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Wie zwei verurteilte Straftäter Marihuana in Philadelphia entkriminalisiert haben

Es hat zwei Jahre gedauert, aber diese beiden Potheads haben es geschafft, den sturen Bürgermeister umzustimmen.
T. Kid
von T. Kid

Nikki Allen Poe und Chris Goldstein bei einer ihrer berühmten „Smoke Down“-Demonstrationen. Foto: Kimmie Christie

Gerade erst haben sich Aktivisten und Journalisten in Philadelphias Rathaus versammelt, um bei der Entkriminalisierung von Marihuana dabei zu sein. Bevor Bürgermeister Michael Nutter jedoch seinen Servus unter den Gesetzesentwurf setzte und ihn damit offiziell machte, hielt er noch eine Rede, um seine Beweggründe zu erklären.

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„Wir hoffen, dass wir durch die Entkriminalisierung von Marihuana in Philadelphia damit beginnen können, den Bürgern eine Last von den Schultern zu nehmen, die sich sonst an die Gesetze halten und ein produktives Leben führen wollen“, sagte er.

Befürworter der Legalisierung konnten ihre Begeisterung über den drastischen Sinneswandel kaum verbergen. Erst vor zwei Monaten hatte Nutter noch gegen die Aussicht der Entkriminalisierung gewettert. Aber was—oder besser gesagt: wer—bewirkte bei ihm diesen Sinneswandel?

Nutter zollte Stadtrat Jim Kenney Respekt und dankte ihm dafür, dass er „einen der bedeutendsten Beiträge zur öffentlichen Ordnung und zur Gesetzgebung der Stadt Philadelphia geleistet hat.“ Kenney nahm das Kompliment mit einem nüchternen und fast nicht wahrnehmbaren Nicken zur Kenntnis und blickte dann in die Richtung der beiden Männer, die neben mir und den anderen Vertretern der Presse saßen.

Die im Rathaus Anwesenden kannten die Beiden gut. Nikki Allen Poe und Chris Goldstein haben sich als örtliche Pro-Marihuana-Aufrührer einen Namen gemacht. Beide sind zur Zeit auf Bewährung, weil sie Hunderte Kiffer im Zuge einer aufflammenden Demonstration zur Independence Mall geführt haben. Was die Pressevertreter nicht wussten oder zumindest nicht anerkannten, war die Tatsache, dass diese zwei Radikalen den politischen Prozess zur Entkriminalisierung von Marihuana in Philly in Gang gebracht haben. Nur wegen ihnen waren wir jetzt hier. Als die beiden gewählten Anzugträger Nutter und Kenney von den Kamerablitzen geblendet wurden, gaben sich Poe und Goldstein jubelnd einen Handschlag.

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„Absolut geil, Mann“, sagte Poe zu Goldstein und rief dann ein „Vielen Dank, Herr Bürgermeister!“ in Nutters Richtung. Kurz danach drehte er sich zu mir und flüsterte: „Es ist total surreal, diesen ganzen Scheiß auf den Tisch zu bringen und ihn dann aus dem Mund eines Politikers zu hören.“

Poe und Goldstein sind ein ungleiches Paar. Wenn man sie miteinander vergleicht, dann würde man den Anzug und Lackschuhe tragenden Goldstein als den Seriösen und Poe mit seiner Baseball-Mütze und den unter seinem Shirt hervorschauenden Tätowierungen als den Draufgänger einschätzen. Und die Klischees bewahrheiten sich: Goldstein ist der Co-Vorsitzende des Philadelphia-Ortsverbandes der National Organization for the Reform of Marijuana Laws und Poe ist ein Comedian, hat sich scherzhaft für den Stadtrat aufstellen lassen und moderiert einen Verschwörungstheorie-Podcast namens The Panic Hour.

