Der Autor am Bahnhof
Dieses Foto: Henry Giggenbach | Alle anderen: Nils Hagemann
Menschen

Ich habe 48 Stunden in der Deutschen Bahn gelebt und versucht, die Deutschen zu verstehen

Die Bahn ist die Metapher für alles Schlechte im Deutschen. Aber was ist typisch deutsch?

"Entschuldigung! Wir haben diesen Platz reserviert!" Aus meinem Billig-Schlafsack heraus schiele ich die Frau verdutzt an. "Re-ser-viert", schiebt sie aggressiv hinterher. Die Frau trägt eine blaue Funktionsjacke. Zwei Kinder warten andächtig hinter ihr. Langsam schäle ich mich aus meinem Schlafsack. Packe meine Sachen. Und wechsle das Abteil im ICE nach Hamburg. Alle anderen Abteile in unserem Waggon sind leer.

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Träum weiter

Erneut in meinen Schlafsack eingepackt frage ich mich: Ist das typisch deutsch? Die Frau, die mich um 4:56 Uhr aus meinen raren Stunden Schlaf brüllt, nur um ihre Sitzplatzreservierung wahrnehmen zu können – ist sie typisch deutsch? Oder macht sie erst die blaue Funktionsjacke typisch deutsch? Und bin ich, der nicht penibel alle Plätze nach Sitzplatzreservierungen gecheckt hat, nicht typisch deutsch? Was ist überhaupt typisch deutsch?

Der Autor sitzend am Bahnhof

Ich fahre jetzt bereits seit 20 Stunden mit der Deutschen Bahn, um die Deutschen besser zu verstehen. Die Deutschen meckern über nichts lieber als über ihre Züge. Doch ich glaube: Die Deutsche Bahn holt erst das Schlechteste aus ihnen aus. Sie ist die Metapher für alles Schlechte im Deutschen. Aber was ist typisch deutsch? Stimmt wirklich jedes Klischee? Oder sind das nur leere Floskeln? 48 Stunden esse, schlafe und lebe ich im Zug oder an Bahnhöfen.

Über tigernde Ehepaare

Angefangen hat alles in Berlin. Dienstagmorgen, ich steige in meinen ersten Regionalzug. Für andere beginnt der Arbeitstag, für mich mein neues Leben. Die Träger meiner abgerockten Reisetasche fressen sich in meine Schultern. Ein altes Ehepaar tigert den Gang hoch und runter und sucht nach einem offenbar verschollenen Koffer. Ein Mann im Anzug brüllt irgendwas mit "Gewinnoptimierung" in sein Handy. Zwei Kleinkinder spielen Fangen zwischen den Sitzreihen. Eine Frau mit knallrotem Rock versucht hektisch, sie zu bändigen.

Das deutsche Klischee ist das schon mal nicht. Keine präzise Ordnung. Keine andächtige Stille. Stattdessen: Chaos. Wirklich klischee-deutsch bin in diesem Moment nur ich. Denn ich rege mich über das Chaos auf. Ich presse genervt die Kopfhörer in meine Ohren, um die Geräusche zu übertönen. Ja, ich rege mich sogar über mich selber auf, weil ich dem Klischee so sehr entspreche.

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Bahnhof

Von Roßlau nach Halle. Von Halle nach Saalfeld. Mit der Zeit wird es ruhiger in meinen Zügen. Das gibt mir die Möglichkeit nachzudenken. Ich frage mich, warum ich diesen Text überhaupt schreibe. Denn eigentlich bin ich es, der sich über dieses Klischee aufregt: Mich nervt es, wenn im Urlaub meine Verspätung mit "I thought you were German" kommentiert wird. Natürlich, überall auf der Welt gibt es andere Kulturen, Verhaltensweisen, andere Dinge, auf die Wert gelegt wird. Aber kann man deshalb Verhaltensweisen Nationen zuschreiben?

