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Arbeit

Wir haben mit jungen Menschen gesprochen, die Lehrberufe dem Studium vorziehen

Immer mehr junge Kreative entscheiden sich für die Lehre im zweiten Bildungsweg. Warum die Arbeit mit den eigenen Händen wieder an Wert gewinnt.

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Welches Bild man von Lehrlingen hat, hängt mit vielen Dingen zusammen. Der familiäre Background spielt da eine genauso große Rolle wie das Image, das uns von Lehrberufen durch Medien oder Freunde vermittelt wird. In meinem Kopf war das Bild des klassischen Lehrlings lange untrennbar mit dem Schorschi aus der Nachbarschaft verbunden. Er war ein faules, pubertäres Gfrast, mit ihm rauchte ich meine erste Tschick hinter der Trafik und er beschäftigte sich während seiner Arbeit hauptsächlich mit Ideen, wie er der Arbeit am nächsten Tag aus dem Weg gehen konnte. Wohl auch aufgrund dieser prägenden Jugenderfahrung war für mich schnell klar: Michi ist kein klassischer Lehrling.

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Etwas ältere Menschen würden ihn wahrscheinlich als "Paradiesvogel" bezeichnen. Als ich ihn treffe, flaniert Michi federnd die Währinger Straße entlang, sein weißgetupfter Hosenrock flattert um die bunt besockten Waden, seine Hände tanzen gestikulierend durch die Luft. Um den Hals trägt er zwei wundersame Ketten, die nach Marke Eigenbau aussehen, und er schimpft über Schuhe. "Es gibt einfach keine Schuhe in meiner Größe, die mir gefallen", klagt er. "Braun, schwarz, alles fad." Hauptsächlich aus diesem Grund hat der Kunststudent vor wenigen Wochen eine Ausbildung zum Schuster angefangen; mit 24 Jahren.

Mit seinem Faible für das Handwerk ist Michi nicht alleine. Die Zahl der Lehrlinge und Lehranfänger geht zwar zurück, seit 2007 interessieren sich aber konstant mehr und mehr Maturanten, Studenten und Studienabbrecher für die Lehrausbildung im zweiten Bildungsweg.

"Die Bobos entdecken das Handwerk und die Lehre", scherzt Mag. Helmut Dornmayr vom Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (IBW). Ganz Unrecht hat er damit nicht. Vor allem der Bereich des kreativen Handwerks erlebt eine Renaissance. Das liegt laut Dornmayr einerseits daran, dass das Ausbildungsangebot breiter gefächert und flexibler geworden ist. "Es gibt Facharbeiterausbildungen, Lehre mit Matura und generell kann man mit den Ausbildnern und Lehrstätten vieles individuell ausmachen."

Auch der Kunststudent Michi hat mit seiner Lehrschusterin Vivien einen besonderen Deal: Er lernt von ihr das Handwerk und hilft ihr im Gegenzug bei kleinen Arbeiten, sobald er die Grundkenntnisse intus hat. Denn Vivien darf mit ihren 30 Wochenstunden nicht offiziell Lehrlinge ausbilden, möchte aber ihr Wissen über die alte und vielerorts schon nahezu vergessene Kunst des Schusterns weitergeben.

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Nicht nur die Produkte sollen heute nachhaltig sein, auch Arbeit an sich.

Ein weiterer Grund für die Hinwendung zum Handwerklichen ist, dass vielen Menschen immer wichtiger wird, wo und wie Produkte hergestellt werden. Nachhaltigkeit und regionale Fertigung, faire Arbeitsbedingungen und Umweltschonung sind heute bedeutsamer als je zuvor. Und so wie wir mehr und mehr Wert auf Bio-Ernährung legen, wird uns auch wichtiger, dass unsere Schuhe, Kleider und Möbel unser Gewissen erleichtert aufseufzen lassen.

Schusterin Vivien bezeichnet diese Entwicklung zwar augenzwinkernd als "Wohlstandssyndrom", aber sie freut sich sehr darüber: "Viele Menschen möchten sich von der Massenindustrie abgrenzen, das merke ich im Gespräch mit Kunden", sagt sie. "Und ich bekomme auch in letzter Zeit viele Anfragen von jungen Modeschulabsolventen und Kunststudenten, die lieber in einer kleinen Werkstatt arbeiten wollen als in einem großen Betrieb."