Die Beiden haben sich 2011 während Occupy Philadelphia getroffen: Beim Zelten vor dem Rathaus wurde im Beisein mehrerer Joints Freundschaft geschlossen. Nachdem die Bewegung wieder in der Versenkung verschwand und die Reformierung der Marihuana-Gesetze 2012 ein ganz heißes Thema wurde (in diesem Jahr legalisierte man in Colorado und Washington den freizeitlichen Graskonsum), konzentrierten sich Poe und Goldstein voll und ganz auf ihre illegale Lieblingspflanze. Am 2. Oktober 2012 rauchten Goldstein und ein anderer Aktivist einen Joint auf der Independence Mall, um den 75. Jahrestag der ersten Festnahme wegen Marihuana-Besitz zu feiern. Das Ganze schuf die Basis für sein nächstes großes Projekt.

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„An diesem Tag kam ich nach Hause und Poe meinte, dass wir alles viel größer aufziehen müssen“, erzählte mir Goldstein.

„Smoke Down Prohibition“ war geboren. Für die erste Versammlung im Dezember 2012 trafen sich Poe und Goldstein mit ungefähr hundert Leuten, um sich gleichzeitig auf der Independence Mall um 4:20 Uhr einen Joint anzuzünden. Einen Monat später war die Menge beim zweiten Mal schon größer; beim dritten Mal das gleiche Spiel. Die vierte Demonstration fand am 20. April 2013 statt (dem internationalen Pot-Feiertag). Inzwischen waren es fast 600 Smoke-Down-Teilnehmer, die zusammen einen durchzogen—und das nur einen Katzensprung von dem Ort entfernt, wo die Gründungsväter der USA die Verfassung aufgesetzt hatten. Diese Zusammenkunft zog zwar mehr Aufmerksamkeit auf sich, aber Poe und Goldstein waren noch nicht satt.

„Wir wussten, dass wir gegen das Gesetz verstoßen“, sagte Goldstein. „Wir haben nicht erwartet, dass die Aufseher uns Ärger machen. Wir sind immer nur eine Stunde geblieben und sind dann gegangen. Wir haben immer aufgeräumt und auch immer die ‚Free Speech‘-Zone genutzt.“

Aber ihre guten Manieren wurden nicht berücksichtigt. Die Behörden sahen die wachsende Beliebtheit eher als Bedrohung. Am 18. Mai führte Poe (Goldstein befand sich im Urlaub bei seiner Familie) beim darauffolgenden Smoke Down die Menge zur Independence Mall, wo ein massives Polizeiaufgebot auf sie wartete. Poe wurde vom libertären Aktivisten Adam Kokesh begleitet und zog die Demonstration wie geplant durch. Die Polizei ging die Menge sofort an und begann damit, Demonstranten festzunehmen. Sowohl Poe als auch Kokesh wurden verhaftet und wegen Marihuana-Besitzes angeklagt. Die Independence Mall ist Teil des Independence National Historical Park und damit ein bundesstaatliches Grundstück. Deshalb wurde Poe auch nach bundesstaatlichem Recht wegen Besitz von Marihuana angeklagt. Er verbrachte fünf Tage im Gefängnis, bevor er wieder freigelassen und ihm der Prozess gemacht wurde.

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Goldstein kam zurück und entschied sich dazu, die Demonstrationen fortzusetzen. Die Behörden verstärkten ihre Präsenz jedoch immer weiter.

„Bis zum Verbot unserer Smoke Downs war mir nie klar, dass das Wachpersonal der Anlage Kampfausrüstung besitzt“, erzählte er mir.

Dieses Mal waren aber nicht nur das Wachpersonal und die Polizei von Philadelphia anwesend. An deren Seite standen auch Beamten des Heimatschutzministeriums, der Federal Protection Services, der Aufsicht der öffentlichen Verkehrsmittel und sogar des US Fish and Wildlife Services. Goldstein wurde verhaftet und nach bundesstaatlichem Recht wegen Drogenbesitz angeklagt.

