'The Florida Project': Die vergessenen Wohnungslosen im Schatten von Disney World

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Popkultur

'The Florida Project': Die vergessenen Wohnungslosen im Schatten von Disney World

Wir haben mit Regisseur Sean Baker über Armut in den USA und seinen neuen Film gesprochen. Bei dem wirst du Rotz und Wasser heulen.
Hannah Ewens
London, GB

Gut gebräunte Männer in Bootsschuhen, Frauen mit Sonnenschirmen, lachende Kindern: Wenn die meisten Menschen an die Disney World in Orlando, Florida, denken, sehen sie glückliche Familien vor ihren Augen. Wenn Sean Baker an die Disney World denkt, sieht er Armut, Drogen und Existenzen, die in ihrem Schicksal gefangen sind. Die Geschichte dieser Menschen, die wenige Hundert Meter entfernt vom Vergnügungspark ihr Dasein fristen, erzählt Baker im Film The Florida Project.

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Die Hauptfiguren von The Florida Project sind die sechs Jahre alten Monee und ihre alleinerziehenden Mutter Halley, wohnungslos, Dauergäste in einem Motel Orlandos. Disney World sehen sie nur von aussen.

Trotzdem dreht sich The Florida Project vor allem um die Lebensfreude von Monee und ihren Freunden. Damit schaffte es der Film 2017 auf diverse Bestenlisten, Nebendarsteller Willem Dafoe wurde für einen Oscar nominiert. Wir sprachen mit Sean Baker darüber, wie er wohl einen der berührendsten Filme des Jahres geschaffen hat.

VICE: The Florida Project zeigt, wie die Armutslage in den USA wirklich aussieht. Wie seid ihr die Recherche in den Motels von Orlando angegangen?
Sean Baker: Sehr journalistisch. Wir haben ein Stipendium erhalten, um die in den Motels lebenden Menschen, Besitzer von kleinen Geschäften und Mitarbeiter von Sozialhilfeeinrichtungen interviewen zu können. Einige Motels waren wegen krimineller Aktivitäten sogar ein wenig zu krass. Die Leute dort haben uns auch direkt verjagt, die Medien hatten ihnen einfach schon zu oft übel mitgespielt.

In diesem ganzen Umfeld wurde uns auch erst richtig bewusst, wie sich der wirtschaftliche Rückgang in den USA auf die Menschen dort ausgewirkt hatte. Die Bewohner der Motels kamen kaum über die Runden, kleine Geschäfte kämpften ums Überleben. Nach aussen hin wollte trotzdem jeder einen guten Eindruck machen.

Basiert ein Charakter aus dem Film auf einer realen Person?
Ein Motelmanager inspirierte uns zu Bobby, gespielt von Willem Dafoe. Wir spürten sofort, wie viel Mitgefühl der Manager für die Bewohner hatte. Gleichzeitig wahrte er aber eine gewisse Distanz, um das Ganze professionell zu halten – und weil er jederzeit vielleicht eine der Familien rauswerfen musste. Bei unserem nächsten Besuch hatte das Motel, in dem er arbeitete, schon dicht gemacht. Es war aufgekauft worden und wird nun in ein richtiges Touristenhotel verwandelt. 125 Familien standen von einem Tag auf den anderen auf der Strasse und mussten sich eine neue Unterkunft suchen.

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Man fragt sich, was die beiden Hauptcharaktere Moonee und Halley ohne Bobby als Vaterfigur gemacht hätten. Besass auch der echte Hotelmanager diese väterlichen Züge?
Auf jeden Fall. Er erzählte mir, dass er mal einem kleinen Jungen ein Fahrrad gekauft hat, weil der als Einziger keins hatte. Ausserdem legte er die Vorschriften bei den ärmeren Familien recht grosszügig aus. Als Chris und ich das Grundstück des Motels erstmals betraten, gingen wir zuerst zum Spielplatz und redeten dort mit kleinen Kindern. Nur Sekunden später stand der Manager mit einem Bohrer in der Hand da und fragte, ob er uns weiterhelfen könne. Erst nach einem richtigen Verhör glaubte er uns, dass wir nur für einen Film recherchierten.

