Aufwachsen an der Langstrasse
Falls nicht anders angegeben: Foto von Philippe Stalder

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Langstrassenwoche

Aufwachsen an der Langstrasse

Domenico Ferrari ist zwischen Freiern, antifaschistischen Flugblättern und Luftpistolen gross geworden.
Philippe Stalder
aufgeschrieben von Philippe Stalder

In der 'Langstrassenwoche' widmen wir uns einzig und allein der schillerndsten Strasse der Schweiz. Alle bisherigen Beiträge findest du hier.

1970 geboren, bin ich zu einer Zeit aufgewachsen, als das Langstrassen-Quartier noch ein reines Rotlichtmilieu war. Meine Mutter hatte mir deswegen verboten, die Langstrasse weiter als bis zum Kanzlei-Areal hinunter zu gehen. Als ich das irgendeinmal doch getan habe, fand ich es dort aber gar nicht so spannend: ausser Männer, die Geld für Sex ausgeben wollten, gab es nicht viel zu sehen. Das ganze Nachtleben spielte sich damals noch im Niederdorf ab. Und die Drogenszene befand sich am Platzspitz.

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Ich habe deshalb erst sehr spät angefangen, mich für die Langstrasse zu interessieren. Während heute die Langstrasse ein Ausgehviertel für jedermann ist, suchte man Partys früher vergebens. Wie dieser Ballermann-Charakter genau entstanden ist, weiss ich auch nicht. Das Aufwertungsprojekt "Langstrasse Plus" von Rolf Vieli hatte sicher was damit zu tun, wenn auch unbeabsichtigt. Denn durch die Aufwertung und die Entwicklung weg vom Rotlicht, wurden auch viele Clubs angelockt. Den Grundstein legte wohl die Zukunft. Als mir Freunde aus dem Dunstkreis der Dachkantine vor zwölf Jahren erklärten, dass sie an der Langstrasse einen Club eröffnen wollten, fand ich das unternehmerisch extrem mutig. Damals wollte niemand, der noch bei Trost war, an der Langstrasse feiern gehen.

Meine Eltern waren Wirte in der legendären Cooperativa italiana, die 1905 von italienischen Einwanderern als sozialistische Genossenschaftsküche gegründet wurde. Als in Italien der Faschismus an die Macht kam, entwickelte sich das Cooperativo von einem Treffpunkt der Arbeiterbewegung zu einem Zentrum des antifaschistischen Widerstands – dabei hatte Mussolini in den 20er Jahren selbst noch im Cooperativo gegessen, da er damals noch überzeugter Sozialist war. Und auch Lenin ging während seiner Zürcher Jahren im Cooperativo ein und aus.

Ich bin also in einem politisch äusserst aktiven Umfeld aufgewachsen. Lustigerweise wurde aus mir aber kein Politiker, sondern ein Künstler. So wie auch aus dem Wirtesohn und Schauspieler Ettore Cella, dessen Mutter Erminia das Cooperativo während des Zweiten Weltkriegs über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hatte und nach deren Familie ja die Piazza Cella an der Langstrasse benannt wurde.

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In die Kinderkrippe ging ich auf dem Kanzlei-Areal. Im selben Gebäude, wo sich heute das Xenix-Kino befindet. Von diesem Ort stammen auch meine ersten Erinnerungen. Praktisch alle meine Freunde dort waren Einwandererkinder. Spanier, Portugiesen, Italiener und Griechen. Man nannte das Langstrassen-Quartier früher auch das lateinische Viertel. Es war damals schon berüchtigt, weswegen meine Mutter nicht wollte, dass ich ins Feldschulhaus vis à vis von der Bäckeranlage eingeschult werde. Sie hat sich dafür stark gemacht, dass ich ins Schulhaus Schanzengraben neben dem Kaufleuten komme. Die Klassen dort waren gemischt mit Schweizer- und Einwandererkindern. Aber uns Kids hat es sowieso nicht interessiert, aus welchem Land unsere Eltern stammten.

Wenn wir nach der Schule auf der Lauterwiese beim Helvetiaplatz Fussball spielten, hat man schon gemerkt, dass die Kinder vom Feldschulhaus generell einen Zacken rauer und frecher waren. Die waren immer so verbissen, mich hatte das damals eingeschüchtert. Aber vielleicht waren sie auch einfach nur etwas älter.

