Der Jugendrichter Andreas Müller sitzt an seinem Schreibtisch
Alle Fotos: Henry Giggenbach
Drogen

Dieser Richter will Cannabis legalisieren und vors Bundesverfassungsgericht ziehen

"Nach unserem Grundgesetz darf jeder Mensch so leben, wie er will. Und er darf nach meiner Auffassung auch die Droge wählen, die für ihn am besten ist."

Andreas Müller ist Jugendrichter und Cannabisaktivist. Auf den ersten Blick eine überraschende Kombination. Aber dass sich er, den die Bild mal den "härtesten Jugendrichter Deutschlands" nannte, für die Legalisierung von Cannabis einsetzt, macht auch Hoffnung: Müller erklärt seit Jahren, warum das Cannabisverbot in Deutschland nicht funktioniert. Und jetzt will er vors Bundesverfassungsgericht ziehen. VICE hat vorab exklusiv mit Müller über seine Pläne gesprochen.

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Bekannt wurde der 58-Jährige durch seine kreativen Urteile gegen Neonazis. Manche schickte er zum Döneressen mit jungen Deutschtürken, andere zwang er, ihre Springerstiefel abzugeben. Sein großes Thema war aber immer das Cannabisverbot. 2002 ließ er das Bundesverfassungsgericht schon einmal prüfen, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Müller fand: Nein, ist es nicht. Das oberste deutsche Gericht sah das aber anders. In einem früheren Urteil hatte es bereits erklärt, dass man einfach noch nicht genug über Cannabis wisse: wie gefährlich es ist und ob die Verbotspolitik etwas bringt. Also blieb alles so, wie es war. Das könnte sich jetzt ändern.


Auch bei VICE: Wie das Cannabisverbot in Großbritannien versagt


Andreas Müller beabsichtige, in der Hoffnung, dass viele Kollegen sich anschließen, noch im September das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Denn heute wisse man viel mehr über Cannabis als noch vor 17 Jahren, sagt er. Alle neuen Erkenntnisse hat der Hanfverband von Rechtsanwälten auf über hundert Seiten zusammenfassen lassen. Mit dieser sogenannten Richtervorlage können Gerichte vors Bundesverfassungsgericht ziehen und prüfen lassen, ob man Cannabis in Deutschland eigentlich legalisieren müsste.

Damit könnte die vollständige Freigabe von Cannabis in Deutschland einen entscheidenden Schritt näherrücken.

VICE: Herr Müller, Cannabis ist in Deutschland illegal. Sie halten das für verfassungswidrig. Warum?
Andreas Müller: Weil das Cannabisverbot in unsere Grundrechte eingreift. In das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die allgemeinen Freiheitsrechte. Und es verstößt gegen Artikel 3 des Grundgesetzes: den Gleichheitsgrundsatz. Das sehe im Übrigen nicht nur ich so, sondern auch viele Strafrechtsprofessoren.

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Wie genau verstößt das Cannabisverbot gegen Persönlichkeits- und Freiheitsrechte?
Laut unserem Grundgesetz darf jeder Mensch so leben, wie er will. Es sei denn, er verletzt damit die Rechte anderer. Er darf schwul sein, er darf lesbisch sein und er darf nach meiner Auffassung auch die Droge wählen, die für ihn am besten ist. Denn wer Cannabis konsumiert, zieht damit das Recht von anderen nicht in Mitleidenschaft.

Bücher

2015 verarbeitete Andreas Müller seine Erfahrungen am Gericht in dem Buch 'Kiffen und Kriminalität: Der Jugendrichter zieht Bilanz'

Das klingt so, als würde diese Erklärung für alle Drogen gelten. Was unterscheidet Cannabis von anderen Drogen?
Im Grunde genommen stimmt es. Und keiner sollte für das Gebrauchen einer Substanz bestraft werden dürfen. Aber Cannabis ist wesentlich weniger gefährlich als andere Substanzen wie etwa Heroin. Insoweit dürfte bei anderen Drogen eine Verfassungswidrigkeit des Verbots nicht gegeben sein. Bei gefährlicheren Substanzen hat der Gesetzgeber noch einen Beurteilungsspielraum. Das hat er aber bei Cannabis nicht mehr.

Und warum ist es nicht mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar, wenn man Leuten jeglichen Umgang mit Gras verbietet?
Es gibt in Deutschland ein Cannabisverbot, aber kein Alkoholverbot – was ich auch nicht fordere. Aber Cannabiskonsumenten sollten mit Alkohol- und Nikotin-Konsumenten gleichgestellt werden. Jedes Jahr sterben weltweit drei Millionen Menschen an den Folgen von Alkoholkonsum. Durch Cannabis ist noch niemals jemand gestorben. Gewaltdelikte beruhen auf Alkohol, nicht auf Cannabis. Dennoch werden Cannabiskonsumenten ungleich behandelt. Das Cannabisverbot verstößt aber nicht nur gegen diese drei Grundsätze.

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"Anfang der 1970er Jahre hielt man Cannabis für eine unheimlich schlimme Einstiegsdroge. Heute wird die Einstiegsdrogen-These weltweit von keinem Wissenschaftler mehr vertreten, sondern nur noch von dummen Politikern."

