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Eltern

Wie ich versuchte, meinen Vater zu interviewen – und scheiterte

Immerhin habe ich dadurch gelernt, wie wir alle besser mit unseren Eltern sprechen können.
Zwei Männer in Winterjacken stehen vor einer Betonmauer
Sebastian (r.) und sein Vater | Alle Fotos: Viktoria Grünwald

Ein vermeintlich stinknormaler Freitagmittag in Berlin-Mitte. Ich sitze mit meinem Vater beim Schnitzel. Wir stochern im Essen herum. Es ist der Tag nach seinem 62. Geburtstag, Mitte Dezember. Was wie ein etwas lahmes Mittagessen zwischen Vater und Sohn aussieht, ist für mich ein Arbeitsauftrag. Denn dieser Restaurantbesuch ist kein ganz freiwilliger: Für das "10 Fragen an“-Format von VICE soll ich meinem Vater unangenehme Fragen stellen. Von den Antworten erhoffe ich mir, amüsiert, geschockt oder auch verwundert zu sein. Das Schnitzel ist meine Bestechung. Du bekommst gutes Essen, dafür möchte ich krasse Antworten. Papa mal von seiner wilden Seite erleben, den alten Herrn richtig verhören. Noch ein Schluck vom überteuerten Italo-Wasser, ein Bissen vom Schnitzel. Auf geht’s.

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"Papa, schon mal gekifft?"

"Nein, habe ich nicht."

"Hast du während deines Studiums hart gefeiert?"

"Hart? Was bezeichnest du als hart?"

"Warst du jeden Tag betrunken und hast vor die Kneipe gekotzt?"

"So schlimm war es nicht. Ein Ingenieursstudium fordert."

Die Antworten habe ich mir anders vorgestellt. Ich bin weder amüsiert noch geschockt noch verwundert. Schon klar, mein Vater ist ein konservativer Münsteraner. Möglichkeiten gab es zu seiner Studienzeit trotzdem genug, um richtig die Sau rauszulassen. Zehntausende Studierende, eine große Barszene und direkt nebenan die Niederlande. Da muss doch was sein, denke ich.

Mein Vater hat jedoch lieber studiert und gearbeitet. Hier und da ein Bier. Höchstens mal im Vollrausch nach Hause getorkelt. Heute lebt er seine "wilde Seite" anders aus. Als er das Borussia-Mönchengladbach-Logo in unseren Vorgarten gemauert hat, zum Beispiel. Oder wenn er viel zu teure Laufschuhe kauft. Crazy!

Das Problem sind nicht seine Antworten, sondern meine Fragen

Nun sitze ich hier also und habe ein Problem. Das liegt aber nicht nur an seinen Antworten. Mein Problem sind die Fragen, die mir eigentlich durch den Kopf gehen. Dabei geht es weniger um die Jugendexzesse meines Vaters, sondern um unsere Beziehung im Hier und Jetzt. Aber ich traue mich nicht, diese Fragen zu stellen. Warum fällt es mir so schwer, mit meinem Vater über ernste Themen zu sprechen, frage ich mich. Und geht es anderen Leuten mit ihren Vätern genauso?

Sebastian und sein Vater

Den Vater einfach mal fragen, ob er einen liebt: Nicht so einfach, merkte Sebastian (l.)

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Als Kind war ich sehr auf meinen Vater fixiert. Er war mein Hero. Als Bauingenieur nahm er mich auf Baustellen mit, ich saß tagelang neben Papa im Auto. Das hat Spaß gemacht, Papa war cool. Im Kindergarten veranstaltete ich immer ein Riesendrama, wenn ich mich von ihm verabschieden musste. Als ich ein Teenager war, bröckelte unsere Beziehung: Mit den Jahren entfernten wir uns voneinander. Ich wurde größer, Papa wurde uncool. Er schien sich mehr auf die Arbeit zu konzentrieren. Zwei Jahre hatten wir fast keinen Kontakt, 2012 meldete ich mich wieder bei ihm. Er fehlte mir. In dieser Zeit kamen wir uns wieder näher. Es folgten mein Coming-out, Abi, Studium in Berlin und meine ersten Beziehungen. Papa hat vieles mitbekommen, einige Sachen aber nicht. Wir sind cool miteinander, reden aber nicht ausschweifend über Gefühle. Ich weiß, dass mein Vater für mich da ist und nur Gutes für mich im Sinn hat. Ich kann ihn jederzeit anrufen. Wir waren schon zusammen im Urlaub und er kommt regelmäßig nach Berlin, so wie jetzt.