Obwohl Italienerfeindlichkeit in der Schweiz damals zum Alltag gehörte, habe ich als Einwandererkind in Zürich Ausgrenzung zum Glück nur selten erlebt: Der Hauswart unseres Nachbarhauses hatte immer über uns "Tschinggen" geflucht, als wir auf dem Vorplatz Strassenhockey gespielt hatten. Meine Mutter war aber immer sehr zuvorkommend und extrem nett zu ihm. So konnte sie ihm den Wind aus den Segeln nehmen. Nach ein paar Jahren war er dann plötzlich super nett zu uns. Ansonsten hatte ich aber keinen Rassismus erlebt. Schon gar nicht unter uns Kindern. In meinem Quartier waren wir ja sowieso alles Einwanderer-Kids.

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Da ich ein sehr friedliebender Typ bin, hatte ich weder Schlägereien, noch Probleme mit der Polizei. Nur einmal, etwa mit 14, hatte ich zusammen mit einem Kumpel mit seiner Luftpistole auf Autopneus geschossen. Plötzlich rannte ein Mann auf uns zu und schrie: "Stehen bleiben, Polizei!" Wir sind absolut erschrocken, er tat so, als würde er seinen Ausweis aus der Tasche nehmen. Doch dann hat er meinem Kumpel einfach die Pistole geklaut. Wie sich herausstellte, war er gar kein Polizist. Das war das einzige Mal, dass ich in Kontakt mit einer Waffe oder Gewalt kam.

Ich interessierte mich mehr für Musik. Angefangen hatte alles an einer Silvesterparty im Cooperativo: Man drückte mir eine Ukulele in die Hand und stellte mich auf die Bühne neben die Band. Später studierte ich Jazz-Gitarre in Luzern. Zu dieser Zeit hatte ich mit Freunden einen Proberaum neben der Langstrasse. Heute ist da eine Schwulenbar drin. Nach der Probe haben wir dann manchmal eine Wurst im Restaurant Biergarten neben der Sonne gegessen. Aber danach sind wir auch heim. Vielleicht haben wir uns mal in die Sonne verirrt, aber das war es dann auch. Es war früher einfach kein Ort, um auszugehen.

Foto zur Verfügung gestellt von Domenico Ferrari

Zwei Jahre nachdem ich die Jazz-Schule abgeschlossen hatte, hing ich Jazz bereits an den Nagel. Denn privat war ich immer mehr an Elektro-Partys unterwegs. Damals fuhren wir voll auf Drum'n'Bass ab. Die Szene war aber über die ganze Stadt verteilt: Von der Roten Fabrik über das Kaufleuten bis zur Dachkantine. Erst Mitte der 00er Jahre formierte sich die elektronische Musikszene neu an der Langstrasse. Dass das Quartier so stark aufgewertet wird, hätte ich damals aber nicht gedacht.

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Jede Stadt braucht meiner Meinung nach eine gentrifikationsfreie Zone, wo nicht schon alles optimiert und komplett durchrationalisiert wurde. Kein rechtsfreier Raum, aber ein kreativer Raum – so wie die Dachkantine, oder das Hive früher. Runtergezupfte Orte, die nicht dem Hochglanz des Systems entsprechen. Aber diese Orte ziehen halt Vermieter an, die das Geld riechen, und dann gehen die Mieten hoch. Sowas lässt sich kaum vermeiden, da sind wir in Zürich ja nicht alleine. Dieses Problem haben alle westlichen Grossstädte. Aber die Entwicklung, an solchen Orten Profit schlagen zu wollen, ist schon sehr bedenklich, denn was schlussendlich darunter leidet, ist die Kreativität.

Foto zur Verfügung gestellt von Domenico Ferrari

Ich sage nicht, dass dies genau an der Langstrasse stattfinden muss, aber ich frage mich einfach, welche Nischen es in Zürich noch gibt, die von Künstlern besiedelt werden könnten. Ich meine, wohin sollen wir denn gehen, wenn die Langstrasse einmal durchgentrifiziert wurde – ins Seefeld?!

Obwohl ich ständig Fernweh habe und mehrere Auslandsaufenthalte hinter mir habe, hat es mich immer wieder zurück nach Zürich gezogen. Wie ein guter Freund von mir, der seit 20 Jahren in New York wohnt, immer sagt: "Zürich ist ein sicherer Anker, zu dem du immer wieder zurückkehren kannst, ohne dass sich irgendetwas merklich verändert hat. Du kannst immer wieder dort beginnen, wo du aufgehört hast." Deswegen bin ich wohl auch immer wieder von meinen Auslandsaufenthalten zurückgekehrt. Zurück ins Langstrassenviertel, das so viel lauter und lebhafter als der Rest dieser herausgeputzten Stadt ist, und dessen Umtriebigkeit mich für den Rest meines Lebens geprägt hat.

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