Mein Dad wurde ermordet, jetzt suche ich seinen Geist online
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Mein Dad wurde ermordet, jetzt suche ich seinen Geist online

Er starb vor der Geburt des Internets, wie wir es heute kennen. Trotzdem spüre ich seinem digitalen Fußabdruck nach.

Dieser Artikel stammt aus der Privacy and Perception Issue des VICE Magazine, das in Zusammenarbeit mit Broadly produziert wurde. Mehr Geschichten aus dem Heft kannst du hier lesen.

Mein Vater gehörte zu den ganz frühen Internetnutzern. Er buchte in den 1990ern Flugtickets online und zeigte mir, wie man im AOL Instant Messenger eine Freundesliste erstellt, bevor meine Freunde überhaupt ein Modem hatten. Während die anderen aufholten, schrieben mein Dad (Nutzername: mbai001) und ich (gsbwriter, der Nickname lebt heute auf Instagram weiter) fleißig Chatnachrichten – mal aus demselben Zimmer, mal von verschiedenen Enden der Staaten. Mein Dad bewegte sich im Internet mit der Sicherheit eines Digital Native, obwohl er dafür drei Jahrzehnte zu früh geboren wurde. Er gehörte zur Babyboomer-Generation, baute schon als Teenager in seinem Zimmer einfache Rechner. Technische Geräte sah er als unvollkommene Werkzeuge des Fortschritts. Er rutschte nie genervt mit der Maus übers Pad, weil er den Zeiger nicht finden konnte, er schickte nie wirr weitergeleitete Kettenmails. Er kapierte es einfach.

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Aber er hat nicht mehr erlebt, was aus dem Internet alles geworden ist, weder im Guten (Gemeinschaft, Crowdfunding, Netflix) noch im Schlechten (Cybermobbing, 4chan, Unterwanderung der Demokratie). Mein Vater starb am 16. Februar 2004, nur zwölf Tage nachdem Mark Zuckerberg von seinem Studentenwohnheim aus die Seite startete, die mal Facebook werden würde. Ein Jahr vor YouTube, zwei Jahre vor Twitter und drei Jahre, bevor das iPhone mobiles Internet massentauglich machte. Es gab keine Emojis und keine Podcasts. Als er starb, war noch nicht mal das Format "Vorname-Nachname" Standard für E-Mail-Adressen. Mein Dad ging von uns, als das Internet noch ein unbeholfener Teenager war, mit Internet Explorer 6 und schmalen, überladenen Homepages voller blinkender Elemente.

Das Internet in seiner erwachsenen Form lernte mein Vater nie kennen, und im Gegenzug kennt es meinen Vater nicht – außer in seiner Rolle als Mordopfer. Zwölf Tage nach dem Launch der Seite, die damals noch "The Facebook" hieß, starben mein Vater Larry und meine Stiefmutter Ruth in ihrem Haus in Sedona, Arizona. Wie es später im Urteil hieß, war die Tat "besonders abscheulich und grausam". Er war 54, sie ein Jahr älter.


Auch bei VICE: Dieser Mann hütet eines der wichtigsten Kabel des Internets


Ich war damals 24 und Single, hatte seit zweieinhalb Jahren meinen Uni-Abschluss und arbeitete bei einer Zeitung – mein Ressort waren die Nachrufe. Das Leben schreibt die seltsamsten Geschichten. Ich verdiente meinen Lebensunterhalt mit dem Tod, war ihm bis dahin aber nie wirklich begegnet. Mein Dad und meine Stiefmutter waren kurz zuvor aus einem Vorort von Los Angeles nach Sedona gezogen. Das sei das Tolle an der digitalen Kommunikation, hatte mein Vater mir erklärt: Mit Ruth betrieb er eine Beratungsfirma für Umwelt- und Arbeitsschutz, dank des Internets konnten die beiden einfach die Zelte abbrechen und an "den schönsten Ort Amerikas" ziehen.

