Wie afrikanische Traumwurzeln dein Unterbewusstsein anzapfen
Foto: Brandon Satterwhite | Flickr | CC BY 2.0

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Wie afrikanische Traumwurzeln dein Unterbewusstsein anzapfen

Weil er nicht träumen kann, experimentiert ein Berliner Chemiestudent mit einer Pflanze, die er im Internet bestellt. Mit ungeahnten Folgen.

„Ich hatte das Gefühl, dass alle um mich herum ein zweites Seelenleben haben, nur ich nicht", sagt Simon und faltet die Hände. Der 29-jährige Chemiestudent rückt das Lederarmband an seinem Handgelenk zurecht. „Träumen war immer etwas, von dem andere mir erzählt haben, immer nach dem Motto: ‚Hey, weißt du, was ich gestern geträumt habe?' Wenn ich morgens aufwache, ist mein Kopf ganz leer." Fliegen über Hochhäuser, Sex mit Angelina Jolie in einem Raumschiff auf einem Fußballfeld, Autorennen mit Terroristen-auf-der-Flucht-vor-Angelina Jolie—Simon hat noch nie solche Episoden auf dem heimischen Kopfkissen erlebt. „Da fehlt mir doch was, das ist doch scheiße."

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Versucht hatte er schon einiges: nur Rohkost vor dem Einschlafen, stimulierende Musik, viel Alkohol, wenig Alkohol, kein Alkohol. Viel Cannabis, wenig Cannabis, kein Cannabis, Yoga-Stretches und Meditation. Auch das Trainieren der Wachphasen, die Wake-up-Back-to-Bed-Strategie, wollte keine Wirkung zeigen. Damit man sich nämlich an die nächtlichen Bilder erinnert, muss das Gehirn ausreichend „Wachphasen" aufweisen. Neurowissenschaftler vom Lyon Neuroscience Research Center in Frankreich haben herausgefunden, dass Menschen, die nachts seltener aufwachen, in der Regel ihre Träume schlechter „archivieren", ergo erinnern können. „Gute Erinnerer" zeigten stärkere Aktivitäten im medialen präfrontalen Cortex und in einem Knotenpunkt zwischen Temporal- und Parietallappen. Knoten und Lappen, hin oder her, es funktionierte nicht. „Ich wurde einfach nur immer müder", erzählt Simon. „Es geht mir gar nicht um den ultimativen Rausch, den kann ich auch im Wachzustand haben. Ich will nur einmal mein Unterbewusstsein, diesen anderen Teil von mir, ganz direkt erleben."

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Dem Studenten gingen die Optionen aus. Bis er in einem Forum auf den ominösen Namen Silene Undulata stieß. Afrikanische Traumwurzel. Das unscheinbare Kraut mit weißen Blüten wird vom südafrikanischen Xhosa-Stamm als heilig betrachtet und dem Schamanen für prophetischen Schlaf verabreicht. Als sogenannte oneirogene Pflanze gehört die afrikanische Traumwurzel wie auch das mexikanische Traumkraut zu einer ganzen Reihe bisher fast unerforschter Gewächse, die das wilde Träumen potenziell unterstützen können. In indigenen Gesellschaften werden die Kräuter den Medizinmännern verabreicht, um mit den Ahnen und Geistern in Kontakt zu treten.

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Foto: Ryan Haran | Flickr | CC BY-ND 2.0

Das klang ziemlich dubios und auch Simons Chemie-Studienkollegen wussten mit der Pflanze nichts anzufangen. „Die meisten hatten noch nie von oneirogenen Substanzen gehört und es hat sie auch nicht interessiert." Nicht-westliche Heilungsansätze würden so gut wie nie in seiner Lehre eingebunden, erzählt Simon und zeigt sich frustriert. Trotzdem wollte er der Sache eine Chance geben und bestellte Samen und Pflanze im Internet.

Die braune, unscheinbare Wurzel zerkleinerte, raspelte, stampfte, rührte er und trank sie morgens im Tee. Die Inhaltsstoffe brauchen Zeit, um sich im System auszubreiten; die Wartezeit ist lang. „Ich habe eigentlich gedacht, es hätte nicht funktioniert", erklärt der Berliner. Auch in der ersten Nacht passierte nichts Außergewöhnliches. Er war enttäuscht, mal wieder. „Aber am nächsten Tag ging's los. Alle Eindrücke erhielten eine neue Qualität." Die Gesichter der Menschen gewannen an Tiefe, die Welt war mehr Formen, Farbe und Intention als lediglich Objekte. „Ein Zustand, der schwer zu beschreiben ist. Nicht psychedelisch oder halluzinogen. Eher so, als würde ich wachträumen." Plötzlich sei es ihm gar nicht mehr so wichtig gewesen, sich nachts in ganz neuen Sphären zu bewegen. „Das war eigentlich viel besser. Ich träumte am Tag, ich träumte den Tag".

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„Um Träume richtig zu erleben und zu verstehen, ist es generell richtig, sich Kulturen zuzuwenden, bei denen das Träumen noch immer eine wichtige Rolle spielt", sagt Dr. Brigitte Holzinger vom Wiener Institut für Bewusstseins- und Traumforschung. „Ob nun bei den Aborigines, im tibetanischen Buddhismus oder Schamanismus—überall ist der Traum Herzstück des Glaubens." Im Rahmen ihrer jahrzehntelangen Forschung hat sich die Wissenschaftlerin auch mit afrikanischen Schamanen über die rätselhaften Gestrüppe unterhalten: „Im Westen werden sie oft als Verstärker des luziden Träumens angepriesen. Ich glaube aber, dass es da ein Verständnisproblem gibt. Es handelt sich in diesen Kulturen nicht unbedingt um das Klarträumen, sondern bereits der ganz normale Traum an sich wird als prophetisch und magisch betrachtet." Das Träumen sei für jeden Menschen eine absolut essentielle Erfahrung und trage eindeutig zur Selbstheilung bei, so die Forscherin. Bei traumanregenden Substanzen wäre jedoch Vorsicht geboten. Vor dem Simon'schen Selbstversuch warnt sie: „Der Traum ist eine sehr potente Erfahrung. Man sollte nicht leichtfertig in der Seele herumfuhrwerken."