Wogegen verstößt es noch?
Gesetze müssen zielorientiert, erforderlich und geeignet sein, staatliches Handeln muss verhältnismäßig sein. Das Ziel des Betäubungsmittelgesetz war, die Verbreitung von Cannabis einzudämmen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht: Die Menschen kiffen trotzdem, das Verbot hat keine Wirkung. Auch das Ziel des Jugendschutzes ist nicht erreicht, da Jugendliche an jeder Ecke und zwar nicht kontrolliertes Cannabis kaufen können. Jugendschutz funktioniert nur bei einer kontrollierten Freigabe. Erforderlich und geeignet ist das Gesetz auch nicht. Man könnte die Verbreitung von Cannabis viel besser durch Prävention und Aufklärung eindämmen. Außerdem ist das Verbot nicht verhältnismäßig. Anfang der 1970er Jahre hielt man Cannabis für eine unheimlich schlimme Einstiegsdroge. Heute wird die Einstiegsdrogen-These weltweit von keinem Wissenschaftler mehr vertreten, sondern nur noch von dummen Politikern. Heute ist Hanf eine der meist untersuchten Substanzen und auch das Bundesverfassungsgericht hat 1994 bereits festgestellt, dass es sich bei Cannabis nicht um eine Einstiegsdroge handelt.

1994 erklärte das Bundesverfassungsgericht aber auch, dass das Cannabisverbot mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Was hat sich seitdem geändert?
Damals hat das Bundesverfassungsgericht bereits verfügt, dass Gerichte künftig bei geringen Mengen Cannabis, die zum Eigenverbrauch bestimmt sind, Verfahren einstellen können. Davon abgesehen, dass das in der Praxis oft nicht geschieht, hat es außerdem gesagt, dass der Gesetzgeber reagieren muss, sollte es neue Erkenntnisse zu Cannabis geben.

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Andreas Müller

"Die deutsche Cannabisszene müsste dann kämpfen. Aber sie kämpft nicht. Sie wartet ab, bis die Leute verurteilt werden."

Und gibt es neue Erkenntnisse?
Ja, natürlich. Kanada, Luxemburg und viele US-amerikanische Bundesstaaten haben Cannabis legalisiert. In Südafrika und Mexiko haben die obersten Gerichte die Verbote jeweils für verfassungswidrig erklärt. Sie haben gesagt, so könnt ihr nicht mehr mit euren Bürgern verfahren. Es gibt viele Drogentote, aber es spielt eine Rolle, dass durch Cannabis eben niemand stirbt. Und es spielt eine Rolle, dass es im Verhältnis zu den legalen Drogen Nikotin und Alkohol eine wesentlich weniger gefährliche Droge ist. Viele Studien belegen das. Aber der Gesetzgeber in Deutschland reagiert nicht. Dabei hat Cannabis in der Bevölkerung längst sein Image als schreckliche Droge verloren. Etwa 50 Prozent der Deutschen sagen, legalisiert doch endlich.

Spielt es bei der Neubewertung des Verbots eine Rolle, dass medizinisches Cannabis seit Anfang 2017 in Apotheken erhältlich ist?
Selbstverständlich. Da hat der Gesetzgeber zum ersten Mal gesagt, so schlimm ist die Substanz überhaupt nicht. Sie kann auch vielen Menschen helfen und zum Beispiel Schmerzen lindern.

"Wer jeden Abend eine Flasche Rotwein trinkt, ist ein guter Bürger. Wer jeden Abend an einem Joint zieht, ist ein schlechter Bürger."

Sie sagen, das Cannabisverbot hat negative Folgen – welche Folgen sind das?
Es sorgt dafür, dass Hunderttausende überwiegend junge Menschen die Achtung vor dem Staat verlieren. Fünf bis zehn Prozent der Deutschen werden pauschal zu Kriminellen gemacht, stigmatisiert, weil sie etwas anderes konsumieren wollen als Alkohol. Im letzten halben Jahrhundert sind über eine halbe Million überwiegend junge Menschen in die Knäste geschickt worden. Es kann enorme Folgen haben, wegen kleiner Cannabisdelikte verurteilt zu werden. Noch zwei Tage nachdem man gekifft hat, kann man in Deutschland seinen Führerschein verlieren. Das ist völlig absurd. Aber auf dem flachen Land einen Führerschein zu verlieren, bedeutet Jobverlust.

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Solange es das Cannabisverbot gibt, können es gewisse Leute für sich nutzen. Die AfD kann dann auf Orte wie den Görlitzer Park in Berlin oder den Kölner Ebertplatz zeigen und sagen, schaut mal wie dort die Schwarzafrikaner unseren deutschen Jugendlichen Cannabis verkaufen. Sie kann den Leuten suggerieren, dass wir eine wahnsinnige Kriminalität haben und sie mit Law and Order hart bekämpfen müssen. Aber wir bekämpfen Konsumenten.

