Alles, was in der aktuellen Asyldebatte komplett schiefläuft
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Alles, was in der aktuellen Asyldebatte komplett schiefläuft

Die Abschottungspläne der Rechten sind Irrsinn, die Linken haben erst recht keinen Plan.

Um den IQ eines Mobs auszurechnen, hat der englische Schriftsteller Terry Pratchett einmal geschrieben, muss man einfach den IQ seines dümmsten Mitglieds durch die Gesamtzahl der Teilnehmenden teilen. Das würde zumindest das Niveau der aktuellen Asyldebatte erklären: der IQ Horst Seehofers, geteilt durch die Zahl sämtlicher Spitzenpolitiker und -politikerinnen Deutschlands und der EU.

Wie sonst soll man verstehen, dass angesichts der größten Flüchtlingsbewegung aller Zeiten – aktuell sind laut der UNO-Flüchtlingshilfe weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht – in Europa gerade erbittert darüber gestritten wird, ob man privaten Seenotrettern auf nicht einmal einem halben Dutzend kleiner Schiffe noch erlauben soll, Ertrinkende aus dem Mittelmeer zu ziehen?

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Dass darüber überhaupt diskutiert wird, ist nicht nur moralisch pervers. Es ist auch krasse Zeitverschwendung, die wir uns nicht leisten können. Aber das ist offenbar das Maximum an Denkleistung, zu der unsere Politikern und Politikerinnen bei dem Thema bereit sind – und das zieht sich durch von der AfD bis zur Linken, von Markus Söder bis zu Emmanuel Macron. Hier sind die wichtigsten Punkte, die in der Debatte gerade völlig schieflaufen:

1. Das Argument, dass ja kaum noch Leute kämen, ist Träumerei

Es stimmt: In der ersten Hälfte dieses Jahres sind nur rund 50.000 Migranten und Flüchtende über das Mittelmeer gekommen – viel weniger als in den Jahren zuvor, und eine winzige Zahl gemessen an der globalen Migrationsbewegung. Deshalb ist es natürlich richtig, wenn man Horst Seehofer vorwirft, dass er die Regierungskrise wegen eines nicht besonders akuten Problems losgetreten hat.


Die tödlichste Fluchtroute der Welt im Video:


Deshalb zu glauben, über Flucht und Migration müsse man sich ab jetzt keine Gedanken mehr machen, ist trotzdem gefährlich. Erstens sind allein in diesem Jahr bereits 1.443 Menschen bei der Überfahrt ertrunken. Und zweitens machen sich jetzt schon immer mehr Menschen aus den Ländern des subsaharischen Afrika auf den Weg nach Europa. In Ländern wie Ghana und Nigeria geben bis zu zwei Drittel der Menschen an, auswandern zu wollen, wenn sie könnten. Bis zur Jahrhundertmitte wird sich die Bevölkerung in Afrika verdoppeln, auf 2,4 Milliarden Menschen. Schon jetzt gibt es nicht genug Arbeitsplätze, teilweise nicht einmal genug Essen, um all diese Menschen zu ernähren. Als die Bevölkerung im Europa des 19. Jahrhundert derart explodierte, wanderten Millionen Menschen nach Amerika aus, wo es damals sehr viel Platz gab. Heute hat Amerika da keine Lust mehr drauf, und mehr Kontinente haben wir nicht. Das heißt: Selbst wenn in den nächsten 30 Jahren nirgends ein solcher Konflikt ausbricht wie der syrische Bürgerkrieg, werden immer mehr Menschen versuchen, nach Europa zu kommen. Und Europa muss sich dringend überlegen, wie es damit umgeht.

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2. Die Abschottungs-Pläne der Rechten sind Irrsinn

Die netten Jahre sind vorbei in der EU, das hat der Ausgang des EU-Asyl-Gipfels Ende Juni mehr als deutlich gemacht. Beschlossen wurden dort: "Ausschiffungsplattformen"; noch mehr Geld für die libysche Küstenwache, damit sie noch mehr Migranten einfangen und in "KZ-ähnliche" Lager pferchen kann; mehr Geld für die "Bekämpfung illegaler Migration". Und in Deutschland darf Seehofer jetzt symbolisch ein paar Leute an der bayerischen Grenze "zurückweisen". Ganz klar: Die Zeichen stehen auf Abschottung und Abschreckung. Das Problem ist nur, dass das nicht funktioniert.

