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Ein Plädoyer für Selfies an deprimierenden Orten

Selfies können Leben Bedeutung zusprechen, wo zuvor keine existiert hat—sie bestätigen manche und geben dem Rest ein Objekt des Spotts und tragen dazu bei, dass sie sich überlegen fühlen.

Ein Teenager-Mädchen aus Alabama hat ein Foto vor einem Konzentrationslager gemacht wo ca. 1.000.000 Menschen ermordet wurden. Das hat sie lächelnd getan. Wie du es dir vielleicht schon gedacht hast, hat das dem Internet so gar nicht gepasst. In einem New York Post Artikel über das jetzt-bekannte Breanna Mitchell Auschwitz-Selfie entgegnet ihr der Autor mit einer besonders stechenden Frage, „Hast du vielleicht auch ein paar Fotos von dir, lachend in einer Gaskammer oder mit deinem Kopf in einem Krematorium?". Eine gerechtfertigte Frage, für die sie sich allerdings nicht die Zeit genommen hat, sie zu beantworten.

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In weniger als einem Augenblick wurde Breanna dem Teufel so ähnlich wie nur möglich, ohne sich dabei in HC Strache zu verwandeln. Business Insider hat ein paar der lustigeren Beleidigungen und Reaktionen von Twitter gesammelt, die im Prinzip auf nicht viel mehr als ein „fuck you" hinauslaufen. Trotz all dieser gemeinsamen Anstrengungen, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, verteidigt Breanna kontinuierlich ihre Aktionen. Es wirkt fast so, als hätte sie so viel Selbstbewusstsein und so wenig Fähigkeit zur Selbstkritik, dass sie die einzige Art von Person ist, die dumm genug ist, ein Selfie in einem Konzentrationslager zu machen.

Indem sie komplett ignorant gegenüber der möglichen Interpretation ihrer vagen digitalen Kommunikation ist (die einzige Sache die klar ihrem Foto zu entnehmen ist, ist die Tatsache, dass sie in Auschwitz ist und sie glücklich ist. Der Rest ist nicht so klar), hat sie eine globale Diskussion über die Grenzen von Selbstbezogenheit beeinflusst. Manche versuchen, sie zu verteidigen und wollen uns daran erinnern, dass sie ja nur ein Kind mit einem toten Vater ist, das ihre Liebe zur Geschichte teilen wollte. Andere wieder sind sehr zufrieden damit, sie weiter zu verarschen, was sie dazu getrieben hat, ihre Twitter Seite privat zu machen. Das Internet schenkt ihr Beachtung und formt eine starke Meinung über das Foto, das sie jetzt vor über einem Monat gemacht hat. Ist das nicht etwas, auf das man stolz sein kann? Sie ist bereits stolz, dass sie nach Auschwitz gekommen ist. Warum nicht auch auf das hier stolz sein?

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Kann sie keinen Trost in der Tatsache finden, dass, obwohl sie Hater zu ihrer Rechten wie ihrer Linken hat, ebendiese Hater wenigstens ihren Namen kennen? Ich fordere dich heraus, eine stärkere, wertvollere Währung als Anerkennung zu finden. Okay, Geld ist ziemlich weit oben bei dieser Liste, aber weisst du, wer Tonnen von Geld hat? Berühmte Leute. Mehr Menschen haben Breannas Selfie gesehen als die, die je dafür zahlen werden, den neuen Zach Braff-Film anzusehen. Versuch mal, das einsickern zu lassen.

Die Leute, die kommentiert haben und somit Breanna so berüchtigt gemacht haben, wie sie nun ist, sind zur selben Zeit natürlich auch die, die es hassen, dass sie eben ein Foto von sich selbst in einem Konzentrationslager gemacht hat. In einem fehlgeleiteten Anstreben, die Flut von Selfies einzudämmen, haben wir schlussendlich wieder mehr Anreiz geschaffen, Selfies zu machen. Jeder gewinnt in diesem verdrehten Medien-69er—die, die sich empören, sehen ihr Gesicht überall und fühlen sich wichtig. Die Aufgebrachten können ihre Unzufriedenheit anmerken und auf die likes und faves warten.

In Wirklichkeit brauchen wir mehr Breannas in der Welt, nicht weniger. Selfies sind das ultimative Symbol modernen sozialen Wertes, so wie es Schlaghosen und Kokain einmal waren, aber auch Ziele für Verarsche. Sie helfen sogar dabei, jeden glücklicher zu machen. Selfies können Leben Bedeutung zusprechen, wo zuvor keine existiert hat—sie bestätigen manche und geben dem Rest ein Objekt des Spotts und tragen dazu bei, dass sie sich überlegen fühlen.

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Jene, die Selfies lieben, werden dich mit Lob dafür, dass du so ein großartiges Foto gemacht hast, überfluten. Jene, die Selfies hassen, werden über dich im Internet herziehen, weil du im Schießen von Selfies so gut bist. Benny Winfield Jr., auch bekannt als mrpimpgoodgame hat 227,300 Follower auf Instagram, obwohl er immer und immer wieder dasselbe scheiß Foto macht. Er sprüht förmlich vor Selbstbewusstsein.

Der Selfie Trend—falls man überhaupt etwas derart omnipräsentes als „Trend" abtun kann— hat zu gleichen Mengen Wut und Bewunderung mit sich gebracht. Für manche ist es eine Erinnerung, dass die menschliche Zivilisation in Sachen Prioritäten komplett den Faden verloren hat. Warum machen wir nicht mehr für die Armen? Was ist mit Afghanistan? Können wir die katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung aufhalten? Wann wird Johnny Depp endlich ein gutes Script finden? Keiner redet über diesen Scheiß, weil jeder zu beschäftigt damit ist, sich selbst vor dem 9/11 Memorial zu fotografieren.

