Ein Schweizer IV-Rentner zeigt, wofür er sein Geld ausgibt
Alle Fotos: Mina Monsef

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Monatsbudget

Ein Schweizer IV-Rentner zeigt, wofür er sein Geld ausgibt

Nico bekommt monatlich 2.000 Franken. Nicht alle glauben, dass er dieses Geld verdient.

In unserer Serie "Monatsbudget" zeigen Menschen aus den verschiedensten Schichten und Lebensrealitäten der Schweiz, wofür sie ihr monatliches Einkommen ausgeben.

Ein erleichtertes Lächeln huscht über Nicos Gesicht, als wir ihn begrüssen. Noch Sekunden vorher stand er etwas verloren in der Bahnhofshalle in Winterthur. "Kann mich jemand vorwarnen, wenn eine Stufe kommt? Ich seh's nicht so gut", sagte er in entschuldigendem Tonfall. Seit er als 6-Jähriger von einer Zecke gebissen wurde, ist sein zentrales Nervensystem beschädigt. Die Symptome kommen schubweise und ohne Vorwarnung. "Mein Sichtfeld ist seither eingeschränkt. Manchmal habe ich Probleme beim Gehen oder sowas wie epileptische Anfälle", erklärt er.

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Nico, der mit richtigem Namen anders heisst, ist einer von rund 218.700 Bezügern von Invalidenversicherung (IV) in der Schweiz. Obwohl er mit seiner IV nicht bewusst etwas macht, was nicht erlaubt wäre, möchte er anonym bleiben – "Man weiss ja trotzdem nie." Anspruch auf eine IV-Rente hat, wer wegen einer Krankheit im Beruf teilweise oder ganz eingeschränkt ist. Betroffene müssen das dem Staat in einem mindestens sechsmonatigen Verfahren glaubhaft machen.

Aktuell diskutiert die Politik, wie genau der Staat bei Menschen hinschauen soll, die nach diesem Verfahren eine IV beziehen dürfen. Das Parlament hat im März in Rekordzeit ein Gesetz verabschiedet, das bei Verdacht auf Missbrauch eine strengere Überwachung erlaubt. So sollen Versicherungsdetektive verdächtige IV-Bezüger zum Beispiel ohne richterliche Genehmigung mit Ton- und Videoaufnahmen überwachen dürfen. Gegner dieses Gesetzes haben über 75.000 Unterschriften gesammelt, damit das Volk darüber abstimmen darf. Sie sagen, das neue Gesetz erlaube mit richterlicher Zustimmung sogar GPS-Tracker und das Einsetzen von Drohnen. Versicherungen bekämen dadurch sogar mehr Handlungsspielraum als die Polizei. Am 25. November findet die Abstimmung über das Referendum statt.


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Dass der 24-jährige Nico beeinträchtigt ist, sieht man ihm kaum an. Nur wer ein Stück mit Nico geht, merkt, dass er Schwierigkeiten hat auszumachen, wo sich gewisse Dinge wie zum Beispiel der Randstein befinden. Für Nicos Krankheit gibt es keine Diagnose. Die Ärzte sprechen von einer nicht identifizierbaren Entzündung, von der niemand weiss, wie sie sich weiterentwickeln wird. "Es kann passieren, dass ich früher oder später im Rollstuhl bin", sagt Nico fast nonchalant.

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Wir haben mit Nico darüber gesprochen wie es ist, wenn man fremde Menschen von seinem Gebrechen überzeugen muss und wie schwierig es ist, als IV-Bezüger einen Job zu finden.

VICE: Wie viel Geld steht dir im Monat zur Verfügung?
Nico: Die IV-Rente wird nach einem Prozentsatz ausgerechnet – ich habe einen Invaliditätsgrad von 72 Prozent und bekomme dementsprechend zu hundert Prozent IV. Das sind monatlich 2.000 Franken. Also 1.500 Franken als IV-Rente und 500 Franken aus Ergänzungsleistungen.


Mehr aus der Serie "Monatsbudget":


Hast du noch andere Einnahmequellen?
Nein, die IV ist meine einzige Einnahmequelle.

Was musst du von diesem Geld bezahlen?
Die Krankenkasse übernimmt die IV. Ansonsten wird erwartet, dass ich damit meinen Lebensunterhalt bestreite. Da ich in einer Zweitwohnung meiner Eltern sein kann, wohne ich gratis, was auch die IV weiss. Wenn ich von diesem Geld Miete bezahlen müsste, würde es finanziell ziemlich eng werden. So kann ich auch etwas sparen.

Worauf sparst du?
Ich spare mit dem Hintergedanken, dass ich eher finanziell abgesichert wäre, falls zum Beispiel die IV gekürzt würde oder sonst etwas Gesundheitliches passiert. Ich bin eh ein sparsamer Mensch, ich kaufe mir zum Beispiel keine teure Kleidung.