Hornbrille

Im Regionalzug nach Saalfeld setzt sich jetzt ein ältere Herr vor mich an den Tisch. Das Lächeln ist ihm ins Gesicht gestochen, er starrt abwesend aus dem Fenster. Die Hände hat er präzise auf dem Tisch platziert. Sein schlanker Körper versinkt in seinem viel zu großen Hemd. Sein faltiges Gesicht schmückt eine dieser Prenzlauer-Berg-Hornbrillen, nur dass er wahrscheinlich nicht mitbekommen hat, dass er hip ist, schließlich will er wohl nach Saalfeld. Ich beschließe, ihn anzusprechen:

"Na, auch auf dem Weg nach Saalfeld?"

Der Mann schweigt. Sein starrer Blick aus dem Fenster hat sich nicht verändert. Ich probiere es nochmal.

"Und, kommen Sie von hier?"

Er schweigt. Sein Blick wirkt wie versteinert.

Etwas enttäuscht drehe ich mich weg und tue es ihm gleich. Auch als der Schaffner einige Stationen später unsere Tickets kontrolliert, reicht er ihm wortlos sein Ticket. Ich linse rüber und sehe, dass er nach Leißling in der Nähe von Leipzig will. Als wir die Station wenig später erreichen, gucke ich den Mann erwartungsvoll an. Er bleibt sitzen.

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Ein verzweifelter Versuch

Saalfeld, Endstation. Ich steige aus. Der alte Mann bleibt sitzen. Vielleicht hat er es genau richtig gemacht. Er wollte nirgendwo hin. Er wollte nicht pünktlich ankommen. Der Stress der Anderen war ihm egal. Er ist einfach nur gefahren. Für meine Reise muss ich ein bisschen mehr dieser alte Mann werden. Aber herzlich war der mürrische Mann nicht. Aber vielleicht ist es auch nur mein verzweifelter Versuch, die Deutschen zu verstehen, der mich jetzt jedes Klischee, das ich noch aus meinem Kopf kramen kann, auf diesen Mann projizieren lässt. Vielleicht hat er mich einfach nur nicht verstanden. Oder vielleicht war er einfach nur genervt von mir und dem Schaffner.

Ich fahre weiter Richtung Süden. Durch einsame Dörfer, verlassene Landschaften, chaotische Städte, selbstverliebte Villensiedlungen. Wenn sich die Landschaft ändert, dann müssen sich doch auch die Menschen ändern, oder? Hört man nicht ständig "norddeutsche Herzlichkeit" oder "bayrische Arroganz" – na ja, Letzteres zumindest von der Berliner Schnauze.

Das Kratzen der kleinen Rollen

Irgendwann nachts am Münchner Hauptbahnhof. Mittlerweile ist es draußen dunkel geworden. Und doch blendet mich das grelle Licht der Deckenbeleuchtung. Der Bahnhof ist fast menschenleer. Nur hin und wieder schieben sich Gestalten durch die dunkle Bahnhofshalle. Dann ist es das Schleifen eines Koffers, das für einen Moment die Stille bricht. Das Kratzen der kleinen Rollen auf dem ebenmäßigen Steinboden. Dieses Geräusch hat sich die ersten Stunden noch hartnäckig in meinen Kopf gefressen. Doch mit der Zeit wurde es normaler. Ich habe mich daran gewöhnt. Es gibt mir sogar ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Erst wenn es für einen Moment still ist und auch der Ton des letzten Koffers erloschen ist, dann horche ich auf und wundere mich über die Stille.

Das Abteil bei Nacht
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Auf einer Bank vor Burger King, versunken in meinen grauen Hoodie, verleitet mich die Müdigkeit zu abstrusen Gedanken. Das Ticket für meinen ersten Tag in der Bahn kostet 44 Euro. Sollte ich mich entscheiden, mein Leben in der Bahn fortzusetzen, wären das im Monat 1.320 Euro. Das Leben in der Bahn ist also in etwa so teuer wie eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin. Stimmt. "Immer alles möglichst günstig bekommen wollen." Auch so ein Klischee über Deutsche. Ein Klischee, das zumindest das ein oder andere Mal den Erfolg von Aldi oder Lidl begründet hat. Die sich dann als deutsche Discounter auch im Ausland breit gemacht haben, deutscher Shoppingkulturexport at it's best.

