FYI.

This story is over 5 years old.

10 Fragen

10 Fragen an eine Autistin, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

Hast du Gefühle? Wie ist das Leben, wenn man keinen Humor versteht? Hast du Rain-Man-ähnliche Begabungen?
Marlies Hübner sitzt auf einem Stuhl

Lange war es ganz normal für Marlies Hübner, 33, dass Gespräche mit anderen Leuten eher einem Unfall glichen. Erst mit Mitte 20 hielt sie es nicht mehr aus und suchte nach dem Grund dafür. Warum eckte sie bei anderen Menschen immer an? Ein Arzt stellte die Diagnose: Autismus.

Wie Marlies geht es etwa einem Prozent der Weltbevölkerung. Manche Menschen mit Autismus brauchen lebenslange Hilfe im Alltag. Marlies, die ein Buch über Autismus geschrieben hat, ist höchstens genervt, wenn man sie behandelt, als wäre sie nicht ganz zurechnungsfähig.

Anzeige

Wie anders sie Gespräche wahrnimmt, zeigt sich schon vor unserem Interview. Sie möchte es lieber nicht am Telefon führen. Das sei für Autisten eine nicht barrierefreie Art der Kommunikation, schreibt sie: "Wer sagt wann was? Wie geht man mit Pausen um? Was, wenn das Gespräch unerwartete Wendungen nimmt? Die Kommunikation am Telefon ist ungleich anstrengender, da man über die Stimme sehr viel transportiert, Autistinnen und Autisten jedoch vor allem die Sachebene wahrnehmen."

Kein Problem, Fragen kann man auch in einem Chat stellen.

VICE: Lebst du in deiner eigenen Welt?
Marlies: Ich lebe in der Welt, in der alle anderen auch leben. Es steht mir ja kein Alternativplanet zur Verfügung.

Fragst du dich jetzt andauernd, ob ich etwas ironisch meine?
Ich frage mich das nicht dauernd. Ich bin mir immer wieder unsicher, ob Leute etwas ironisch meinen, und reagiere manchmal automatisch, als wäre es Ironie. Vorsorglich, quasi. Erst wenn ich Menschen gut kenne, merke ich halbwegs zuverlässig, wie sie etwas meinen. Inzwischen bin ich sehr selbstbewusst mit meinem Autismus und frage einfach, wenn mir etwas unklar ist.


Auch bei VICE: LARPing hat mir das Leben gerettet


Aber generell kann man sagen: Ich verstehe Menschen nicht besonders gut. Bei anderen Autisten oder Autistinnen kann ich das Verhalten besser nachvollziehen. Ich kann davon ausgehen, dass sie ebenfalls auf der Sachebene kommunizieren und ehrlich, unverfälscht sind und dem Gegenüber gut gesonnen. Ob man ein Arsch ist oder nicht, das hängt allerdings nicht mit der Neurodiversität zusammen.

Anzeige

Wie ist das Leben, wenn man keinen Humor versteht?
Autisten und Autistinnen sind durchaus sehr humorvoll, sie schaffen es nur nicht gut, so zu tun, als würden sie auf schlechte Witze stehen. Ich kann mir ehrlich gesagt keine Witze merken. Das hat aber nichts mit meinem Autismus zu tun.

Woran erkenne ich einen Autisten?
Man erkennt sie nicht zwingend. Wenn man sich mit Autisten und Autistinnen unterhält, kann es sein, dass einem Besonderheiten auffallen: spärlicher oder fehlender Blickkontakt zum Beispiel, Unsicherheiten bei der Begrüßung. Die Person ist vielleicht sehr still oder spricht unangemessen viel und ist dabei monothematisch. Sicher weiß man es nur, wenn die Person davon erzählt.

Drehst du durch, wenn Kleiderbügel in einem Schrank nicht alle in die gleiche Richtung zeigen?
Eher nicht, aber ich hasse es, wenn jemand Bücher aus dem Regal nimmt und falsch wieder einsortiert. Ich raste dann zwar nicht aus, aber die Person besucht in Zukunft vielleicht lieber andere Menschen. Es ist wichtig, dass manche Dinge immer gleich sind. Mahlzeiten. Geschirr. Die Sortierung im Bücherregal. Das gibt eine angenehme Illusion von Sicherheit.

