Asylsuchende, die noch in keinem anderen Schengenstaat registriert wurden, unter bestimmten Voraussetzungen in ihre unsichere Heimat auszuschaffen. Seit Beginn des Jahres wurden gemäss der Asylstatistik des Bundes fünf Afghanen zwangsweise in ihre Heimat rückgeführt, 31 reisten kontrolliert selbstständig aus und bei 91 ist der Vollzug noch pendent. "Der Wegweisungsvollzug nach Afghanistan ist grundsätzlich zulässig und auch möglich – sofern bei den Gesuchstellern ein guter Gesundheitszustand sowie existenzsichernde Grundlagen vorliegen und die Person aus einer der drei Städte Kabul, Herat oder Mazar-i-Sharif stammt", erklärt das SEM auf Anfrage von VICE. Ob die Asylsuchenden einer verfolgten Minderheit – wie zum Beispiel den Hazara – angehören, sei bei dieser Abwägung nicht relevant.

In der Hauptstadt Kabul verübte die Taliban jedoch erst Ende Mai einen Bombenanschlag mit mindestens 150 Toten und mehr als 400 Verletzten. Für Balthasar Glättli, Nationalrat der Grünen, war das ein Anlass, um vom Staatssekretariat für Migration (SEM) einen generellen Rückschaffungsstopp nach Afghanistan zu fordern. Er verwies dabei darauf, dass die Reisehinweise des Schweizer Aussendepartementes so klar wie bei kaum einem anderen Land von der Reise – auch nach Kabul – abraten.

Wie EJPD-Vorsteherin Simonetta Sommaruga allerdings mitteilte, lehnt der Bundesrat einen generellen Rückschaffungsstopp nach Afghanistan ab. Glättli ist über diesen Entscheid empört: "Bundesrätin Sommaruga verwies darauf, bei Reisen seien die Personen selbst verantwortlich, bei der Rückschaffung aber der Bund. Gerade das wäre für mich das beste Argument, die Rückschaffungen zu stoppen. Wenn sich jemand freiwillig selbst gefährdet, dann ist das sein Risiko. Bei der Rückschaffung von Asylsuchenden muss aber der Bund die Verantwortung tragen können", so der Nationalrat auf Anfrage von VICE. Auch Walid kann die Haltung der Schweizer Regierung nicht nachvollziehen: "Wenn sie wirklich denken, Afghanistan sei sicher, dann sollen sie doch mit mir mitkommen, wenn sie mich ausschaffen." Folge VICE Schweiz auf Facebook und Instagram.