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Ihr Mörder war ein 28-jähriger Methamphetaminsüchtiger mit einem langen Vorstrafenregister. Er betrat das Haus mit einer Luftpistole, die wie eine echte Waffe aussah. Eigentlich wollte er sie
ausrauben und mit ihrem Auto abhauen. Wie eine schnelle Google-Suche dir verraten wird, kam es viel schlimmer. Ein Verbrechen sensationell genug für die Presse – schon bald füllte der Mord die erste Ergebnisseite, wenn ich Larrys und Ruths Namen suchte.

Heute, 14 Jahre später, ist die Firmenwebsite der beiden längst verschwunden, die meisten Internet-Telefonbücher haben ihre Kontaktdaten gelöscht. Die Onlinepräsenz meines Dads besteht hauptsächlich aus Verbrechen ("Doppelmord in Sedona"), Strafe ("Mann aus Oak Creek kriegt zweimal lebenslange Haft für Doppelmord") und ein paar frühen Gedenkaktionen, darunter Preise und Stipendien in seinem Namen. Der Rest ist ziemlich obskur: Ein Vorschautext für einen Artikel im Fachmagazin Occupational Hazards nennt meinen Vater einen der "10 einflussreichsten Industriehygieniker", dann gibt es ein paar Fachartikel von ihm über Arbeitsschutz und einen Leserbrief an die Red Rock News über geplante Straßenarbeiten. "Wir machen echte Fortschritte, bald haben wir eine Straße, auf die wir alle stolz sein können und die Sedonas Schönheit erhalten wird", schrieb er, nur zwei Wochen vor den Morden.

Ich habe mich auch selbst bemüht, seine Trefferliste zu erweitern. Ich bin Journalistin und Mitgründerin von Modern Loss, einer Plattform für Inhalte über das Leben als Hinterbliebene. Hin und wieder schreibe ich über meinen Vater und meine Trauer. Zum Vatertag vor zwei Jahren veröffentlichte ich "20 Dinge über meinen toten Dad, die du vermutlich noch nicht weißt" (Nr. 8: Zum siebten Geburtstag schenkte er mir eine Party mit dem Motto "Halleyscher Komet"; die Einladung, verfasst auf unserem Macintosh der ersten Generation, forderte: "Komet alle zu Gabi …")

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Sein digitaler Fußabdruck mag ziemlich statisch und traurig sein, trotzdem google ich meinen Vater oft. Dabei habe ich viel über seinen Googlegänger erfahren – er hat denselben Namen, aber ist Ingenieur, kann gut mit Excel umgehen, ist so konservativ, wie mein Dad liberal war, und mag Posts wie "Kennst du noch Schlaghosen? Teile das hier, wenn du mal ein Paar hattest".

Ich habe außerdem Archive.org nach den Überresten der gelöschten Firmenwebsite durchsucht und jede Version, jede archivierte Unterseite eingehend studiert. Immer wieder kehre ich zum Missions-Statement auf der Hauptseite zurück: "Wir vereinen nachhaltige wirtschaftliche Produktivität mit menschlicher Gesundheit und Umweltschutz." Ich höre den Satz in der Stimme meines Dads. (Mysteriöserweise nutzte jemand dieselbe URL 2013/2014, um auf Japanisch Nahrungsergänzungsmittel zu verkaufen.)

Mit der Immobiliendatenbank von Zillow habe ich eine virtuelle Führung durch das Haus in Sedona gemacht. Meine Familie musste es zum Verkauf vorbereiten, nachdem die Tatortreiniger ihre Arbeit erledigt hatten – eine unfassbar schwere Aufgabe.

Ich suche nach meinem Dad und hoffe dabei immer mal wieder, dass die Uni-Zeitung, in der er eine Kolumne hatte, ihre Archive online stellt. Ich male mir aus, wie ich plötzlich auf YouTube eine leidenschaftliche Ansprache finde, die er bei einer Protestveranstaltung gegen den Vietnamkrieg hielt, oder eine ruhige, trockene Rede auf einer Fachkonferenz. Ich stelle mir vor, einfachen Zugriff auf seine Stimme, sein Gesicht, seine Gesten zu haben – Material, aus dem ich lernen und Schlüsse über ihn ziehen kann. Seit 14 Jahren suche ich ihn in verschiedenen Generationen des Internets und weiß inzwischen längst, was ich finden werde. Aber ich gebe nie die Hoffnung auf, noch ein paar Daten zu entdecken.

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