Menschen

Castingshows haben meine Kindheit gerettet

Danke an Detlef D! Soost, den gefühlvollen, ostdeutschen 'Popstars'-Juror, der zufällig auch aussah, als könnte er mein großer Bruder sein.
Zwei Fotos vom Autor,  links ein aktuelles, rechts aus seiner Kindheit
Fotos: privat

Ich bin 9 Jahre alt und es ist DSDS-Zeit. Meine Mama hat Apfelstücke geschnitten und auf einem Teller drapiert. Sie bringt ihn gerade, um ihn auf unseren Fliesentisch im Wohnzimmer neben eine Schüssel Bizr zu stellen, Sonnenblumenkerne von unserem letzten Besuch in Palästina. Als sie am Fernseher vorbeigeht, versperrt sie mir kurz die Sicht.

"Mama, gleich fliegt jemand aus der Mottoshow! Geh weg! Ich will das sehen!", schreit mein 9-jähriges Ich.

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Es liegt Spannung in der Luft, denn die DSDS-Wackelkandidatin Vanessa Struhler (eine asiatischstämmige Oberhausenerin) ist schon zum fünften Mal ganz kurz vorm Rausfliegen. In den letzten Live-Shows von Deutschland sucht den Superstar musste sie immer bis zum Schluss zittern, ob Michelle Hunziker ihren Namen aufruft.

Mein nigerianischer Vater raunt inbrünstig: "That Filipino girl will go. She will go. I feel it, they will eliminate her this time, believe me! Dieter cannot save her again." DSDS guckt er sogar lieber als CNN und das heißt bei afrikanischen Vätern eine Menge.

Mein kleiner Bruder sitzt im Pyjama eingekuschelt in einem Couch-Sessel und tippt frenetisch auf seinen Gameboy. Aber immer wieder schaut er nach oben, low key will er das Spektakel nicht verpassen.


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An diesem Samstag soll mein Vater, selbsterklärter Popkultur-Experte, Recht behalten: Dieters "Knutschkugel", das war Vanessas Spitzname, muss sich gegen Daniel Küblböck geschlagen geben. Sie scheidet wacker als Viertplatzierte aus. Mit ihr ist die letzte Person of Color – damals hätte ich wohl unbeholfen "Ausländerin" gesagt – ausgeschieden.

Auch wenn sie nicht besonders gut gesungen hat, habe ich mich immer besonders gefreut, wenn Vanessa eine Runde weiter kam. Ich konnte mich in ihr wiedersehen, denn sie hatte, wie ich, einen "multikulturellen Hintergrund". Heute glaube ich: Genau deshalb haben Castingshows mich und meine ganze Familie so magisch angezogen

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Die Menschen im Fernsehen waren wie die Leute aus meinem Viertel: Migranten und Arbeiterinnen. Hauptsächlich in diesen Shows sah ich, was sonst im Fernsehen fehlte: junge coole Menschen, die Deutsch sprechen und vietnamesische, albanische oder ghanaische Namen tragen.

Die Preluders-Sängerinnen Anh-Thu Doan und Miriam Cani oder der DSDS-Kandidat Collins Owusu erinnerten mich an die Kids von meinem Bolzplatz. Ihren Geschichten zu folgen, war selbstverständlich. Detlef D! Soost, der ostdeutsche, gefühlvolle Juror von Popstars, sah zufällig aus, als könnte er mein großer Bruder sein. Damals habe mir nie groß Gedanken darüber gemacht, wie ungewöhnlich ihre Fernsehpräsenz eigentlich war.

Die Band Bro'Sis mit dem Tanztrainer und Moderator Detlef D! Soost

Musikproduzent Uwe Fahrenkrog-Petersen, Bro'Sis-Sängerin Hila Bronstein, Sabrina Setlur und Detlef D! Soost | Foto: imago images / Hoffmann

Castingshows haben mich in einer Art Happyland leben lassen und mir das Gefühl gegeben, in einer kulturell offenen Gesellschaft groß zu werden, wo wir alle vorkommen und mitreden können. Den Realitätsschock bekam ich erst, nachdem ich studiert hatte und mich beruflich gegen die Entertainer-Karriere à la Mola Adebisi, Ricky Harris oder Daniel Aminati entschied.

