Wie mir eine Meerjungfrau das Leben erklärt hat

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Wiener Originale

Wie mir eine Meerjungfrau das Leben erklärt hat

„In meinem Büro hängen Fotos von mir als Vampir oder Meerjungfrau. Ich hab mich nie verstellt."

Es gibt eine Frau in Wien, die liegt gelegentlich in Fischschwanz und mit Dreizack am Rand eines Brunnens oder schwimmt in Schuppen und Muschelkrone durch öffentliche Schwimmbäder. Auf den ersten Blick ist diese Frau eine Meerjungfrau, auf den zweiten vielleicht ein wenig verrückt. Und auf den dritten ist sie plötzlich etwas ganz anderes.

Blick eins und zwei waren sehr schnell erledigt: Als wir Corinna, die Meerjungfrau, auf Facebook entdeckt haben, ist in der Redaktion für ein paar Minuten kollektive Freude ausgebrochen. Wir haben uns durch ihre Fotos geklickt und die Welt nicht mehr ganz verstanden. Oder vielmehr haben wir geglaubt, im Gegensatz zu ihr die Welt verstanden zu haben. Und weil ich unbedingt wissen wollte, wer diese Frau ist und ob sie tatsächlich überzeugt davon ist, eine Meerjungfrau zu sein, habe ich sie angeschrieben, um mich mit ihr zu treffen.

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Nein, zum Interview kommt Corinna nicht als Meerjungfrau verkleidet. Die Frau, die zu uns in die Redaktion kommt, hat sich hergerichtet und man möchte sie fast ewig ansehen, weil sie eine Ausstrahlung hat, die einen nicht loslässt. Sie spricht schönes Deutsch, aber wenn sie versucht, ein R zu sagen, dann merkt man, dass sie auch etwas Englischsprachiges in sich hat. Corinna ist in Deutschland und den USA aufgewachsen. Sie ist ausgebildete Opernsängerin und Schauspielerin.

10 oder 15 Jahre hat sie versucht, von dieser Arbeit zu leben—sie habe sogar im Weißen Haus gesungen, aber sehr viel lief trotzdem unbezahlt. „In unserer Generation sind das leider keine richtigen Jobs mehr." Keine Sekunde würde ich anzweifeln, was diese Frau erzählt. Ihre Verrücktheit ist ihr vollkommen bewusst, sie reflektiert darüber, weiß sie zu erklären und immer wieder frage ich mich während des Gesprächs, weshalb ich diese Verrücktheit nicht auch habe oder vielmehr: Warum ich sie nicht auslebe.

Mit ungefähr 30 habe sie beschlossen, dass es mit Oper und Theater nicht mehr weitergehen könne, also hat sie Betriebswirtschaft studiert und arbeitet nun bei einer internationalen Organisation. Dabei konnte sie ihre Kreativität nur noch wenig ausleben. „Aber das ist meine eigentliche Leidenschaft, das bin ich."

Vor fünf Jahren ist Corinna dann auf eine Gruppe LARPer getroffen, also Menschen, die Live Action Role Playing betreiben, sich verkleiden und in fremde Rollen schlüpfen. „Das ist sowas wie meine zweite Familie. Wir machen eigentlich viktorianische Sachen auf einem Schloss. Das ist mir sehr wichtig, weil ich glaube, dass die kreativen Menschen unserer Generation keinen Outlet mehr haben."

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Bis dahin kenne ich die Welt von Corinna kaum. Ich habe mich einmal im Improvisationstheater versucht, ich verstehe auch den Reiz davon, aber ich bin kein Mensch, der sich in so einer Situation völlig fallen lassen kann. Es fällt mir schwer, nicht dran zu denken, was ich gerade tue, wie das, was ich tue, von Außen wahrgenommen wird, ob etwas richtig oder falsch ist. Diese Gedanken scheint Corinna mit ihren Freunden nicht zu kennen.

Mit ihren Freunden trifft sie sich, sie tauschen Verkleidungen und überlegen sich neue Verrücktheiten. Ein Jahr lang trug Corinna Vampirzähne. Irgendwann ist dann das „Mermaiding" entstanden. „Als kleines Kind habe ich Meerjungfrauen immer geliebt, das war meine Zuflucht. Und immer, wenn wir früher zum See gegangen sind, habe ich gerufen: ,Oh Poseidon, nimm mich jetzt nachhause, I am ready to go home.' Natürlich ist nie was passiert." Das Meerjungfrauendasein ist auch nur eine Art der Verkleidung, aber eine, die ihr näher geht und wichtiger ist als andere. Eben weil sie einen anderen, einen persönlichen Bezug zu dieser Fantasie hat.