Sebastian Kurz und Emmanuel Macron diskutieren und gestikulieren.

"Nimm du se doch!" – "Mooooi?" Foto: imago | Reporters

Zuerst zur Abschreckung: Die zynische Hoffnung, dass man einfach noch ein paar mehr Menschen ertrinken, von libyschen Sklavenhändlern totprügeln oder von Ex-Janjaweed-Milizen jagen lässt und dann kommt keiner mehr, wird sich nicht erfüllen. "Diese Menschen haben gewichtige Gründe zu fliehen: Terrorismus, Kriminalität, Korruption, schlimmste Lebensumstände", sagte der Afrika-Analyst Marc Engelhardt Anfang Juli in einer Gesprächsrunde im SWR. "Ihnen ist klar, wie lebensgefährlich diese Flucht wirklich ist, und trotzdem machen sie sich auf den Weg. Die werden sich nicht davon abschrecken lassen, dass jetzt irgendwelche Lager errichtet werden." Oder in den Worten eines Somaliers, der drei gute Freunde an das Mittelmeer verloren hat: "Auf dieser Reise sind noch 75 andere Somalier ertrunken. Aber das hat an unserer Entscheidung nichts geändert. Es macht uns keine große Angst. Wir wissen, dass da der Tod ist."

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Und zur Abschottung und den "Ausschiffungsplattformen" in Marokko, Libyen oder Tunesien, für die sich der Österreicher Sebastian Kurz so begeistert: Niemand hat eine Ahnung, wie das funktionieren soll. Alle diese Länder lehnen Auffanglager auf ihrem Gebiet kategorisch ab. "In Berlin gibt es keinen wichtigen Politiker, der an diese Ausschiffungsplattformen glaubt", sagte der Chef und Gründer des Think-Tanks "European Stability Initiative" Gerald Knaus in der SWR2-Sendung. "Das ist etwas, das wir nie sehen werden." Eine radikale Abschottung, wie Australien sie praktiziert, ist für Europa schon geografisch überhaupt nicht möglich. Das heißt: Die "Festung Europa" ist ein Luftschloss.

3. Jeden Migranten pauschal "Flüchtling" zu nennen, hilft niemandem weiter

Es ist ziemlich eigenartig, immerzu eine "Versachlichung der Debatte" zu fordern und im gleichen Atemzug zu behaupten, alle, die sich aufs Mittelmeer einschiffen, seien erstmal Flüchtlinge. Im Einzelfall kann das niemand außer den Asylbehörden entscheiden, aber trotzdem darf man nicht so tun, als wüsste man nicht, dass viele dieser Menschen nicht verfolgt werden. 2016 zum Beispiel kamen mehr als 10.000 Menschen aus dem Senegal übers Mittelmeer nach Italien. Sie hatten gute Gründe, dort abzuhauen, obwohl dort weder Krieg noch Hunger herrschen – aber ein Grundrecht auf Asyl haben die allermeisten nicht, weshalb die Anerkennungsquote für Senegalesen und Senegalesinnen in Italien fast jedes Jahr bei etwa einem Prozent liegt.

Es gibt gute Argumente dafür, Kategorien wie Flüchtlinge/Vertriebene/Wirtschaftsmigranten und -migrantinnen zu hinterfragen: Was ist zum Beispiel ein Syrer, der sich nach sechs Jahren in einem sicheren, aber vollkommen perspektivlosen Leben in Jordanien nach Europa aufmacht? Aber ohne diese Diskussion einfach pauschal jeden und jede zu Asylberechtigten zu erklären, macht die Debatte nur schwieriger – und gibt den Leuten Futter, die wiederum alle Flüchtlinge zu Wirtschaftsflüchtlingen umlügen wollen.

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Und: Wer der Meinung ist, dass es egal ist, ob jemand wegen Verfolgung, wegen Hunger oder wegen Arbeitslosigkeit nach Europa will, der muss das klar sagen. Aber da kommen wir schon zum nächsten Problem:

4. Die Linke hat keine Ahnung, was sie eigentlich will

Wenn sie die Parole "Wir können nicht alle nehmen" hören, rollen die meisten Linken mit den Augen und sagen, das habe ja auch nie jemand gefordert. Kann sein – aber das ist keine Antwort auf die implizite Frage: Wie viele können oder sollen wir nehmen? Die Rechten haben in dieser Debatte auch deshalb so klar die Oberhand gewonnen, weil die Mehrheit der Linken darauf keine Antwort gefunden hat. Ein klares, linkes Konzept für Migration existiert nicht.

