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Wohnen in Berlin

Wie es ist, mit 27 Menschen in einer WG zu wohnen

Wenn wir in den Club gehen, ist es wie ein Klassenausflug. Dafür verschimmeln in der Küche die Teller und mein Zimmer muss ich mit zwei Frauen teilen – für 360 Euro pro Person.

Gleiches Chaos, andere WG | Symbolfoto: Flickr | zoghal | CC BY-SA 2.0

"Baut jemand ein Heim für Fliegen oder was ist hier los?", schreibt einer meiner Mitbewohner zu dem Bild von unserer Küche, das er gerade in den Whatsapp-WG-Chat geschickt hat: eine schimmelnde Schale mit etwas, was früher wahrscheinlich Nudeln waren. Mit Sicherheit sagen kann man das nicht mehr. Darin tummeln sich drei tote Fliegen, auf den ersten Blick sehen sie aus wie Rosinen.

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Solche Momente gab es in meiner WG mit 27 Leuten häufiger. Wieso ich mir das angetan habe? Ich dachte allen Ernstes, dass der im Inserat beschriebene "sehr gut funktionierende Putzplan" existierte und ich mit rücksichtsvollen Menschen zusammenleben würde. Ich war jung und naiv.

Meine Mitbewohner waren zwischen 21 und 30 Jahre alt. So verschieden ihre Gründe waren, nach Berlin zu kommen, so verschieden waren auch die Nationen, aus denen sie kamen. Vom Inder, der für ein Informatikunternehmen arbeitet, um Deutsch zu lernen, bis zum Iren, der am Brandenburger Tor Touristen in einer Rikscha umherfährt.


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Drei Monate lang hätte ich in dem Haus wohnen sollen – zwei habe ich es ausgehalten. Eigentlich hatte ich mir das anders vorgestellt: Wenn ich in einer neuen Stadt in eine so große WG ziehe, dachte ich, kenne ich von Anfang an eine Menge Leute, und von denen müssen ja wohl mindestens fünf ganz OK sein. Sie können mir die Stadt zeigen und es gibt bestimmt immer jemanden, der mit mir feiern geht. Außerdem wusste ich ja, wie es war, in einer WG zu leben. Nur stellte sich heraus: Zwei Mitbewohner sind nicht das Gleiche wie 27.

Die WG liegt in einem dreistöckigen Haus mit roter Fassade in einem Hinterhof im Berliner Stadtteil Weißensee. Das Haus erinnert an ein Hostel: lange Gänge mit vielen Zimmern, wenigen WCs und noch weniger Duschen, die allesamt geteilt werden.

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Die Küche liegt im Erdgeschoss und ist offensichtlich schon seit Jahren baufällig. Löcher im Boden, von den Wänden blättert die Farbe ab. Aber immerhin ist sie groß genug, damit für alle Platz zum Kochen ist. Unser Essen wird auf neun Kühlschränke aufgeteilt, in denen jeder einen persönlichen Bereich hat. Auf der Ablage in der Küche gibt es das "schwarze Loch": Wer etwas nicht mehr will, legt es dorthin und nach zwei Minuten ist es weg. Ich könnte wahrscheinlich meine Großmutter auf die Ablage setzen und würde sie nie wieder zu sehen bekommen.

Wer schon einmal in einer WG gewohnt hat, kennt das Problem, dass es sofort auffällt, wenn auch nur einer nicht sauber macht. Man multipliziere das mit 28 und versteht dann, weshalb ich ernsthafte Befürchtungen habe, dass in unserem Haus eine Kakermaus wohnt – die aus How I Met Your Mother bekannte Mischung aus Kakerlake und Maus. In einer so großen WG kann man niemandem die Schuld für den Dreck geben, weil man schlicht nicht weiß, wer es war. Es kann gut sein, dass es nur drei Personen sind, die sich benehmen als hätte ihnen ihre Mutter bis Mitte 20 hinterher geräumt. An die Zahnpastareste und die Haare im Abfluss konnte ich mich nie gewöhnen. Auch daran nicht, dass ich keine drei Meter barfuß gehen konnte, ohne dass meine Fußsohlen aussahen, als wäre ich durch eine Baugrube gelaufen.

Unter der Woche kochen wir Gerichte aus unseren Herkunftsländern: von griechischem Gyros bis zu Kaiserschmarrn aus Österreich. Glücklicherweise bin ich aus der Schweiz, also muss ich nur Käse schmelzen und alle sind zufrieden. Wir essen an einem langen Holztisch im Aufenthaltsraum.