Poe kam mit einem Jahr und Goldstein mit zwei Jahren Bewährung davon. Beide mussten jedoch auch eine Geldstrafe zahlen. Poe hatte ja schon fünf Tage im Gefängnis verbracht—er musste dementsprechend weniger tief in die Tasche greifen. Goldstein erwischte es hingegen voll: Entweder er zahlt innerhalb von 30 Tagen 3000 Dollar oder er wandert in den Knast. Die Beiden bezahlten ihre Strafe und sind heute noch auf Bewährung.

Goldstein, Poe und andere Aktivisten am Tag von Poes Urteilsverkündung.

Aufgrund ihrer Auseinandersetzungen mit den Behörden begannen die zwei Männer damit, sich rechtmäßigere Wege zur Legalisierung von Marihuana zu überlegen. Man versuchte jetzt nicht mehr, das dystopische Gebilde der bundesstaatlichen Gesetze zu verändern, sondern konzentrierte sich auf die örtlichen Marihuana-Vorschriften. Goldstein versuchte, die Polizei von Philadelphia davon zu überzeugen, diese Vorschriften zu ändern. Das war auch begründet durch den großen Rassenunterschied bei den Festnahmen in Philadelphia: 83 Prozent derer, denen 2013 wegen Marihuana-Besitz Handschellen angelegt wurden, waren schwarz—damit wurde auch der landesweite Trend widergespiegelt. Poe ließ sich zur Wahl für einen Sitz im Stadtrat aufstellen. Sein Wahlprogramm bestand dabei aus der Entkriminalisierung von Marihuana, der Auflösung der berüchtigten Philadelphia Parking Authority und der Umbenennung einer Straße nach Allen Iverson, dem ehemaligen Star der Philadelphia 76ers.

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Nichts davon zeigte große Wirkung. Poe und Goldstein waren nur zwei Typen mit einer guten Idee, aber ohne rechte Mittel zur Verwirklichung. Sie mussten sich an jemanden aus der Stadtverwaltung wenden. Aber wer würde schon zwei verurteilten Verbrechern mit einer Vorliebe fürs Kiffen in der Öffentlichkeit zuhören?

Dank einer Mischung aus Glück, gutem Zureden und einem Hinweis der Veranstalterin Anne Gemmell kamen Poe und Goldstein zu einem Termin mit Stadtrat Kenney, einem Verfechter von LGBT-Rechten und wahrscheinlicher Bürgermeisterkandidat für 2015. Goldstein klärte den Politiker über die Fakten auf: Wegen des Besitzes geringer Mengen Gras werden normalerweise Schwarze verhaftet, jährlich wendet die Polizei gut 17.000 Arbeitsstunden für Marihuana-Straftaten auf und die Bearbeitung dieser Festnahmen kostet pro Jahr 7 Millionen Dollar. Des Weiteren könnte eine Entkriminalisierung dazu beitragen, die angespannte Beziehung zwischen der Polizei und den schwarzen Bürgern Philadelphias wieder zu verbessern.

Kenney fand diese Argumente überzeugend und wollte nun auch die Gesetze ändern. In Zusammenarbeit mit Poe und Goldstein arbeiteten er und seine Angestellten an einem Gesetzesentwurf, der die Festnahme-Häufigkeit ausreichend verringern würde—der Besitz von bis zu 30 Gramm Gras wird nur noch mit einem Bußgeld von 25 Dollar bestraft. Das Ganze fand im Stadtrat schnell viel Anklang. Kenney bat auch Bürgermeister Nutter um Unterstützung. Im Juli schrieb er ihm einen offenen Brief und drängte ihn dazu, den Gesetzesentwurf zu unterschreiben. Nutter antwortete darauf mit Hilfe der Presse und sagte: „Es ist eine Beleidigung für die afroamerikanischen Bürger, dass es bei dieser ganzen Diskussion vor allem darum geht, ob Schwarze genau so viel Gras rauchen können wie Weiße.“

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Diese verblüffende Übervereinfachung der Rassenunterschiede bei Marihuana-Festnahmen sollte Nutter bald bereuen. Im September hatte sich sein Meinung um 180 Grad gewendet, was darauf hindeutete, dass er und Kenney sich geeinigt hatten. „Wir wollen sicherstellen, dass die Bestrafung für den Konsum und Besitz von geringen Mengen Marihuanas im Verhältnis zur Schwere der Straftat steht. Dazu werden wir den Polizeibeamten von Philadelphia die nötigen Mittel geben, um die Gesundheit und das Wohlbefinden aller Bürger der Stadt zu schützen“, sagte Nutter im Beisein von Kenney zu den Journalisten. Seitdem haben die beiden die gleichen Ansichten bezüglich dem Thema. Diese Ansichten wurden wiederum von Poe und Goldstein beeinflusst.

