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Kommentar

Liebe Linke, wir müssen über euer krankes Russland-Bild reden

"Die Souveränität der Ukraine entspricht etwa der Souveränität eines dreijährigen Kindes, in Abhängigkeit von seiner Mama", sagt Alexander Neu – und in mir stirbt etwas.
Alexander Neu und Wladimir Putin vor der Halbinsel Krim
Collage bestehend aus: Alexander Neu: imago | Medi Poppow || Wladimir Putin: imago | ITAR-TASS || Krim: imago | Peter Widmann

Es ist eine traurige Gewissheit unserer Zeit: Auch im vierten Jahr in Folge hält Russland die Halbinsel Krim besetzt und führt Krieg in der Ostukraine. Am Sonntagabend kam es zu einer neuen Eskalation im Asowschen Meer, wo die russische Küstenwache drei ukrainische Schiffe beschoss. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko? Verhängte daraufhin das Kriegsrecht. Die deutsche Bundesregierung? Zeigte sich besorgt. Und die politische Linke hierzulande? Hat einen willkommenen Anlass für eine neue Runde Bullshit-Bingo.

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Anders lässt sich das Interview nicht erklären, das der Linken-Bundestagsabgeordnete Alexander Neu am Montag dem Deutschlandfunk gegeben hat. Neu erklärt darin, "dass beide Seiten an dieser Eskalationsschraube eine gewisse Mitschuld haben". Er relativiert Putins Kriegshandlungen, schließlich betreibe auch der Westen "eine Politik des Rechts des Stärkeren". Er vermute, dass Poroschenko das Kriegsrecht verhängt habe, weil er "Wahlen verschieben" wolle, sagt Neu – und erklärt zum Schluss: "Die Souveränität der Ukraine entspricht etwa der Souveränität eines dreijährigen Kindes, in Abhängigkeit von seiner Mama."

Mich machen solche Äußerungen fassungslos. 2013 sabotiert Russland Bürgerproteste des Euromaidans. Im März 2014 besetzen russische Soldaten völkerrechtswidrig die Krim, per Referendum wird die Halbinsel zu russischem Staatsgebiet. In den kommenden Jahren sterben mehrere Tausend Menschen bei Gefechten zwischen Ukrainern auf der einen Seite und Separatisten und russischen Militärs auf der anderen. 2018 blockiert Russland dann eine strategisch wichtige Meerenge zu ukrainischen Häfen und kapert ukrainische Schiffe.

Das alles geschieht an der östlichen Grenze Europas, in unserer unmittelbaren Nähe, und für den Linken-Politiker Neu ist das Grund genug, sich hinter Präsident Wladimir Putin zu stellen. Östlich von Görlitz kann gar nicht so viel Soljanka gekocht werden, wie ich kotzen möchte.

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Die Ukraine hat ein Recht auf Selbstbestimmung

Meine Familie stammt aus Polen. Meine Eltern sind in einer Zeit geboren, in der man heißen Tee in Zügen aus dem Samowar trank, im Klassenzimmer glänzende Stalin-Büsten anglotzte und amerikanische Levi's-Jeans ausschließlich in amerikanischen Pewex-Geschäften kaufte. In den 1960er Jahren war Polen als Teil des Warschauer Pakts eine von Moskau kontrollierte Diktatur, totalitär und traurig, kommunistisch und komisch.

Für meine Familie war der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und später der Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 ein Glücksfall. Weil meine Eltern sich wie Millionen anderer Polen nach Freiheit, Demokratie, wirtschaftlichem Wohlstand sehnten – die ehemalige UdSSR mitsamt ihrer Satellitenstaaten aber einem repressiven, planwirtschaftlichen Unrechtsstaat glich, in dem Menschen Schallplatten aus dem Westen schmuggeln mussten und es gerne mal mehrere Wochen dauerte, bis sie Tomaten und Orangen im Supermarkt kaufen konnten.