Foto: imago | Rene Traut

Das hat einen einfachen Grund: "Eigentlich wollen auch die meisten Linken keine Veränderung der aktuellen Verhältnisse", schreibt Titus Molkenbur, der als ehemaliger Operationsleiter von "Jugend Rettet" genau mitbekommen hat, was die europäische Gleichgültigkeit bedeutet. Gleichzeitig wollten die Linken aber auch nicht, dass Menschen sterben. "Anstatt sich darüber Gedanken zu machen, wie eine wirklich progressive Migrationspolitik aussehen könnte, flüchten sie sich deshalb in einen geschichtsvergessenen, moralisierenden und emotionalen Diskurs." Das liegt daran, dass die meisten Linken keine Lust haben, sich mal ernsthaft damit auseinanderzusetzen, wie viel Einwanderung sie eigentlich wollen. Und was das in der Konsequenz bedeutet.

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5. Wir müssen über Zahlen reden

Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenzen, ein Einwanderungsgesetz könnte die aber durchaus beinhalten. Blöd nur, dass wir – vor allem dank der CDU – immer noch keins haben. Den gefährlichen Weg über das Mittelmeer treten auch deshalb so viele Menschen an, weil es für sie keine legalen Wege nach Europa gibt. Wenn sie es dann geschafft haben, leben sie jahrelang in einer EU geduldet vor sich hin, die sie nicht haben will, es aber nicht schafft, ihre Herkunftsländer dazu zu zwingen, sie zurückzunehmen.

Das liegt auch daran, dass vor allem in Afrika viele der Herkunftsländer dringend auf die Emigration eines Teils ihrer Bevölkerung angewiesen sind, weil ihre Arbeitsmärkte sie nicht aufnehmen können und weil sie die von den Auswanderern geschickten Devisen dringend brauchen. Statt zu versuchen, diese Länder mit Sanktionen zur Rücknahme zu zwingen, könnte die EU zum Beispiel versuchen, mit ihnen Abkommen zu treffen: Jedes Jahr bekommt eine bestimmte Zahl eurer Bürger und Bürgerinnen Visa, dafür verpflichtet ihr euch, illegal Eingewanderte sofort wieder zurückzunehmen. Das könnte wiederum dazu führen, dass sich viel weniger Menschen illegal auf den Weg machen, denn wer geht, riskiert freiwillig den Tod, wenn es auch eine Chance auf eine legale Einreise mit dem Flugzeug und eine Arbeitserlaubnis gibt?

Aber auch wenn man der Meinung ist, dass solche Abkommen (und die damit möglicherweise verbundene Auswahl der Bewerber und Bewerberinnen nach Bildungsgrad) zynisch sind und dass im Grunde alle Menschen das Recht haben sollten, legal einzuwandern, dann muss man sich offen dazu bekennen (wie Titus Molkenbur das zum Beispiel tut). Das heißt aber auch, dass man den Leuten, die im Aufnahmeland am meisten mit den Folgen zu kämpfen haben werden – den Geringqualifizierten, die jetzt schon am Arbeitsmarkt kämpfen –, erklärt, wie man sich um sie kümmern will.

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Macht hier noch irgendjemand Politik?

Ein geretteter Bootsflüchtling zeigt das Peace-Zeichen.

Foto: imago | epd

Es gibt natürlich keine einfache, perfekte Lösung. Aber um irgendeiner Art von Lösung oder Perspektive überhaupt näherzukommen, müssten unsere Politiker und Politikerinnen zumindest mal anfangen, darüber nachzudenken. Die Zeit, in der man einfach wie Merkel auf Sicht, mit einem evangelischen Kirchenlied im Bordradio, durch die Weltgeschichte steuern konnte, ist lange vorbei. Die Zeit von Orbans, Kurz’ oder Salvinis Lagerfantasien darf nie kommen. Was Europa braucht, ist keine Debatte darüber, wie viele Migrantinnen und Flüchtlinge man ertrinken lassen muss, bevor sie aufhören zu kommen. Sondern ein Debatte über eine Asylpolitik und eine Migrationspolitik, die darauf abzielt, dass niemand mehr in Boote steigen muss.

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