Im Schnitzelrestaurant schaut mein Vater aus dem Fenster und denkt nach. Gerade habe ich versucht, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, und ihn gefragt, wie er die politische Lage in Deutschland einschätzt. Die AfD hält er für untragbar, sagt er, Leute aus der Gesellschaft auszuschließen könne nie die Lösung sein. Doch anstatt darauf einzugehen, denke ich, dass ich ihm eigentlich viel lieber andere Fragen stellen möchte. Fragen, die viel intimer sind, vielleicht auch gefährlicher, weil sie unsere Beziehung zueinander betreffen:

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Liebst du mich? Stört es dich, dass ich homosexuell bin? Was denkst du darüber, dass ich zur Therapie gehe? Bin ich gut so, wie ich bin?

Solche Fragen habe ich ihm noch nie gestellt. Aus Angst vor Ablehnung oder einer Reaktion, die mir nicht gefällt und die ich nicht einordnen kann. Dabei sollte es doch so einfach sein, oder? Immerhin bin ich Papas Fleisch und Blut. Sein einziger Sohn. Sein Stammeshalter. OK, das geht zu weit. Aber was ich sagen will: Er MUSS mich doch mögen. Oder?

Warum es mir so schwer fällt, mit meinem Vater über ernste Themen zu sprechen

In meinem Kopf existiert das Bild, dass wir in der Lage sein sollten, über solche Dinge mit Leichtigkeit zu reden. So wie Elio und sein Vater in dem Film Call Me By Your Name. Die Schlussszene, in der die zwei über die gescheiterte Beziehung des Sohnes reden und der Vater so herzzerreißend offen und verständnisvoll reagiert. Aber das ist nur ein Film. Die Realität sitzt mir gerade in einem Restaurant gegenüber und macht sich an den Kartoffelsalat. Aus kulinarischer Sicht haben wir dieselben Vorlieben. Immerhin. Das Gespräch läuft jedoch schleppend. Mein Vater nuschelt in seine Hand. Erzählt von seiner Studienzeit. Ich merke, dass nicht nur mir das Gespräch schwer fällt, sondern auch ihm. Später lerne ich, warum es vielen Kinder und Eltern so geht.


Falls ihr selbst mal Eltern werden wollt: Lohnt es sich, seine Eizellen einfrieren zu lassen?

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"Das liegt unter anderem an der Angst, diese Beziehung gefährden zu können", erklärt mir die Psychologin Anne Brandenburg. "Man will nicht anders wahrgenommen werden, möglicherweise den anderen so schocken, dass man eine Ablehnung erfährt."

Mein Vater und ich sind sehr unterschiedlich, das könnte der Grund für diese Angst bei uns sein. Mein Vater mag Fußball, arbeitet als Bauingenieur, ist offensichtlich heterosexuell, sehr beständig und lebt in einer Vorstadt Münsters. Ich hingegen bin offen schwul, risikobereiter , lebe in Berlin, ziehe alle paar Jahre um, kann mit Fußball überhaupt nichts anfangen und bin eher an Kunst (falls Mariah-Carey-Konzerte zählen) interessiert. Das sind ein paar Punkte, die unseren Charakter unterscheiden. Dabei ist mir die Anerkennung meines Vaters wichtig. Wenn er Sachen anders sieht, meldet sich ein Gefühl in mir, dass ich falsch bin. Auch wenn ich weiß, dass das nicht stimmt.

"Noch etwas Wasser?" Der Kellner unterbricht meinen Gedankengang. Ich habe meinem Vater nicht mehr aufmerksam zugehört. Er führt das Gespräch gerade mit dem Voice-Recorder meines Blackberry. Erzählt von seiner Karriere, verpassten Chancen. "Ich weiß nicht, ob ich heute etwas anders machen würde", sagt er und starrt auf das Glas vor ihm. Es sei schwer, Sachen anders machen zu wollen, ohne zu wissen, ob sie auch gelingen werden. Genauso geht es mir mit den Fragen, die mir im Kopf herumschwirren.

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"Papa, liebst du mich?" zum Beispiel. Eine Frage mit so einer zerstörerischen Kraft, dass die Angst vor der Antwort "Nein" so groß ist, dass die Sicherheit des "Ja" ins Schwanken gerät. "Was wäre wenn" ist so ein Satz, der vielen Menschen zu häufig durch den Kopf geht und Unsicherheiten auslöst – auch bei mir.

