Ein Obdachloser zeigt, für was er sein Geld ausgibt
Alle Fotos von David Zehnder

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Monatsbudget

Ein Obdachloser zeigt, für was er sein Geld ausgibt

Roger hat in guten Monaten 700 Franken zur Verfügung. Die braucht er für Essen, Zigaretten und sein Smartphone.

In unserer Serie "Monatsbudget" zeigen Menschen aus den verschiedensten Schichten und Lebensrealitäten der Schweiz, wofür sie ihr monatliches Einkommen ausgeben.

Der Berner Roger Meier ist einer von hunderten von Menschen, die in der Schweiz obdachlos sind – offizielle bundesweite Zahlen existieren nicht. Der 56-Jährige hat 20 Jahre auf der Strasse verbracht. Die ersten Jahre, als er es als Teenager bei seinen Pflegeeltern nicht mehr aushielt, die letzten, weil sein Wohnwagen in einer Gewitternacht vor drei Jahren mit seinem gesamten Hab und Gut niederbrannte.

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Wie denkt und haushaltet ein Mann, der in einem der reichsten Länder lebt, kein Bankkonto besitzen darf und seinen Schlafplatz mit Katzenstreu trocken hält? Wir haben Roger in der Stadt Bern getroffen und gefragt, wie er an Geld kommt, für was er es ausgibt und was das Wertvollste ist, das er besitzt.

VICE: Roger, wieviel Geld hast du pro Monat zur Verfügung?
Roger: Zwischen 500 und 700 Franken. Die verdiene ich mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise. Ich verkaufe 3 bis 15 Magazine pro Tag. Trinkgeld kommt manchmal auch noch dazu.

Ist das genug zum Leben?
Es reicht nicht für die Krankenkasse, es reicht nicht für eine eigene Wohnung. Es reicht nicht zum Leben – es reicht nur zum Überleben.

Betteln würde Roger nie. Sein Geld verdient er mit dem Verkauf eines Strassenmagazins

Was ist dein Tagesbudget?
Etwa 20 Franken. Das sieht dann so aus: Morgens frühstücke ich ein Schinkengipfeli und eine Käsequiche mit Kaffee, abends esse ich für fünf Franken in der Gassenküche und zahle über den Tag verteilt drei Franken für den Toilettenbesuch in einem Kaufhaus. Dafür bekomme ich Coupons, die ich für Kaffee oder ab und zu etwas Süsses wie ein Stück Schwarzwäldertorte ausgebe.

Was sind grössere Ausgaben, die du pro Monat hast?
25 Franken für Tabak und Zigarettenpapier, 30 Franken für meinen wöchentlichen Zwetschgen-Lutz und Bier, 30 Franken für das Tablet und Smartphone, 20.60 Franken für Wäsche.

Seine Elektrogeräte lädt Roger jeden Tag kostenlos im Schliessfach eines Kaufhauses auf

Wie bist du zu deinem Smartphone und dem Tablet gekommen?
Ich habe ein halbes Jahr gespart und immer wieder Preise verglichen. Das Tablet hat knapp 90 Franken gekostet und das Smartphone nur 50, weil es alt und rosa ist.

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Was sagst du Leuten, die dir blöd kommen, weil du elektronische "Luxusartikel" besitzt?
Ich erzähle ihnen, dass ich mein Handy und mein Tablet brauche, um nicht zu vereinsamen und um zu arbeiten. Ich habe drei Kinder und Freunde, mit denen ich regelmässig telefoniere, und brauche das Tablet für meine Arbeitsmails. Aber auch um mich zu unterhalten, ich schaue mir darauf Filme und Dokumentationen an und schreibe Tagebuch.

Was war das letzte Aussergewöhnliche, das du dir gekauft hast?
Mein selbstgebautes Happy-Bett auf Rädern: Das ist eine Sackkarre mit zwei angeschraubten 200-Liter-Fässern und einem Bett drin. Das Teil ist verschliessbar, wasserdicht, heizbar. Das Happy-Bett habe ich jetzt aber nicht dabei, sondern versteckt. Als Obdachloser ist es wichtig, so unauffällig wie möglich zu sein. Darum wechsle ich auch immer wieder meinen Schlafplatz.

Was ist dein grösster materieller Wunsch?
Mir die Miete für eine Einzimmerwohnung leisten zu können. Mein Bett auf der Gasse würde ich aber behalten. Mir ist diese Freiheit wichtig. Ich lebe nicht auf der Strasse, weil ich muss, sondern weil ich das will. Für mich ist die Gasse nicht das Ende. Jedes Mal, wenn ich auf der Strasse gelandet bin, war das ein Neuanfang.

Barbara Ann und Pamela sind Rogers Lieblingsmaschinen im Waschsalon. Er wäscht hier zwei Mal im Monat für je 10.30 Franken

Hast du schon mal um Geld gebettelt?
Nein, das würde ich nie im Leben machen. Ich habe immer für mein Geld gearbeitet. Ich war Gerüstbauer, bevor ich einen Arbeitsunfall hatte, der mir den Fuss zertrümmerte.

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Sparst du auf etwas?
Ja, ich will meine Zähne reparieren lassen. Das würde mir vieles erleichtern. Ich könnte meinen Schnauz wieder kürzer tragen. Man würde nicht sehen, dass ich so viel rauche. Man könnte die Leute wieder anlachen, anders auf sie zugehen. Mit solchen Zähnen … sie fördern Einsamkeit …Welche Frau lässt sich mit einem Obdachlosen ein?

Was machst du, wenn du auf einen Schlag 100 Franken Trinkgeld bekommst?
Die lade ich als Notgroschen auf eine Geschenkkarte. Ich werde so weniger verführt, Geld für unnötige Dinge auszugeben. Wenn du obdachlos bist, musst du dir genau überlegen, wie du dein Geld ausgibst. Ich verbringe manchmal zwei Stunden im Supermarkt und vergleiche Preise, um das Maximum aus meinem Geld rauszuholen. Das letzte Mal hat mich der Ladendetektiv dabei beobachtet und verhört. Zum Glück: Er war so berührt von meiner Geschichte, dass er mir aus dem eigenen Sack 20 Franken geschenkt hat.

Was bedeutet dir Geld?
Es ist nichts anderes als ein Tauschobjekt, das ich gegen Sachen, die mir wichtig sind, tauschen kann.

Würdest du dich selber als arm bezeichnen?
Nein, ich bezeichne mich als reich. Denn Reichtum ist nicht Geld, sondern Zeit. Ich habe alle Zeit der Welt und suche mir selber aus, wem ich sie schenke.

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