Coming-out-Videos machen die Welt ein bisschen schöner
Illustrationen von Ellice Weaver

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Sex

Coming-out-Videos machen die Welt ein bisschen schöner

Für mich kam die YouTube-Ära ein paar Jahre zu spät. Aber auch heute geben mir schwule und lesbische YouTuber Halt gegen Homofeindlichkeit.

Dieser Artikel stammt aus der Privacy and Perception Issue des VICE Magazine, das in Zusammenarbeit mit Broadly produziert wurde. Mehr Geschichten aus dem Heft kannst du hier lesen.

Sie ziehen sich gegenseitig auf, machen witzige Challenges und knutschen rum – als ich Rose und Rosie entdeckte, war ich entzückt. Die beiden Engländerinnen sind ein Ehepaar und drehen zusammen YouTube-Videos.

"Diese zwei haben mich realisieren lassen, dass ich lesbisch bin", schreibt ein Fan unter ein Zusammenschnittvideo von Rose und Rosies Küssen. "Wenn ich das Video anschaue, weiß ich auch wieder, warum." Ich erzählte meiner Freundin, Emily, von den beiden, als hätte ich einen Geheimtipp entdeckt – dabei hat Roses Kanal um die 160 Millionen Views und Rosies mehr als 30 Millionen. "Rose und Rosie, Emily und Amelia …", sagte meine Freundin. "Wir könnten schon längst steinreich sein."

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Das süße Frauenpärchen führte mich zu den Rhodes Bros. Beim Coming-out-Video der gut aussehenden Zwillinge hatte ich einen Kloß im Hals. Mehr als 26 Millionen Views. Dann fand ich das Video "10 Worst Ways to Come Out" des lesbischen Paars Bria und Chrissy, 18 Millionen Views. Das Coming-out-Video der YouTuberin Ingrid Nilsen hat 17 Millionen Views – fast 16,5 Millionen mehr als ihr Interview mit Barack Obama.


Auch bei VICE: 'End of Ze World': Die Geschichte des ersten viralen Videos der Welt


Als ich diese Videos entdeckte, war ich 26 und hatte mein eigenes – kompliziertes, emotionales – Coming-out schon hinter mir. Wie waren mir so lange all diese YouTuber entgangen, die anderen mit ihren Geschichten Mut machen? Jede Vloggerin und jeder Vlogger hatte einen Look, ein Logo, eine Identität. Manche hatten Kanäle, bei denen es eher um Lifestyle, Reisen und Make-up ging – aber sie hatten sich eben auch dazu entschieden, über ihre Sexualität zu sprechen, und Menschen wie ich konnten mitfühlen und von ihnen lernen.

Mein YouTube-Marathon ließ mich über meine eigene Jugend nachdenken. Mich vor so vielen Menschen zu outen, wäre mein persönlicher Albtraum gewesen. Als ich heranwuchs, gab es noch keine Homo-Ehe, kein YouTube und keine sozialen Medien.

Mein Dad hörte zwar im Auto George Michael und meine Mutter klärte mich über die AIDS-Krise auf, aber sie erklärten mir nicht, wie homosexuell sein geht. Wie hätten sie das auch tun sollen? Meine Eltern sind ja hetero.

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Früher war ich selbst homofeindlich, oder tat zumindest so. Mit 13 machte ich mit, als meine Klassenkameradinnen die Hockey-Lehrerin hinter ihrem Rücken "Lesbe" nannten; wir versteckten uns vor ihr, wenn sie in die Umkleide kam. Mit 15 war ich entsetzt darüber, dass zwei Mädchen bei einer Party knutschten. Als ich 16 war, sagte mir ein Freund, er sei schwul. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich.