Dafür muss es aber eine Lösung geben, denke ich ein paar Tage später und treffe mich mit jemandem, dessen Job es ist, zu wissen, wie man erfolgreich kommuniziert und seine Ängste überwindet. Lea Vogel coacht Menschen aus schwierigen Lebenssituationen heraus und sagt mir: "Es kann schon helfen, wenn wir uns bewusst machen, dass es eben diese Verletzlichkeit ist, die Nähe und echte Bindung erzeugt."

Das ist Schritt eins. Es würde mich sehr verletzen, würde mein Vater mich ablehnen. Natürlich könnte ich auch immer auf Nummer sicher gehen und mein Inneres verbergen, denke ich mir im Gespräch mit Lea Vogel. Das führt aber nicht zum Ziel, zu dem Gefühl, von wichtigen Menschen verstanden und respektiert zu werden. Und auch wenn man einmal nicht verstanden wird, kann man sich selbst sagen, dass die eigene Offenheit ein Zeichen von emotionaler Größe ist.

Die wichtigste Lektion: Verletzlichkeit ist Teil des Lebens

Es ist doch so: Wie offen man sich zeigt, darf jeder von seinem Gefühl abhängig machen. Fühle ich mich wohl damit, meinen Vater zu fragen, ob er mich liebt? Und: Wieso frage ich das? Ich glaube, falsche Vorwände, um zum Beispiel maximale Sicherheit zu erfahren, können oft nur in einer Enttäuschung enden. Diese vermeintliche Sicherheit gibt es nicht. Wenn Papa sagt, dass er mich über alles liebt, geht’s mir für einen Moment gut. Die eigentliche Unsicherheit, die in mir herrscht, kann er mir damit aber nicht nehmen. Das wäre eine Illusion.

Dann sagt Lea Vogel etwas, das ich sehr gut nachvollziehen kann: "Wir müssen lernen und verinnerlichen, dass Verletzlichkeit Teil des Lebens ist." Egal welche Beziehung wir eingehen, wir werden immer verletzlich sein. Der Partner oder ein Familienmitglied, sagt sie, wird immer wieder für Verunsicherungen, Verletzungen oder Zurückweisung sorgen. Wichtig sei in solchen Situationen, erwachsen zu sein: "Häufig werden in solchen Gesprächen alte Wunden getriggert und wir rutschen emotional in ein kindlich-verletzliches Gefühl. In diesem Modus fühlen wir uns schnell ohnmächtig." An dieser Stelle, sagt Vogel, sei es wichtig, sich bewusst zu machen, dass man kein Kind mehr ist. Man ist erwachsen: "Verletzlichkeit ist nicht schlimm, aber Ohnmacht macht uns instabil." Ohnmacht. Es gibt wohl kaum ein schlimmeres Gefühl, als wie ein kleines Kind auf dem Bett zu sitzen und zu heulen, weil der Partner sich seit zwei Tagen nicht gemeldet hat und man glaubt, es sei aus. Oft existieren solche Bilder aber nur in unseren Köpfen. Ich glaube, es kann helfen, sich die eigentlichen Ängste hinter seinen Emotionen anzuschauen. Ich stelle mir das so vor: Ich habe Angst, dass mein Partner mich verlässt, weil er dieses oder jenes getan hat. Welche Angst steckt dahinter? Wenn mein Partner mich verlässt, bin ich allein. Ich habe Angst vor dem Alleinsein. Das ist die eigentliche Angst, um die es hier geht. Das muss in dem Moment nicht einmal was mit dem Partner oder der Familie zu tun haben, sondern kann auf alte Erfahrungen zurückgehen. Man fühlt sich, nach Lea Vogels Erklärung, wieder wie ein Kind. Es ist wichtig, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Noch wichtiger aber ist, ihn zu erkennen. Bei meinem Vater kann ich mich ein Leben lang fragen, was er über mich denkt, und mich davon beherrschen lassen. Oder ich werde aktiv und lasse ihn an meinem Leben teilhaben. Und dazu gehört eben auch, hin und wieder Dinge an- und auszusprechen, die mir unangenehm sind. Nur wer sich mit diesen Gefühlen auseinandersetzt, kann eine positive Beziehung gestalten. So zumindest die Theorie. Wie die Praxis aussieht, bespreche ich mit meinem Vater beim nächsten Schnitzel.

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