Corinnas Mann ist ebenfalls Künstler. Irgendwann haben die beiden einfach angefangen, um 6:00 oder 7:00 Uhr morgens zum Beispiel nach Schönbrunn zu gehen, um Fotos zu machen. Der Fischschwanz wiegt 18 Kilo. Damit Corinna da reinkommt, muss sie sich erst ganz in Kokosnussöl einreiben. „Das ist manchmal wirklich harte Arbeit."

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Laut Corinna gibt es verschiedene Meerjungfrauen auf der Welt. Es gibt die Sportlichen, die eher an Konkurrenz und Wettkampf denken, weil es ihr Beruf ist. Und dann gibt es die Kreativen, die eher vom Cosplay kommen. Sie machen es, weil es ihre Fantasie braucht, weil sie so Kronen aus Muscheln basteln können, im Wasser schwimmen und sich dabei vorstellen können, sie wären ein Fabelwesen im Meer. „Wir wollen unsere eigene magische Welt kreieren. We have to make our own magic. Und wir arbeiten zusammen."

Vor ein paar Jahren hat sich Corinna aufgrund einiger Schicksalsschläge viel mit dem Tod beschäftigt. Sie hat Elisabeth Kübler-Ross gelesen und über die Menschen nachgedacht, die im Sterben erzählt haben, was sie im Leben bereuen.

„Es ist so wichtig, dass man die Träume im Leben auslebt, die man ausleben kann. Über vieles hat man keine Kontrolle. Ich hatte keine Kontrolle darüber, als die Oper für mich als richtiger Beruf gestorben ist. Aber ich habe Kontrolle über meine kleineren Träume. Ich sehe mich dann immer mit 85 im Altersheim, wissend, dass ich mein Leben gelebt habe. Und diese verrückten Sachen, wie Meerjungfrausein, das sind so unglaublich wahnsinnige Erfahrungen. Das sind Bilder, die einem niemand mehr nehmen kann. Oder wenn du bei Kerzenlicht mit viktorianischen Kostümen in einem Schloss sitzt. Das ist besser als jeder Film. Du sitzt dort mit deinen Freunden. Du kreierst mit deinen Freunden selbst einen Zauber. So ist das Leben. Es ist wichtig, Kind zu bleiben. Man muss im realen Leben Verantwortung zeigen, aber man muss auch abschalten können und mit Freunden ein Kind sein."

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Früher hat Corinna mit Menschen mit Demenz und Alzheimer gearbeitet. Damals, sagt sie, sei ihr aufgefallen, dass das Leben ein Kreis ist. Alte Menschen werden wieder zu Kindern, teilweise hätten Eltern ihre eigenen Kinder Mama und Papa genannt. „Mit 20 und 30 muss man sehr ernst sein, auf einmal hat man die Kontrolle über sein eigenes Leben." Aber je älter man wird, desto verrückter wird man wieder.

Es ist schwer, diesen Idealismus, den man als Kind hat, zu behalten. Mit 20 oder 30 kommt man drauf, dass die Welt ganz anders ist, als man sie sich vorgestellt hat. Und wenn man irgendwann endlich ein wenig Halt im Leben gefunden hat, dann findet man wieder zu sich selbst und wird freier. „Ich merke das oft bei alten Menschen, denen ist es oft völlig egal, wie man über sie denkt. Und ich glaube, wir lernen das zu spät. Wir müssen früher lernen, dass man im Leben beides braucht: Realismus und Verantwortung, aber auf der anderen Seite auch loslassen und spielen können. Wenn ich nicht arbeite, lebe ich in einer Phantasiewelt."

Einmal war Corinna am Grünen See, um als Meerjungfrau Fotos zu machen. Sie saß auf einem Stein, mitten im See und posierte. Spaziergänger blieben stehen und sahen zu. Unter anderem auch Kinder, die ganz verzaubert waren. Sie konnten kaum glauben, dass auf dem Felsen eine Meerjungfrau sitzt. Und Corinna saß da und fror, wollte schon lange wieder heimgehen, aber die Kinder wollten nicht gehen und sie wollte den Kindern den Zauber nicht nehmen. Die Illusion, dass da eine echte Meerjungfrau auf einem Stein im Grünen See liegt.

Corinna war schon immer sehr mit sich selbst verbunden, sagt sie. Obwohl sie in fremde Rollen schlüpft, oder gerade deswegen. Sie habe Phasen durchgemacht, in denen sie nicht sie selbst gewesen sei. Dann ist sie krank geworden. „Das Leben ist zu kurz. Es gibt Jobs, in denen man sich verstellen muss. Aber selbst dann gilt: Mein Privatleben gehört mir. Ich habe das Glück, dass meine Arbeitskollegen alle wissen, dass ich verrückt bin. In meinem Büro hängen Fotos von mir als Vampir oder Meerjungfrau. Ich hab mich einfach nie verstellt."

Hanna auf Twitter: @HHumorlos.