"Entschuldigung! Wir haben diesen Platz reserviert!" Aus meinem Billig-Schlafsack heraus schiele ich die Frau verdutzt an. "Re-ser-viert", schiebt sie aggressiv hinterher. Die Frau trägt eine blaue Funktionsjacke. Zwei Kinder warten andächtig hinter ihr. Langsam schäle ich mich aus meinem Schlafsack. Packe meine Sachen. Und wechsle das Abteil im ICE nach Hamburg. Alle anderen Abteile in unserem Waggon sind leer.
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Träum weiter
Ich fahre jetzt bereits seit 20 Stunden mit der Deutschen Bahn, um die Deutschen besser zu verstehen. Die Deutschen meckern über nichts lieber als über ihre Züge. Doch ich glaube: Die Deutsche Bahn holt erst das Schlechteste aus ihnen aus. Sie ist die Metapher für alles Schlechte im Deutschen. Aber was ist typisch deutsch? Stimmt wirklich jedes Klischee? Oder sind das nur leere Floskeln? 48 Stunden esse, schlafe und lebe ich im Zug oder an Bahnhöfen.Angefangen hat alles in Berlin. Dienstagmorgen, ich steige in meinen ersten Regionalzug. Für andere beginnt der Arbeitstag, für mich mein neues Leben. Die Träger meiner abgerockten Reisetasche fressen sich in meine Schultern. Ein altes Ehepaar tigert den Gang hoch und runter und sucht nach einem offenbar verschollenen Koffer. Ein Mann im Anzug brüllt irgendwas mit "Gewinnoptimierung" in sein Handy. Zwei Kleinkinder spielen Fangen zwischen den Sitzreihen. Eine Frau mit knallrotem Rock versucht hektisch, sie zu bändigen.Das deutsche Klischee ist das schon mal nicht. Keine präzise Ordnung. Keine andächtige Stille. Stattdessen: Chaos. Wirklich klischee-deutsch bin in diesem Moment nur ich. Denn ich rege mich über das Chaos auf. Ich presse genervt die Kopfhörer in meine Ohren, um die Geräusche zu übertönen. Ja, ich rege mich sogar über mich selber auf, weil ich dem Klischee so sehr entspreche.
Über tigernde Ehepaare
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Von Roßlau nach Halle. Von Halle nach Saalfeld. Mit der Zeit wird es ruhiger in meinen Zügen. Das gibt mir die Möglichkeit nachzudenken. Ich frage mich, warum ich diesen Text überhaupt schreibe. Denn eigentlich bin ich es, der sich über dieses Klischee aufregt: Mich nervt es, wenn im Urlaub meine Verspätung mit "I thought you were German" kommentiert wird. Natürlich, überall auf der Welt gibt es andere Kulturen, Verhaltensweisen, andere Dinge, auf die Wert gelegt wird. Aber kann man deshalb Verhaltensweisen Nationen zuschreiben?Im Regionalzug nach Saalfeld setzt sich jetzt ein ältere Herr vor mich an den Tisch. Das Lächeln ist ihm ins Gesicht gestochen, er starrt abwesend aus dem Fenster. Die Hände hat er präzise auf dem Tisch platziert. Sein schlanker Körper versinkt in seinem viel zu großen Hemd. Sein faltiges Gesicht schmückt eine dieser Prenzlauer-Berg-Hornbrillen, nur dass er wahrscheinlich nicht mitbekommen hat, dass er hip ist, schließlich will er wohl nach Saalfeld. Ich beschließe, ihn anzusprechen:"Na, auch auf dem Weg nach Saalfeld?"Der Mann schweigt. Sein starrer Blick aus dem Fenster hat sich nicht verändert. Ich probiere es nochmal."Und, kommen Sie von hier?"Er schweigt. Sein Blick wirkt wie versteinert.Etwas enttäuscht drehe ich mich weg und tue es ihm gleich. Auch als der Schaffner einige Stationen später unsere Tickets kontrolliert, reicht er ihm wortlos sein Ticket. Ich linse rüber und sehe, dass er nach Leißling in der Nähe von Leipzig will. Als wir die Station wenig später erreichen, gucke ich den Mann erwartungsvoll an. Er bleibt sitzen.
Hornbrille
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Ein verzweifelter Versuch
Das Kratzen der kleinen Rollen
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Auf einer Bank vor Burger King, versunken in meinen grauen Hoodie, verleitet mich die Müdigkeit zu abstrusen Gedanken. Das Ticket für meinen ersten Tag in der Bahn kostet 44 Euro. Sollte ich mich entscheiden, mein Leben in der Bahn fortzusetzen, wären das im Monat 1.320 Euro. Das Leben in der Bahn ist also in etwa so teuer wie eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin. Stimmt. "Immer alles möglichst günstig bekommen wollen." Auch so ein Klischee über Deutsche. Ein Klischee, das zumindest das ein oder andere Mal den Erfolg von Aldi oder Lidl begründet hat. Die sich dann als deutsche Discounter auch im Ausland breit gemacht haben, deutscher Shoppingkulturexport at it's best.Auch wenn sich die Nacht zu einem Kampf gegen die Müdigkeit entwickelt, schaffe ich es irgendwie um kurz nach vier in den ICE nach Hamburg. Und jetzt? Jetzt bin ich hier. Eingehüllt in meinen billigen Schlafsack. Etwas sauer über die Frau in der blauen Funktionsjacke. Aber vor allem habe ich keinen Bock mehr. Meine Schultern sind wund von den Trägern meiner Reisetasche. Durch meine Nacht auf den unbequemen Sitzen tut mein Rücken bei jeder Bewegung weh.
Socken in Sandalen
Von Hamburg geht es weiter nach Göttingen. Von Göttingen bis Hannover. Schon die ganze Fahrt gleiche ich jedes Klischee, das mir durch den Kopf geht, mit mir selber ab. Ich habe Angst davor, typisch deutsch zu sein. Ich will nicht in Reihe mit den Socken-in-Sandalen-Opis stehen. Lange totgeglaubt erlebt dieses Klischee jetzt ein Revival in den sozialen Netzwerken. Alman-Shaming gilt längst als Trend. Aber vielleicht ist es nur unser müdes Lächeln über längst vergessene Klischees, die diese Videos so erfolgreich machen. Egal, was es ist, in vielen Klischees steckt im Kern ein bisschen Wahrheit. Schon lange vor meiner Ankunft in Hannover stehen gefühlt schon alle Fahrgäste erwartungsvoll im Gang. Socken in Sandalen trägt trotzdem keiner. Ich bleibe sitzen. Vielleicht muss ich noch ein bisschen deutscher werden.
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