Marlies bei ihrer Arbeit als freie Autorin | Foto: FTGRF Fotodesign

Hast du Rain-Man-Begabungen?
Nein, ich bin eher so die langweilige Sorte Autistin. Überhaupt, Rain Man war Savant, also jemand mit Inselbegabungen. Davon gibt es weltweit nur 100 bis 150 bekannte Fälle. Autistisch sind aber ein Prozent der Menschen.

Anzeige

Ich bin auch nicht intelligenter als andere. Ein Teil der Autisten hat zwar potenziell eine hoch bis sehr hoch ausgeprägte Intelligenz, aber das hat auch ein Teil der Nichtautisten. Autistische Menschen haben aber das Talent, sehr schnell sehr viel Wissen anzuhäufen, wenn sie ein Thema wirklich interessiert – das wirkt auf Nichtautisten gerne mal, als wären wir sehr schlau.

Hast du Gefühle?
So intensive, dass es mich nach außen hin oft blockiert. Als mir ein Ex-Freund das erste Mal gesagt hat, dass er mich liebt, meinte ich, da müsse ich drüber nachdenken. Er war … irritiert. Ich habe in diesem Moment nachgedacht, ob ich ebenso fühle, was ich antworte, was die statistisch durchschnittliche Zeit ist, sich die Liebe zu gestehen, wie die statistische Trennungsquote ist, wenn man es zu früh macht und ob man das auch wieder zurücknehmen kann, wenn man kommende Woche feststellt, dass man sich geirrt hat.

Was ist anders in der Liebe und beim Sex, wenn man Autist ist?
Ich kann nicht für alle sprechen. Es gibt wie bei allen Menschen auch bei Autisten und Autistinnen sehr viele Facetten, Menschen jeder sexuellen Orientierung, Trans*Menschen, Asexuelle, was man sich eben so vorstellen kann. Manche haben vielleicht viel Sex, andere gar keinen. Einige finden keinen Partner. Viele lieben sehr intensiv und sind in Partnerschaften sehr loyal. Das sind wir in allen Lebensbereichen. Die Kommunikation miteinander ist einfach anders, wir sind ja auch in Beziehungen eher auf der Sachebene unterwegs und immer ziemlich ehrlich und direkt. Ich zeige einem Menschen, dass ich ihn liebe, indem ich gemeinsame Alltagsrituale kreiere. Rituale sind sehr intim und wichtig; wenn man sie teilt, ist das etwas Ernstes.

Hast du schon mal jemanden gedatet, ohne ihn aufzuklären?
Seit ich die Diagnose habe – nein. Warum auch? Es ist ja nichts, was ich verstecken muss, und es funktioniert hervorragend als Deppen-Filter. Ich meine, wann sagt man das denn? Nach drei Jahren am Frühstückstisch? Gib mir mal die Milch, ach übrigens, ich bin Autistin und der Hund muss auch raus.

Fällt es dir schwer, Freundschaften zu haben?
Ja, definitiv. Zum einen verstehe ich nicht, wie Leute einander kennenlernen. Menschen sitzen in Gruppen zusammen und haben Spaß, aber woher kennen die sich, wie funktioniert es, vom Fremdsein zur Freundschaft zu kommen? Wie oft meldet man sich? Über was spricht man und was unternimmt man miteinander? Die wenigsten Menschen mögen komplette Ehrlichkeit, aber das Lügen liegt mir nicht. Meine Freunde und Freundinnen sind besondere Menschen: Sie schätzen Offenheit und Ehrlichkeit, nehmen mir längere Phasen, in denen ich mich kaum oder nicht melde, nicht übel und kommunizieren generell sehr direkt mit mir. Denn wenn mich jemand anlügt, bemerke ich es meistens nicht.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.