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Ob pflanzliche Substanzen den Traumvorgang auf wertvolle Weise unterstützen können? Auch der Chemiker Jochen Gartz ist eher skeptisch. In DDR-Zeiten hat sich der Forscher mit den chemischen Substanzen der Magic Mushrooms und Salvia Divinorum beschäftigt. Es sei durchaus möglich, dass psychedelische Substanzen anregend wirken und dabei helfen können, die Traumbilder länger im Gedächtnis zu behalten, allerdings: „Natürlich können sie die Psyche auflockern. Träume können lebendiger werden. Aber noch gibt es keine empirischen Studien über die genaue Wirkung dieser Traumkräuter. Deswegen ist der Gebrauch meiner Meinung nach noch sehr unberechenbar." In der westlichen Kultur fehle außerdem die Tradition, mit solchen Substanzen richtig umzugehen. Der aktuelle Ayahuasca-Trend, der Vipassana- und Meditation Hype—all das seien Zeichen, dass der Wunsch nach spiritueller Erfahrung in unserem Kulturraum wieder wächst. Man müsse aber behutsam vorgehen, so Gartz, und nicht nach westlicher Manier wieder alles sofort wollen.

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Holzinger freut sich darüber, dass sich sowohl Wissenschaft als auch Gesellschaft alternativen Ansätzen wieder öffnen: „In den 1980ern war die Wissenschaft des Traums noch eine kontroverse Nische, die nicht registriert und boykottiert wurde. Klarträumen war kaum jemanden ein Begriff. Heute ist es ein regelrechter Hype." Zu Anfang ihrer Schaffenszeit habe sie sich immer Schlafforscherin statt Traumforscherin nennen müssen, bloß keine Esoterik, bloß medizinisch bleiben. Der Traum sei zu einem puren Mechanismus der Stressbewältigung verkommen, erzählt die Wienerin. Schuld daran sei vor allem Sigmund Freud. Den magischen Charakter habe der Traum bei uns verloren. Dabei ist er doch Vorbote des Unglücks, nächtliche Halluzination, Bild Salvador Dalis, Form des Wahnsinns. Bei Shakespeare prophezeit die gescheite Calpurnia im Schlaf den Tod Caesars. In der babylonischer Kultur wurden die Träume in einer Traumhauch-Hütte gefangen. Beim tibetischen Traumyoga (ja, so heißt es wirklich) ist der Traum integraler Bestandteil des Lebens und einer der Wege zur Erleuchtung. Und auch den christlichen Propheten erschien durchaus der ein oder andere Engel.

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„Mir sind nun keine Engel erschienen, aber ich stehe ja auch erst am Anfang", sagt Simon, der mit seinen Erfahrungen überaus glücklich ist. Zum ersten Mal hat er einen Einblick in sein Unterbewusstsein bekommen, glaubt er—deswegen will er die Traumwurzel trotz möglicher Risiken nicht aufgeben. Nur weil es noch keine empirischen Daten gebe, hieße das nicht, dass es sich bei der Wurzel um keine wertvolle Substanz handelt, findet der Student: „Vielleicht ist es meine Aufgabe, diese empirischen Daten bereitzustellen?" Als angehender Chemiker sieht Simon sich in der Position, dem Rätsel weiter nachzugehen. Sollte seine Ausbildung es zulassen, würde er diesen Weg gerne weiter beschreiten.

Von psychedelischer Therapie bis zum luziden Träumen oder der medizinischen Therapie mit Frequenzen—die Wissenschaft biete mittlerweile viele Möglichkeiten, sich interdisziplinär mit alternativen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Auch Dr. Holzinger würde sich gerne eingehender mit diesen Pflanzen beschäftigen: „Es ist noch ein rätselhaftes Feld, das man erkunden muss und über das es bisher wenig Literatur gibt. Wenn ich eine Förderung finden würde, würde ich liebend gern an der afrikanischen Traumwurzel forschen." Das alles brauche einfach seine Zeit, meint der Chemiker Gartz. Psychedelische Substanzen seien nach der Hippie-Revolution gesellschaftlich tabuisiert und verteufelt worden, erst ganz langsam erlebe die Forschung mit pflanzlichen und halluzinogenen Substanzen eine Renaissance: „Die Medizin bewegt sich immer in Wellen. Die Kritiker sterben weg, die Enkel machen's wieder." Auch Traumforschung werde davon profitieren.

„Wenn ich mit dem Studium fertig bin, ist es vielleicht soweit und ich werde mich nicht mehr in einer Außenseiterposition befinden", hofft Simon. Bis dahin wolle er sich privat weiter schulen. Im nächsten Jahr plant er einen Vipassana-Aufenthalt: „Zehn Tage lang schweigen, meditieren und dünne Suppe. Wenn das mein Unterbewusstsein nicht öffnet—was dann?"


Titelfoto: Brandon Satterwhite | Flickr | CC BY 2.0