Lange hatte ich gedacht, als Schwarzer Mann in den Medien gäbe es keinen anderen Platz für mich. Angekommen in der akademischen Bubble realisierte ich, wie wenig Respekt bildungsbürgerliche Menschen für diese Art Unterhaltung übrig haben. Zugegeben: An Castingshows gibt es einiges zu kritisieren. Sie sind oft super rassistisch, arbeiten mit doofen Klischees und beuten junge Menschen aus.

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Ich selbst war 2010 Kandidat bei DSDS und unter meinen Einspieler wurden ernsthaft Pistolenschüsse und Gangster-Musik gelegt – weil klar: Schwarzer, männlicher Teenager. Rosalie Kitangie, die 2010 bei Popstars war, hat ein ähnliches, rassistisches Framing erlebt. In einem ProSieben-Beitrag wird sie als "freches Ghetto-Girl" bezeichnet. WTF?

Ein weiterer Kritikpunkt: Oft scheinen Menschen of Color oder auch queere Menschen für die Castingshow-Produzenten einfach nur Deko zu sein, um "internationaler" rüberzukommen. Die meisten Acts singen auf Englisch und waren als Pendants zu US-Stars gedacht. Etwa sollten Bro'Sis die deutschen Fugees werden. Trotzdem: Das Empowerment und den Spaß in meiner Kindheit kann mir keiner nehmen. Und wenn überhaupt sind die Macher zu kritisieren – nicht die Kandidatinnen und Kandidaten.

Senna Gammour aus der fünften Staffel Popstars war absolutes Fernseh-Gold und ich werde wohl nichts so krass fühlen wie die Girlgroup Bisou (Eliana D’Ippolito, Elvira Michieva und Kristina Neuwert) mit ihrem unvergesslichen Song "Die Erste Träne".

Die Castingshow-Kandidatinnen und -Kandidaten waren – und sind – große Ikonen für mich. Und weil Black History Month ist, der Monat, in dem wir Schwarze Menschen und ihre Geschichten feiern, möchte ich meinen Favoritinnen und Favoriten huldigen und danken, den fünf unvergesslichsten, Schwarzen Castingshow-Acts:

Nadja Benaissa & Jessica Wahls (Popstars, Staffel 1) waren Teil der erfolgreichsten Girlgroup Deutschlands. Nadja hatte eine tolle, warme, markante Stimme, Jessica einfach eine sweete Persönlichkeit. Die No Angels sind aber ohnehin in ihrer Gesamtheit einfach fantastisch.

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Sie war larger than life, super laut und bunt: Lorielle London (damals Lorenzo Woodard aus DSDS, Staffel 2). Als eine der allerersten Schwarzen Transpersonen in der Öffentlichkeit hatte sie es krass schwer. Ich bewundere ihre Stärke und dafür, dass sie uns früh aufgeklärt hat über Trans-Realitäten.

Francisca Urio (DSDS, Staffel 4) war stets elegant und classy und hat jede Woche in den Mottoshows ihre Konkurrenz an die Wand gesungen mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht.

Diese dominikanische Göttin Enyerlina Sanchez (GNTM, Staffel 2) ist verantwortlich für den legendären Satz "Hier ist eine Competition! Und du musst arbeiten sehr hart! Ich bin hier, um das zu machen." Eine goldene Fernseh-Stunde.

Der ghanaische Bruder Eugene "U-Gin" Boateng (DanceStar, Staffel 1) fiel mir in der VIVA-Sendung von Detlef D! Soost direkt auf. U-Gin wurde danach selbst Tanzcoach, heute ist er erfolgreicher Schauspieler und war 2019 sogar für den Deutschen Schauspielpreis nominiert.

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