Socken in Sandalen

Auch wenn sich die Nacht zu einem Kampf gegen die Müdigkeit entwickelt, schaffe ich es irgendwie um kurz nach vier in den ICE nach Hamburg. Und jetzt? Jetzt bin ich hier. Eingehüllt in meinen billigen Schlafsack. Etwas sauer über die Frau in der blauen Funktionsjacke. Aber vor allem habe ich keinen Bock mehr. Meine Schultern sind wund von den Trägern meiner Reisetasche. Durch meine Nacht auf den unbequemen Sitzen tut mein Rücken bei jeder Bewegung weh.

Das Bad in der Bahn

Von Hamburg geht es weiter nach Göttingen. Von Göttingen bis Hannover. Schon die ganze Fahrt gleiche ich jedes Klischee, das mir durch den Kopf geht, mit mir selber ab. Ich habe Angst davor, typisch deutsch zu sein. Ich will nicht in Reihe mit den Socken-in-Sandalen-Opis stehen. Lange totgeglaubt erlebt dieses Klischee jetzt ein Revival in den sozialen Netzwerken. Alman-Shaming gilt längst als Trend. Aber vielleicht ist es nur unser müdes Lächeln über längst vergessene Klischees, die diese Videos so erfolgreich machen. Egal, was es ist, in vielen Klischees steckt im Kern ein bisschen Wahrheit. Schon lange vor meiner Ankunft in Hannover stehen gefühlt schon alle Fahrgäste erwartungsvoll im Gang. Socken in Sandalen trägt trotzdem keiner. Ich bleibe sitzen. Vielleicht muss ich noch ein bisschen deutscher werden.

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Füße vor dem Fenster des Wagons

Das Quietschen der Bremsen

Das Bahnfahren hat sich mittlerweile zur Routine entwickelt. Ich fahre einfach. Ohne nachzudenken. Bad Hersfeld, Fulda, ein bisschen ist es mir mittlerweile egal, wo ich bin. Bis ich am Frankfurter Hauptbahnhof ankomme. Es ist das Quietschen der Bremsen, das mich aus meinem Sekundenschlaf holt. Als die Türen beim Aufgehen zischen, werde ich ein bisschen melancholisch. Es ist mein letzter Umstieg vor Berlin.

Mit meiner Reise wollte ich die Deutschen verstehen – dabei gibt es sie gar nicht, "die Deutschen". Es ist nicht möglich zu verstehen, wie alle hier ticken. Zu verschieden sind die Menschen in Hannover, Saalfeld, Fulda, Halle oder Berlin. Vielleicht sind Klischees nur unser verzweifelter Versuch, das zu greifen, was nicht zu greifen ist. Natürlich, in verschiedenen Teilen der Welt gibt es verschiedene Kulturen, Sitten und Bräuche, aber die hören nicht bei der Landesgrenze auf. Klischees gibt es und werden wahrscheinlich auch immer da sein – genau das ist auch gut so. Sie geben uns die Möglichkeit, über das zu lachen, was wir vorher nicht fassen konnten. Sie geben uns die Möglichkeit, unsere Sitten und Bräuche zu hinterfragen und kritisch zu beurteilen.

Über meine ganze Fahrt hatte keiner meiner Züge Verspätung. Fast so als wolle die Bahn beweisen, wie deutsch sie ist. Kurz bevor ich am Donnerstagmorgen in Berlin ankomme, hält mein Zug – Schaden an der Lokomotive. Fast so, als wolle die Bahn mir zeigen, dass sie keine Klischees kennt.

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