Die Vertreibung der irakischen Christen

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Die Vertreibung der irakischen Christen

In den letzten Jahren haben mehr als 2 Mio. irakische Christen das Land verlassen müssen. Andy Spyra hat den Exodus dokumentiert.

Andy Spyra, 1984 in Hagen geboren, begann erst vor fünf Jahren, sich mit der Fotografie auseinanderzusetzen, und hat seitdem mehr erreicht, als einige seiner Kollegen es nach Beendigung ihrer gesamten Karrierelaufbahn von sich behaupten können. Er hat bis heute nicht nur eine Menge Preise und Stipendien gewonnen, sondern sich auch schon nach dieser kurzen Zeit eine Bildsprache erarbeitet, die auch den abgestumpftesten Betrachter nicht kalt lassen kann.

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Seine Reportagen aus Kaschmir, Bosnien und dem Nahen Osten sind unglaublich klar und einfühlsam. Und sie sind alle brandaktuell. Besonders seine gegenwärtige Arbeit aus dem Irak, Christian Exodus, ist sehr brisant. Mittlerweile sollen dort unter den knapp 30 Mio. Menschen nicht einmal mehr 2% Christen leben. Offizielle Zahlen gibt es keine, doch in den letzten Jahren haben mehr als 2 Mio. irakische Christen das Land verlassen müssen. Andy Spyra setzt sich in seinem neuen Projekt mit diesem Thema auseinander und zeigt eine bedrohliche, bedrohte Welt, die im schlimmsten Falle bald der Vergangenheit angehören wird. VICE: Hey Andy. Wie muss ich mir den Start deines Projektes vorstellen, wie bist du vorgegangen?
Andy Spyra: Ich habe letztes Jahr Ostern in Istanbul begonnen. Diese Stadt ist auch immer noch Knotenpunkt meiner Reisen. Dort habe ich mich zu Beginn erst einmal in ein Café gesetzt und erste Kontakte geknüpft. Von dort bin ich zu Beginn in den Südosten der Türkei und dann über die Landesgrenze in den Irak gereist. Das heißt, du warst nicht mehr vor Ort als das Innocence of Muslims-Video bekannt wurde?
Nein. Und ich habe auch über meine Kontakte aus dieser Zeit nicht viel von dem gehört, was daraufhin passiert ist. Normalerweise ist es jedoch so, dass die Kurden diesbezüglich sehr tolerant sind. In den Ländern, in denen Christen und Muslime in einer gemeinsamen Kultur aufwachsen, teilen sie sich neben der Sprache auch mehr oder weniger dasselbe Wertesystem. Ich habe immer wieder feststellen können, dass man sich als eine zusammengehörige Kultur ansieht, welche zwar durch die verschiedenen Religionen Differenzen in sich trägt, sich dadurch jedoch nicht entzweien lässt. So eine Geschichte wie die mit diesem Video wird dann allerdings auf politischer Ebene für die jeweiligen Zwecke ausgenutzt. Deine Bilder wirken ja sehr bedrohlich, wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm, wie war die Stimmung, als du dort warst?
In Alkosh war die Lage noch verhältnismäßig entspannt, weil die Stadt weiter im Norden liegt, also in einem relativ sicheren, kurdischen Gebiet. Von dort allerdings bin ich nach Karakosh weitergereist. Das ist die derzeit größte mit 98% homogen christliche Stadt im Nahen Osten. Wie viele Menschen Leben dort im Moment?
Ungefähr 45.000. Und davon sind 15.000 Flüchtlinge, hauptsächlich aus dem Südirak. Dort, also in Karakosh, ist die Lage komplett anders, da die Stadt sozusagen an der arabisch/kurdischen Frontlinie liegt. Natürlich gibt es da keinen offenen Krieg, es geht viel eher um Landverteilungen. Und um Macht. Hauptsächlich um Macht, Einfluss und Land. Karakosh liegt genau in der Mitte zwischen all dem und steht quasi symbolisch für die Situation der Christen, die in diesem ganzen Irakkonflikt zwischen allen Fronten zerrieben werden.
Als ich dort ankam, wurde ich direkt vom christlichen Stadtkomitee Karakosh abgeholt und bekam fahrenden Personenschutz. Hattest du Angst, als du dich dort bewegt hast?
Angst nicht direkt, aber ich war schon sehr angespannt. Wenn man dort durch die Wüste fährt, neben einem Typen, der eine riesige Knarre im Gürtel stecken hat, ist das schon ein bisschen befremdlich. Das kann ich mir denken. Wie kann ich mir denn deinen Alltag dort vorstellen? Wo hast du z.B. übernachtet?
In Karakosh habe ich bei der unter dem Kommando der Kirche stehenden christliche Miliz gewohnt. Diese Miliz besteht aus 2000 Mann, voll ausgerüstet mit Fahrzeugen und Kalaschnikows. In deren Hauptquartier habe ich eine Woche lang genächtigt und mir morgens von diesen kalaschnikowbehangenen Kerlen mein Rührei bringen lassen. Das war wiederum sehr charmant. Was treibt dich denn dazu, dich in solche Situationen zu begeben? Denkst du, dass man in unserer reizüberfluteten Bilderwelt mit Reportagen überhaupt noch etwas verändern kann?
Also, wenn ich mit meiner Kamera unterwegs bin, dann bin ich trotz allem als Erstes Mensch, dann Fotograf und an nächster Stelle Journalist. Und in dieser Reihenfolge ist auch meine Motivation gestaffelt. Ich fotografiere in erster Linie, um Dinge zu verstehen und sie für mich als Mensch zu begreifen. In meinen Arbeiten geht es vornehmlich um die Randbereiche unserer Existenz, denke ich, eben jene Bereiche, in denen sich Menschen mit schwierigen Situationen auseinandersetzen und darin bestehen müssen. Das ist, was mich interessiert, und das versuche ich durch meine Bilder zu begreifen.

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Fotos: Andy Spyra