Denn nicht nur die Produkte sollen nachhaltig sein, auch Arbeit an sich. Die verrückten Kids der Achtziger- und Neunzigerjahre träumen nicht mehr länger von Karriere und Kohle ohne Ende, sondern wünschen sich Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Sinn. Und eine vernünftige Balance zwischen Beruf und Privatleben. Auch die Start-Up-Szene ist ein Symptom dieser neuen Jobkultur. Bildungsforscher Dornmayr spricht von einer aktuellen "Do-it-yourself-Mentalität" unter 20- bis 30-Jährigen, der auch die Linzerin Angela viel abgewinnen kann. Vier Jahre lang arbeitete die junge Mutter als Modistin bei der "Wiener Modellhut GmbH". Jetzt möchte sie ein Kunststudium draufsetzen und den Schritt in die Selbstständigkeit wagen. Angst habe sie natürlich auch. "Man hat's vom Finanziellen her nicht ganz so einfach als Hutmacherin in Österreich", erzählt Angela. "Vielleicht mache ich auch noch eine zweite Lehre, um mein Repertoire zu erweitern. Auf jeden Fall aber ein Studium."

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"Die Lehrlinge schimpfen auf die Studenten und die Studenten nehmen die Hackler nicht ernst. "

Ja, warum nicht kombinieren? Viele Lehrausbildungen lassen sich vortrefflich mit Studienfächern verbinden. Das Tischlern mit der Architektur, das Schneidern mit Textildesign, Instrumentenbau mit Tontechnik oder eine Bäckerlehre mit BWL. Um nur einige wahllose Kombinationen zu nennen.

Allerdings genießt die Lehrausbildung nicht gerade das beste Image. "In Österreich hat die Lehre bei vielen zu Unrecht den Status der ,Resteverwertung", meint Helmut Dornmayr. Eine leidige Erfahrung, die neben der Hutmacherin Angela auch Instrumentenbauer Matthias machen musste. Vor acht Jahren schmiss der heute 29-Jährige sein Studium und beschloss, ab nun Orgeln zu bauen. Viele seiner Studienfreunde belächelten den frischgebackenen Lehrling. Matthias gibt sich davon recht ungerührt, er findet es nur schade, dass es kein Miteinander gibt: "Die Lehrlinge schimpfen auf die Studenten und die Studenten nehmen die Hackler nicht ernst."

Dabei ist gerade die Lehre des Orgelbauers sehr fordernd. Matthias erzählt von historischer, musikwissenschaftlicher und technischer Bildung und harter, körperlicher Arbeit. Im Gegensatz dazu war Matthias das Studium zu sperrig, zu realitätsfern. Und tatsächlich gilt die Universität nicht zu Unrecht als Elfenbeinturm, als ein Hort der Theorie und des Theoretisierens der Theorie. Der Ruf der verpeilten Fachidioten und planlosen Romantiker haftet den Studenten hartnäckig an—vor allem in den sogenannten Orchideenfächern. Und ja, spätestens nach der siebten Seminararbeit, wünscht sich wohl tatsächlich jeder Student konkrete Ergebnisse seiner Arbeit. Doch die Entscheidung, das Studium für eine Lehre abzubrechen oder einzuschränken, fällt oft gar nicht so leicht—vor allem, wenn die Eltern studiert haben und dasselbe von ihrer Brut erwarten.

Dabei kann man an der Uni die unangenehmen Folgen der Überakademisierung vor allem in Massenfächern wie Soziologie und Psychologie spüren. Vor allem dann, wenn man sich mit Müh und Not einen halben Quadratmeter am Boden eines überfüllten Hörsaals erkämpft. Oder wenn man um halb acht in der Früh mit irrem Blick und manisch klickendem Zeigefinger vor dem Laptop lauert, um sich für einen Kurs anzumelden. Das, was man macht, machen Tausende andere auch. Nach dem Abschluss konkurrieren vor allem Geisteswissenschaftler mit unzähligen anderen um Jobs—oder sogar Praktika. Individualismus und Selbstverwirklichung bleiben da oft auf der Strecke.

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Das Orgelbusiness ist hingegen alles andere als Einheitsbrei. In Österreich gibt es nur rund 30 Orgelbauer, erzählt Matthias. Dennoch studiert er jetzt wieder. "Ein selbstständiger Orgelbauer verdient so richtig wenig. Ich könnte freilich nach Vorarlberg in die größte Orgelbaufirma Österreichs gehen und dann Orgeln für chinesische Musikhallen zimmern, auf denen schlussendlich niemand spielt. Aber das ist nichts für mich." Die sieben Jahre Lehre möchte er trotzdem nicht missen. Die körperliche Arbeit zwang ihn zu Effizienz—allein schon um Kraft zu sparen, und diese gelernte Disziplin hilft ihm nun, den Studienstoff zu bewältigen.

Kunststudent Michi hat hingegen noch lange nicht genug vom Handwerk. Vor einem Jahr hat er bereits einen Exkurs in die Kunst des Korbflechtens unternommen. Und für die nahe Zukunft plant er, sich eingehend mit der Goldschmiedekunst beschäftigen. Zunächst erklärt ihm Vivien jedoch noch, wie genau ihre Ledernähmaschine funktioniert. Dann macht er sich endlich die Schuhe die ihm gefallen. Gelb sollen sie sein, und mit einer Schuhspitze voller Blumen.