Für alle anderen ist es einfach eine unterhaltsame Sache, die man in seiner Freizeit tun kann, um die Welt wissen zu lassen, wie traurig oder glücklich man ist. Es ist ein sehr effektives Status-Update in einer Kultur, die von Status besessen ist. Ich bin an einem sehr interessanten oder berühmten Ort! Ich trage ein geniales Outfit, das meine Figur betont ! Du denkst nicht an einen historischen Kontext oder sozialen Anstand, da die einzige richtig wichtige Information, die du über dich selbst vermitteln willst ist, wo du gerade bist und wie du aussiehst. Wie bereits gesagt ist das das Einzige, was man von Breannas Foto ausmachen kann. Sie ist in Auschwitz und sie ist glücklich. Sie hat nicht „Ich liebe Hitler" gesagt oder irgendwelche politischen Ansichten verfechtet. Der einzige Grund, weshalb Breanna momentan so viel Hass erfährt ist, weil sei die Dreistigkeit hatte, in Auschwitz zu lächeln. Ich hasse es, dass ich der jenige bin, der es euch allen sagen muss, aber die lächelnde Breanna Mitchell ist nicht das Schlimmste, das je in Auschwitz passiert ist. Ich wage zu bezweifeln, dass es überhaupt unter den Top 5000 ist.

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Die Situation wäre wahrscheinlich ganz anders ausgegangen, hätte Breanna bloß eine finsterere Miene aufgesetzt, so wie wir es alle tun sollten, wenn wir in Polen Ferien machen.

Keiner könnte sie beschuldigen, unsensibel zu sein, da Touristen die ganze Zeit Fotos in Konzentrationslagern machen. Auf diesem speziellen Foto war eben die Fotografin selbst im Rahmen. Hätte sie das getan, was wir alle von ihr wollen, und ernste Besinnlichkeit gezeigt, wäre sie unserem Hohn entkommen. Es ist egal, dass sie vielleicht tatsächlich glücklich war. Die Sache ist nur, dass sie das nicht zeigen darf.

Selbst wenn sie traurig gewirkt hätte, was wäre, wenn ihr Gesichtsausdruck nicht verzweifelt genug gewirkt hätte? Was, wenn sie einfach nicht traurig genug war? Wie du in meinem Foto sehen kannst, bin ich traurig. Ich hab nicht viel Spaß während ich diesen Artikel schreibe. Das ist zum größten Teil, weil ich mir die gemeinen Dinge vorstelle, welche die Leute zu mir in den Kommentaren zu diesem Artikel und auf Twitter sagen werden. Außerdem ist mein Computer ziemlich langsam, weil ich so viele Tabs offen habe. Es nennt sich Recherche, Leute.

Ich bin ein zynischer Mensch, der öfter enttäuscht wurde, als er zählen kann—meistens von den Dodgers und der Serie Lost, aber auch anderen Menschen. Breanna Mitchell ist ein Teenager aus Alabama, der gerade eben den High School-Abschluss hinter sich gebracht hat und laut diesem Washington Post Artikel keinen Vater mehr hat. Abgesehen davon hatte sie für ein privilegiertes amerikanisches Mädchen wahrscheinlich ein ganz normales Leben.

Sie ist kein unglücklicher Bastard wie ich, obwohl es natürlich möglich ist. Sie hat die Art von Berühmtheit, wo du es in Betracht ziehen musst, deinen Namen zu ändern und auf eine kleine Insel-Nation zu ziehen. Das Leben wird für sie eine Weile lang richtig beschissen sein, aber es ist nicht so schlimm, wie es heute vielleicht wirkt.

Sie kann sich immer daran erinnern, dass gleich um die nächste Ecke ein Auftritt in der Today Show wartet, wo sie „ins Reine kommen kann", „sich entschuldigen" und „ihre Kritiker adressieren kann". Sie ist jetzt nunmal berühmt—etwas, das ich von mir nicht behaupten kann. Die Selfies, die ich mache, sind irgendwie scheiße, deshalb hoffe und bete ich für meinen Moment des Ruhmes. Breanna kann sich in ihrem späteren Leben als Erwachsene immer auf ihre 15 Minuten Ruhm beziehen. Ferner, nicht wie die armen Seelen die in Auschwitz ermordet wurden, darf Breanna weiter leben, ein weiteres Plus auf ihrem Konto.

Gleichgültig, ob wir jetzt kollektiv diesen Trend der Dokumentation von allem durch unsere Handykamera wertschätzen—er bleibt. Das Internet kann sooft es will versuchen, irgendwelche Teens zu beschämen, aber Scham hat sie nicht davon abgehalten, in den 60ern zu kiffen. Angst und Peinlichkeit überzeugen keine High School Kids davor, Sex zu haben und Kinder zu zeugen, bevor sie bereit sind. Du willst, dass Kinder aufhören, Selfies an Orten zu machen, wo Tragödien stattgefunden haben? Dann stell ein Schild auf. Dieses Schild sollte ein Foto von Breanna Mitchell mit einem riesigen X über ihrem Gesicht zeigen. Darunter schreibst du dann noch fett „Keine Selfies". Sei allerdings vorbereitet darauf, dass sich genau gar nichts verändern wird, denn wenn es eine Sache gibt, die Teenager noch mehr lieben als sich selbst, dann ist es Regeln zu ignorieren.

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