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Unsitten

Hupkonzert und Freudenschüsse zur Hochzeit sind nicht typisch türkisch

Erst eskaliert eine Hochzeitsgesellschaft. Dann die Debatte.
Ein Autokorso – so schön laut hier | Foto: imago | Chrom Orange

Wenn auf einer Autobahn ein Mercedes quer steht, sich dahinter der Verkehr staut, alles voller Rauch ist, weil Fahrer die Reifen ihrer Luxuskarren durchdrehen lassen, Männer in Maßanzügen über die Fahrbahn laufen und plötzlich sogar Schüsse fallen, dann … wird geheiratet!

So zumindest ist das am vergangenen Wochenende abgelaufen, als eine türkische Hochzeitsgesellschaft unweit von Lübeck eskaliert ist, berichtet die Polizei. 26 Fahrzeuge leiteten die Beamten deshalb auf einen Parkplatz, durchsuchten sie und fanden sechs Schusswaffen. Klingt alles nach einem ausgelassenen Fest. Oder auch nicht, wenn man die Feiergesellschaft selbst befragt. "Eigentlich ist gar nichts passiert. Das war eine ganz normale Hochzeit", sagte einer der Männer dem NDR.

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Sowohl Autorkorsos als auch so genannte Freudenschüsse, aka "In-die-Luft-Ballern", gelten in Deutschland oft als "typisch türkisch", bisweilen sogar bei Menschen, die selbst aus der Türkei stammen. Die Kommentarspalten der Medien, die über solche Fälle berichten, füllen sich dann – neben dem ganzen offen rassistischen Schmonzes – auch mit Hinweisen darauf, dass all das schlichtweg "türkische Bräuche" seien. Nur: Das stimmt eben nicht.

Fragt man Experten, sind Freudenschüsse in der Türkei eher wenig verbreitet. Sevgi Sevim Çikrikçi, Professorin am Institut für Turkistik an der Universität Duisburg-Essen, sagte einmal der Rheinischen Post, dass höchstens "in den Dörfern im Osten der Türkei" aus Freude in die Luft geschossen werde. Bernd Liedtke, ein ehemals ranghoher Polizist, der über die Türkei promoviert hat, sagte VICE: "Freudenschüsse und lautes Hupen haben nichts mit türkischer Kultur zu tun."

Diesen "Brauch" braucht's nicht wirklich

Seiner Meinung nach hängen Vorfälle wie der aus Schleswig-Holstein damit zusammen, dass viele junge türkischstämmige Männer "sich nicht richtig zugehörig oder gar als Bürger zweiter Klasse fühlen". Sie würden deshalb gerne offensiv zur Schau stellen, was sie haben. Natürlich müssten derlei Vorkommnisse von der Polizei geahndet werden, aber wichtig sei auch, "nach den sozialen Ursachen solcher Phänomene" zu fragen.

Auch in den Beschreibungen türkischer Hochzeitsbräuche ist weder von großer Lautstärke noch von Pistolenschüssen die Rede. Wenn die Braut aus dem Haus ihrer Eltern abgeholt wird, herrsche eher eine "traurige Atmosphäre", steht beispielsweise auf der Plattform brauchwiki, die Gepflogenheiten aus aller Welt zusammenfasst. Andere Plattformen erklären grundsätzlich den Brauch des Autokorsos und das Hupen damit, vor einer Hochzeit böse Geister vertreiben zu wollen. Und sie weisen darauf hin, dass Hupen ohne Grund in Deutschland eben nicht erlaubt ist.

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Wirft man einen Blick auf die ganze Welt, fällt auf, dass zu exzessive Feiern und Freudenschüsse gerade in ländlichen Gegenden, egal auf welchem Kontinent, immer mal wieder für Unglücke sorgen. In Indien beispielsweise kam erst im Februar dieses Jahres sogar der Bräutigam ums Leben, als er von einem Querschläger getroffen wurde.

Foto: imago | Sergey Bobylev

Gefährlich kann eine abgefeuerte Kugel übrigens auch werden, wenn der Schütze sie genau senkrecht nach oben abfeuert. Eine größere Kugel könnte unter Umständen die nötige Energie haben, "um eine Schädeldecke zu durchschlagen", auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich sei, hat der Physiker Frank Lechermann vom Institut für Theoretische Physik der Universität Hamburg mal für das Hamburger Abendblatt analysiert.

Die Hochzeitsgesellschaft aus Schleswig-Holstein hat immerhin niemanden verletzt. Alles weitere klären jetzt bitte nicht die selbsternannten Kulturexperten in den Kommentarspalten, sondern Polizei und Staatsanwaltschaft.

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