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Nach neun Wochen in der WG habe ich Einblicke in Länder, in denen ich noch nie war. Ich kenne die besten Anmachsprüche auf Luxemburgisch und weiß, dass man in Russland immer einen Grund zum Trinken braucht. Ich habe sonntags mit dem Inder meditiert und gelernt, dass Iren tendenziell gerne unter anderen Leuten sind, Franzosen lieber unter sich. Ich habe erlebt, wie der Pole neue Mitbewohnerinnen abfüllt, bis sie sich übergeben müssen. Und wir haben uns gegenseitig die Wahlen in Frankreich und das Kastensystem in Indien erklärt und über die Finanzkrise in Griechenland diskutiert. Das alles passierte meist auf Englisch, obwohl in der Anzeige stand, dass "überwiegend Deutsch" gesprochen werde, "da viele hier sind, um die Sprache zu lernen".

Am Wochenende gehen wir oft gemeinsam feiern und weil immer irgendjemand von uns Besuch aus der Heimat hat, sind wir dann noch mehr Leute. So standen wir schon zu dreißigst vor einem Club. Das fühlt sich an wie ein Klassenausflug. Manchmal fahren wir auch gemeinsam irgendwohin, nach Hamburg oder Prag. Dann klebt im Aufenthaltsraum an der Pinnwand ein Zettel, auf dem man sich eintragen kann. Es ist immer etwas los, es wird es nie langweilig – aber gleichzeitig ist es anstrengend, es fehlt jede Möglichkeit, sich zurückzuziehen.

Weil andauernd nervöse Neuankömmlinge mit ihren Koffern vor unserer Tür stehen und gleichzeitig eine Handvoll Leute auszieht, laufen immer wieder neue Gesichter über die Flure. Ich weiß bis heute nicht, wie viele Zimmer es überhaupt gab und wer mit wem zusammen gewohnt hat. Wahrscheinlich habe ich in zwei Monaten nie alle Bewohner kennengelernt.

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Ich habe für mein Zimmer 360 Euro gezahlt, für ein Zimmer, das ich mir mit zwei anderen Frauen geteilt habe. Wer Glück hat und ein Einzelzimmer ergattert, bezahlt noch ein paar Euro mehr. Obwohl unser Vermieter damit monatlich über 10.000 Euro einnimmt, hat ihn noch nie jemand von uns zu Gesicht bekommen. Auch beim Auswahlverfahren für die WG hat man keinen Kontakt zu ihm – nur per Mail zu einer ehemaligen Bewohnerin, die mir geschrieben hat, dass sie es satte acht Jahre in dem Haus ausgehalten habe, nun aber nicht mehr dort lebt. Es hielt sich das Gerücht, dass es sie gar nicht gibt und Paul hinter der E-Mail-Adresse steckt. Er wohnt auch in der WG und ist unsere Ansprechperson, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Und vor allem schaut er, dass jeden Monat die Miete bei ihm in der Hand liegt – bar.

Die WG wird von einem gemeinnützigen Verein geleitet, den Paul vor gut zehn Jahren gegründet hat. Im Tätigkeitsbericht aus dem Jahr 2012, dem aktuellsten, den man auf der Website des Vereins findet, heißt es, das Haus sei ein "Informations- und Kulturzentrum". Dort fänden regelmäßig Vorträge, Lesungen und Workshops mit internationalen Gastprofessoren und Kulturschaffenden statt. Vielleicht war das vor fünf Jahren so – während meiner Zeit in der WG habe ich davon nichts mitbekommen. Ein gemeinnütziger Verein darf in Deutschland Geld einnehmen, jedoch muss dieses dann auch wieder in den Verein investiert werden. Ob unsere Miete den Weg zurück in Pauls Verein gefunden hat, weiß ich nicht.

Wer sich jetzt fragt, weshalb ich mein Zimmer für diesen Preis mit zwei anderen geteilt habe: Die peinliche Wahrheit ist, dass ich Schweizerin bin und dachte, das sei billig. Die beiden Mitbewohnerinnen waren dann auch der Grund, weshalb ich am Ende vorzeitig ausgezogen bin. Genauer gesagt, die dänische Mitbewohnerin, die in meinem letzten Monat eingezogen ist und es geschafft hat, dass ich nach einer Woche auf die schon einbezahlte Miete geschissen, meine Koffer gepackt habe und gegangen bin.

Denn wenn ich mit nur drei Stunden Schlaf zur Arbeit gehen musste, lag das nicht daran, dass ich feiern war, sondern an ihrem nächtlichen Terror. Ohne ein schlechtes Gewissen konnte sie morgens um drei das Licht anmachen, Serien schauen und dazu Chips essen wie ein Velociraptor.

Wenn ich eines aus der Zeit in dieser riesigen WG gelernt habe, dann, dass ich mein eigenes Zimmer wieder zu schätzen weiß. Jetzt werde ich endlich alles tun, was ich die letzten beiden Monate aus Rücksicht nicht mehr getan habe: Ich werde nackt schlafen, die drei Fragezeichen zum Einschlafen hören, und endlich wieder nach dem Feiern genüsslich einen Döner in meinem Bett verdrücken. Aber ich werde mich auch ein bisschen einsam fühlen.

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