Das erste Mal in ein Mädchen verliebt war ich mit 17. Ich wusste es sofort, als ich sie sah, aber erzählte niemandem davon – von 2.000 Mitschülerinnen und Mitschülern hatte sich noch niemand geoutet. Vielleicht würden die Gefühle verschwinden, wenn ich mich mit ihr anfreundete? Ich gewann ihr Vertrauen wie eine Doppelagentin. Jeden Tag hingen wir ab, und jede Nacht starrte ich ihre Facebook-Fotos an. Die Anziehung verschwand leider nicht, also tat ich das Homoerotischste, das man in so einer Lage tun kann: Ich vögelte den Typen, mit dem sie schlief.

Jahre später, ich war 21 und wohnte in einer anderen Stadt, kam sie mich besuchen. Ich nahm sie mit in die örtliche Homo-Bar, wir hingen mit meinen Freundinnen rum und tanzten. Ich küsste eine andere. "Warum haben wir uns in der Schule angefreundet?", fragte sie, als wir wieder bei mir waren. "Ich glaube, ich war verknallt in dich", gestand ich. Sie zuckte nicht zusammen und rannte auch nicht aus dem Zimmer. Sie tat nichts von alldem, was ich mir Jahre zuvor ausgemalt hatte. "Bist du immer noch verknallt in mich?", fragte sie stattdessen.

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Wir hatten Sex. Ich erinnere mich nicht mehr an die Details, nur noch an das Gefühl: Mein ganzer lesbischer Selbsthass aus der Teenagerzeit schmolz dahin. Eine perfekte Nacht. Bis sie mir am nächsten Morgen sagte, sie sei hetero, und mir das Versprechen abnahm, niemandem von uns zu erzählen.

In den folgenden drei Jahren hatte ich immer wieder ähnliche Erlebnisse. Andere Frauen, gleiches Problem. Ich stellte fest, dass Scham ansteckend ist: Gerade wenn du meinst, du wärst sie losgeworden, färbt sie wieder von anderen auf dich ab. Abends in der Bar scherzte ich, Frauen seien "nur für mich lesbisch", aber insgeheim fragte ich mich: Wenn sie doch echte Gefühle für mich hatten, warum war es dann so schändlich, offen mit mir zusammen zu sein?

Die Stunden, die ich weinend in meinem Zimmer verbrachte, waren lange nicht so glamourös-tragisch wie in den Filmen.

Ich erzählte niemandem von diesen Episoden, weil mir bewusst war: Viele Menschen erleben weitaus schlimmere homosexuelle Scham. Sich an diesen Zurückweisungen aufzuhängen schien mir egozentrisch. Niemand war gestorben. War das nicht das beste Fazit, auf das jemand wie ich hoffen konnte? Aber im Laufe

der Jahre fand ich viele homosexuelle Freunde und Freundinnen, in Bars und aktivistischen Kreisen. Sie erzählten mir ihre Geschichten, wie sie weitaus größere Hindernisse überwunden hatten als ich. Ich lernte von ihrer Selbstachtung – auch die kann nämlich abfärben. Schließlich gelang es mir, mich in Menschen zu verlieben, die mich zurückliebten.

In einem Video namens "SUPERKISS!" küssen sich Rose und Rosie so lange, wie sie können. Als ich es vor Kurzem anschaute, überlegte ich: Wäre meine Jugend anders verlaufen, wenn ich Zugang zu solchen Videos gehabt hätte, in denen Menschen sich ehrlich zu ihrer Sexualität äußern? Hätte mir das Schmerz und Scham erspart? Hätte ich mein Coming- out früher gehabt?

Das werde ich nie erfahren, aber eins weiß ich sicher: Uns selbst akzeptieren und unsere Identität ausdrücken lernen wir erst im Laufe der Jahre. Diese Videos geben mir Hoffnung, dass Teenager heute einen Teil dieser Lektionen aus ihren Jugendzimmern heraus lernen und so ein bisschen weniger Leid durchmachen. Für mich kam Social Media zu spät, aber es tröstet mich, dass diese Gemeinschaft für andere da sein wird.

*Ungefähre View-Zahlen zum Zeitpunkt der Drucklegung

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