Aber was verursachte Nutters Umdenken? Goldstein vermutet, dass die Geschehnisse in Ferguson die fragwürdigen Vorgehensweisen der Polizei und die Rassenprobleme in den ganzen USA zum Vorschein brachten. Das führte dazu, dass Nutter und Philadelphias Polizeichef die Rassenunterschiede ihrer Stadt genauer unter die Lupe nahmen. Kenney glaubt, dass Nutter einfach nur den Schlagabtausch beenden wollte: „Ich denke, dass er einfach lieber Nägel mit Köpfen gemacht hat, anstatt noch weiter gegen das Ganze anzukämpfen.“

Der politische Berater Larry Ceisler glaubt, dass alles Pragmatismus war. „Nutter bleibt noch eineinhalb Jahre im Amt und muss noch einen weiteren Haushaltsplan erstellen“, erzählte er mir. „Die Stadt Philadelphia steht zur Zeit vor mehreren größeren Herausforderungen als die Entkriminalisierung von Marihuana. Ich würde sagen, dass der Bürgermeister das Gesamtbild betrachtet hat.“ Ich bat Nutters Büro um eine Stellungnahme, bekam aber keine Antwort.

Vor der Unterzeichnung des Gesetzesentwurfs änderte Nutter ihn noch ab: Das öffentliche Rauchen von Marihuana wird mit eine Geldstrafe von 100 Dollar oder neun Stunden Sozialarbeit belegt. Abgesehen davon (und dem bekannten Kompromiss, eine Bildungskampagne zur Drogenaufklärung zu finanzieren) ließ Nutter den Entwurf aber weitestgehend so, wie er war. Trotz Gegenwind von ganz oben und entgegen fast aller Erwartungen haben Poe und Goldstein es geschafft, Marihuana in Philadelphia zu entkriminalisieren.

Beim Betrachten des Verlaufs ihres Kampfes muss man sich einfach fragen, ob die Beiden einfach nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Schließlich machte sich die Stadt (und eigentlich das ganze Land) für eine unvermeidbare Veränderung bereit, als sie die Marihuana-Reform propagierte. Aber dann fragte ich Kenney, ob er vor seinem Treffen mit den Aktivisten jemals ernsthaft eine Durchsetzung der Entkriminalisierung in Betracht gezogen hätte. „Daran habe ich eigentlich nie wirklich gedacht“, antwortete er. Ich erkundigte mich, ob er sich dem kriminellen Hintergrund Poes und Goldsteins bewusst war. Er lachte. „Ich sehe die Anklage als ihren Weg an, gegen ein ihrer Meinung nach ungerechtes Gesetz zu demonstrieren. Ich würde die Beiden jetzt nicht wirklich als Kriminelle bezeichnen.“

Natürlich sind Nikki Allen Poe und Chris Goldstein zumindest in den Augen der bundesstaatlichen Regierung noch eine zeitlang Kriminelle. In Philadelphia sind sie aber auch Lokalhelden. Zwei Tage nach der Unterzeichnung des Gesetzesentwurfs zur Entkriminalisierung von Marihuana postete Poe folgenden Status aus seiner Facebook-Seite:

„Beim Frisör um die Ecke wurde mir wegen der Entkriminalisierung von Gras gerade zugejubelt und ein kostenloser Haarschnitt verpasst. Ich bin jetzt auch ein ehrenamtlicher Afroamerikaner, auch wenn das nicht der genaue Wortlaut der Mitarbeiter war.“