Dass in Polen heute Wohlstand herrscht, liegt daran, dass das Land mit dem Kommunismus gebrochen hat, sich zur Europäischen Union bekannte, eine funktionierende Demokratie aufbaute und nationale Souveränität entwickelte. Auch der Kapitalismus, so problematisch manche Auswüchse heute sind, war sicherlich ein Mitgrund für Polens Aufstieg. Das Land hat das geschafft, was Russland nach dem Zerfall der UdSSR versäumt hatte: sich zu modernisieren.

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So oder so ähnlich erging es auch Tschechien, Litauen, Lettland, Estland. Und in gewissem Maße eben der Ukraine. Im Gegensatz zu den anderen Ländern war die Ukraine aber nicht Teil der EU-Osterweiterung 2004. Doch ändert das etwas? Geografisch mag die Ukraine das "Brückenland zwischen Westen und Russland" sein (wie Alexander Neu behauptet) – doch die Bürgerinnen und Bürger haben ebenso das Recht, sich für Westbindung, Volkssouveränität und gegen russische Fremdherrschaft auszusprechen. Sie leben seit nunmehr vier Jahren in einem Staatsgebiet, deren Osten Schauplatz von Kriegshandlungen ist und deren Westen es jederzeit werden kann.

Und Russland? Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim feiert der russische Präsident als "Wiedervereinigung", wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, Journalistinnen zu gängeln oder Oppositionspolitiker zu inhaftieren.

Ein Interview, das Wladimir Putin innerlich erröten lässt

Und damit sind wir bei der Linken. Meine Sympathie für die politische Linke leitete sich immer daraus ab, dass sie sich auf die Seite der Schwachen geschlagen hat. Ob Arbeitnehmerinnen, Alleinerziehende, Geflüchtete oder Hartz IV-Empfänger: Linke zeigten sich immer mit denjenigen solidarisch, die unter Krieg, Armut und Misswirtschaft litten. Nur im Fall Russlands tut sich die Linkspartei mit Solidarität für Schwache schwer.

Neu steht mit seiner Meinung nämlich nicht alleine da. Sahra Wagenknecht war sich nicht zu schade, beim Propagandasender RT Deutsch Angela Merkel als "folgsame Anhängerin" Amerikas zu bezeichnen. Auf dem Parteitag 2017 lehnte die Linkspartei einen Antrag ab, wonach die Krim-Annexion und Menschenrechtsverletzungen in Russland verurteilenswert seien. Und 2017 fanden 31 Prozent der Unterstützenden der Linkspartei Wladimir Putin vertrauenswürdiger als Angela Merkel, nur AfD-Wähler (30 Prozent) kamen auf einen ähnlich hohen Wert. Es scheint, als habe die Linkspartei mehr Mitglieder, die sich zu jedem Anlass mit Wladimir Putin verbrüdern, als Dieter Dehm mittelmäßige Musikkompositionen in seiner Diskographie.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine Art verklärende Ostalgie zählt ebenso dazu wie der bis heute vorherrschende Glauben unter vielen Linken, Sozialismus und Kommunismus seien in irgendeiner Art und Weise vorteilhaft für die Menschheit. Es scheint mir aber sowohl holzköpfig als auch unglaubwürdig, den "Imperialismus" Israels, den türkischen "Terrorpaten" oder – um es mit den Worten Alexander Neus zu sagen – die Nato als "Instrument externer Macht" anzuprangern, wenn man es gleichzeitig nicht schafft, autoritäre Regierungen wie Putins Regime als das zu bezeichnen, was sie sind: menschenverachtend, illiberal und verabscheuungswürdig.

Solange Alexander Neu und andere Politiker Interviews geben, die Wladimir Putin vor innerlicher Freude erröten lassen dürften, kann ich die Linkspartei nicht ernstnehmen. Und solange dass der Fall ist, bin ich übrigens ganz froh, dass Polen der Nato beigetreten ist.

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