Wofür gibst du gerne Geld aus?
Ich habe mit meiner Ex-Freundin viele kurze Städtetrips zum Beispiel nach Rom unternommen. Für solche Wochenendausflüge gebe ich gerne Geld aus. Oder um ins Stadion zu gehen und mir die Spiele des FC St. Gallen anzuschauen. Ich gebe lieber Geld für Erlebnisse als für Materielles aus.

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Wie viel Geld gibst du pro Tag aus?
Zwischen 20 und 30 Franken, zum Beispiel für Verpflegung. Ich kaufe mir morgens gerne ein Gipfeli vom Bäcker und wenn ich unterwegs bin, meist ein Sandwich oder ein Schnitzelbrot. Wenn ich mit Freunden draussen bin, gehen wir auch gerne mal ins Restaurant. Für ein Menü zahle ich etwa 20 Franken. Wenn ich nicht rausgehe, kommt es auch vor, dass ich an einem Tag gar nichts ausgebe.

Was ist das Teuerste, das du dir in den vergangenen Wochen gekauft hast?
Das Saisonabo meines Fussballclubs. Das hat 275 Franken gekostet. Ich gehe schon seit ich ein Teenie bin an die Spiele des FC St. Gallen. Sie sind zwar fussballtechnisch nicht immer top – aber der Verein ist dennoch meine Leidenschaft. Ich gehe schon seit Ewigkeiten mit denselben Freunden ins Stadion und kenne auch die anderen Leute, die in der Fankurve stehen.

Seit Nico ein Teenager ist, steht er in der Kurve des FC St. Gallen

Was ist das Wertvollste, was du je verloren hast?
Mein Generalabonnement. Da ich ein eingeschränktes Sichtfeld habe, werde ich nie Autofahren können und bin auf den öffentlichen Verkehr angewiesen. Ich habe mich damit abgefunden, dass das für mich nie möglich sein wird. Aber ich fahre sowieso ganz gerne Zug und höre Musik oder beobachte die anderen Mitfahrer.

"Theoretisch könnte ich auch zuhause bleiben und nicht arbeiten. Aber ich will sein wie die anderen."

Musstest du dich schon einmal dafür rechtfertigen, dass du IV beziehst?
Die meisten Menschen finden: 'Du siehst ganz normal aus! Du könntest ja arbeiten.' Es ist nicht so, dass ich nicht arbeiten möchte. Momentan bin ich auf der Suche nach einer Anstellung im kaufmännischen Bereich, die für beide Seiten passt. Aber so einfach ist das nicht. Theoretisch könnte ich auch zuhause bleiben und nicht arbeiten. Aber ich will sein wie die anderen. Ich sehe mich nicht als behindert, sondern als normalen jungen Menschen. Junge Menschen arbeiten und das ist auch für mich in einer guten Phase möglich. Ich will so rasch wie möglich meine erste Festanstellung finden, die mir Spass macht.

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Was macht es für dich schwierig, einen Job zu finden?
Die Arbeitgeber haben Angst, dass ich nicht die Leistung bringe, die sie erwarten. Wenn ich erzähle, dass ich von heute auf morgen einen Entzündungsschub haben könnte, werden die meisten kritisch. Dann nehmen sie lieber jemanden, der "normal" ist.

"Ich fühle mich, als würde ich wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt."

Was gibt dir das für ein Gefühl?
Ich fühle mich, als würde ich wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt. Ich bin einfach anders, das passt gewissen Firmen nicht ins Konzept. Zudem muss ich schauen, dass bei einer Anstellung die IV nicht gekürzt wird. Verliere ich die IV, ist es schwierig, diese irgendwann wieder zu bekommen. Das ist mein Dilemma.

Die Kette mit Kreuz gibt Nico Sicherheit

Kannst du mir das genauer erklären?
Auf eine 100-Prozent-Stelle dürfte ich nicht mehr als 1.000 Franken verdienen, um die IV nicht zu gefährden. Ich bin jetzt mit einem Arbeitgeber im Gespräch, bei dem ich eine normale Anstellung für 4.500 Franken hätte. Aber Beratungsfirmen empfehlen, dass ich die Rente behalten soll. Das heisst, dass mir die Firma für 100 Prozent Arbeit nur 1.000 Franken bezahlen soll.

Hast du schon mal gedacht "wieso ich"?
Ich bin etwas gläubig. Die Frage nach dem 'Wieso' kommt also immer wieder, vor allem, wenn es um die Arbeitssuche geht. Aber darum trage ich auch gerne meine Kette mit Kreuz. Sie gibt mir Sicherheit.

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