Wann wurde Ihnen bewusst, dass das Cannabisverbot nicht funktioniert?
Ich bin etwa seit meinem zwölften Lebensjahr Aktivist für die Legalisierung von Cannabis. Mein Vater hatte sich totgesoffen und mein älterer Bruder wurde in den Knast gesteckt, weil er kiffte und Cannabis über die holländische Grenze geschmuggelt hatte. In meinem jugendlichen Alter habe ich gesehen, wie Familien zerrissen wurden. Wie Hunderte von Cannabiskonsumenten verfolgt wurden. Das ist noch heute der Fall. Wer jeden Abend eine Flasche Rotwein trinkt, ist ein guter Bürger. Wer jeden Abend an einem Joint zieht, ist ein schlechter Bürger.

Jetzt wollen Sie ein konkretes Normenkontrollverfahren in die Wege leiten, mit einer sogenannten Richtervorlage, die der Hanfverband erarbeiten hat lassen. Was ist das genau?
Die Richtervorlage ist in diesem Fall ein über 100 Seiten starkes Papier, in dem Juristen die Verfassungswidrigkeit des Cannabisverbots dargelegt haben. Richter können damit einen Normenkontrollantrag beim Bundesverfassungsgericht stellen, wenn sie Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes haben, also auch am Cannabisverbot. Sie müssen dann den Antrag sogar stellen, denn sie haben auf die Verfassung geschworen und sind ihr verpflichtet. Weil das eigentlich eine wahnsinnige Arbeit ist, hat der Hanfverband diese Mustervorlage erstellen lassen. Die können die Gerichte in ein paar Tagen an ihren konkreten Fall anpassen und nach Karlsruhe senden. Dann ist besonders wichtig, dass das nicht nur der kleine Richter Müller macht, sondern viele Gerichte.

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Aber auch Kiffende können mit dieser Vorlage etwas bewirken, oder?
Wenn Richter nicht von alleine eine Überprüfung veranlassen und eine Vorlage einreichen, kann man das als Angeklagter unter Verweis auf die Musterklage in jeder Instanz selbst beantragen. Mit der Vorlage kann jeder Angeklagte das Gericht bitten zu prüfen, ob seine Verurteilung nicht gegen die Verfassung verstößt. Aber dazu bedarf es Menschen mit Arsch. Denn wenn sich keine Richter finden, die direkt vorlegen, muss man durch die Instanzen gehen, bis man das Bundesverfassungsgericht direkt anrufen kann. Das darf im Wege einer Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs.1 Nr. 4a GG jedermann. Mit der Richtervorlage braucht man dazu nicht mal einen Anwalt. Man muss sie nur auf seinen Fall anpassen. Und was man noch wissen sollte: In der Berufungs- und Revisionsinstanz darf das Urteil nicht härter ausfallen, sofern die Staatsanwaltschaft nicht ihrerseits eine härtere Verurteilung fordert und in die Berufung gegangen ist. Man braucht also keine Angst zu haben, durch die Instanzen zu gehen.

Legalize

Kein getrocknetes Cannabis, sondern getrocknete Rosen vor einer dekorativen Lampe in Andreas Müllers Wohnzimmer

Angeklagte können die Richtervorlage außerdem vor der Urteilsfindung verlesen. Muss sich ein Gericht dann wirklich über 100 Seiten anhören?
Das Letzte Wort eines Angeklagten hat keine Begrenzung. Man sollte das Gericht aber vorher informieren, damit es genug Zeit zur Verfügung stellen kann. Das gebietet die Höflichkeit.

Würden Sie da als Richter nicht durchdrehen?
Aber natürlich, das letzte Wort des Angeklagten würde dann den gesamten Zeitablauf durcheinanderbringen. Aber das ist kein Grund, um anschließend eine schwerere Strafe zu verhängen. Trotzdem braucht es dazu Leute mit Kraft und Überzeugung. Und die deutsche Cannabisszene müsste dann kämpfen. Aber sie kämpft nicht. Sie wartet ab, bis die Leute verurteilt werden. Die Patienten haben es vorgemacht. Sie haben gekämpft und gewonnen. Aber die Konsumenten konsumieren nur, bis sie selbst irgendwann vor Gericht gezogen werden. Jedes Jahr über Zehntausende von ihnen.

Sie sind 2002 schon mal mit dem gleichen Anliegen vors Bundesverfassungsgericht gezogen und gescheitert. Warum sollte es dieses Mal anders laufen?
Das war eine Zeit, als der Spiegel ein siebenjähriges Mädchen aufs Titelblatt gesetzt und geschrieben hat: "Die Seuche Cannabis: Drogen an Deutschlands Schulen". Inzwischen hat die Gesellschaft nicht nur eine andere Einstellung, sondern auch mehr Wissen. Wenn die acht Leute am Bundesverfassungsgericht tatsächlich die Verfassung achten, werden sie das Cannabisverbot teilweise für die Konsumenten aufheben.

Was wäre aus juristischer Sicht ein vernünftiger Umgang mit Cannabis?
Die kontrollierte Freigabe. Alles, was mit Cannabis zusammenhängt – und es gibt ja Konsumenten, die Probleme haben –, ist Sache von Sozialarbeit und Gesundheitspolitik. Aber nicht von Strafrecht.

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