Wie seid ihr auf Brooklyn Prince gestossen, die Moonee spielt?
Durch ein örtliches Casting. Wegen des Akzents und der Nähe zum Drehort suchten wir gezielt nach Kindern aus der Gegend. Zunächst hatten wir selbst nach 100 Bewerberinnen nicht die richtige Darstellerin gefunden, aber bei Brooklyn wussten wir sofort, dass sie mit ihrem Witz, ihrer Energie und ihrer Niedlichkeit perfekt passt. Ausserdem versteht sie die Kunst der Schauspielerei, wir liessen sie einfach machen. Am Ende des Films war sie in der Lage, zu weinen, weil sie sich in die Situation ihres Charakters hineinversetzen konnte. Trotz ihres jungen Alters ist ihr schon klar, wie glücklich sie sich mit ihrem Leben schätzen kann.

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Auf ihre niedliche Art und Weise sagt sie auch immer wieder richtig witzige Sachen.
Ja. Zwar hielt sie sich die meiste Zeit ans Drehbuch, aber ab und an durfte sie auch improvisieren. In der Szene, in der die Eiscreme auf den Boden tropft, weicht Willem Dafoe zum Beispiel vom Skript ab und sagt "Thank you very much", worauf Brooklyn spontan mit "You're not welcome!" antwortet.

"In einigen Reviews zu meinem Film heisst es, dass das wir solche Geschichten nicht erzählen sollten. Genau wegen solcher Aussagen mache ich diese Filme – sie sind eine Antwort auf das, was ich eben nicht im Kino sehe."

Musstest du wegen des brisanten Themas des Films vorsichtiger mit den Emotionen der Zuschauer umgehen? Ich kann mir gut vorstellen, dass manche Leute das Ganze als "Armutsporno" bezeichnen.
Auf jeden Fall. Ich glaube aber auch zu wissen, wie alle diese "Armutspornos" aussehen: Eine junge, wunderschöne Hollywood-Grösse spielt eine Mutter, die zwar kaum über die Runden kommt, aber trotzdem immer frisch frisiert und wohlernährt aussieht. Was ich dabei besonders eklig finde: Die Filmemacher stellen solche Charaktere oft als engelsgleiche Menschen ohne Fehler dar. Dadurch wirken sie unmenschlich und die Zuschauer können sich nicht mit ihnen identifizieren.

In einigen Reviews zu meinem Film heisst es, dass das wir solche Geschichten nicht erzählen sollten. Genau wegen solcher Aussagen mache ich diese Filme – sie sind eine Antwort auf das, was ich eben nicht im Kino sehe. Verdient nicht jeder Mensch, egal mit welchem Hintergrund, eine Geschichte?

Nach dem Film verspürt man auf jeden Fall den Drang, sich über das Thema Armut zu informieren.
Gut, darauf ich will die Aufmerksamkeit ja lenken. Die Bewohner der Motels zahlen im Monat 1.000 Dollar für ein heruntergekommenes Einzimmerapartment, für meine Wohnung in West Hollywood muss ich nur 1.200 Dollar berappen. Sie bekommen aber keinen Kredit, finden keinen Bürgen, können keine Miete vorstrecken. So bleibt ihnen nur ein Motel – und das günstigste kostet eben 38 Dollar die Nacht. Das Geld dafür kratzen sie sich mit Mindeslohnjobs zusammen. Wenn dann noch Kinder dazukommen, wird das Ganze noch viel schwerer.

Ich weiss nicht, wann mich ein Film zuletzt so berührt hat. Ich habe am Ende Rotz und Wasser geheult. Ist das die Reaktion, die du dir erhoffst?
Das ist toll, weil alle Filme, bei denen mir jemals die Tränen kamen, auch meine Lieblingsfilme sind. Normalerweise bekomme ich an meinen eigenen Sets nie feuchte Augen, aber als ich Brooklyn das Ende spielen sah, war es auch bei mir so weit.

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