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Vorurteile

Wir haben Sachsen im Exil gefragt, ob sie ihre Heimat im Stich gelassen haben

"Es war das beste für Sachsen, dass ich weggezogen bin. Sonst gäbe es dort einen drogenabhängigen Neonazi mehr." – Matthias
Schild bei einer Demonstration vor der sächsischen Landesvertretung in Berlin am Freitag | Foto: Flora Rüegg || Fotos unserer Interviewpartner: privat

Wenn du dich als Hamburger einer Gruppe Münchner vorstellst, musst du damit leben, der Fischkopf zu sein. Dafür sind die Münchner in Hamburg alle Bazis, die nichts machen, außer in der Sonne Geld auszugeben und Aperol Spritz zu trinken. In Berlin feiern alle in veganen Clubs, in Köln sind sie bekloppt und in Bremen wortkarg. Und in Sachsen sind eben alle Neonazis und fackeln hasserfüllt Flüchtlingsheime ab. Und ja: Das ist genauso ein Vorurteil wie alle anderen in dieser Liste. Aber genau wie in München mehr Geld ausgegeben und in Berlin mehr feiern gegangen wird als anderswo, gibt es eben in Sachsen überdurchschnittlich viele Rechte.

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Leugnen wird das – gerade nach der vergangenen Woche – kaum noch jemand. In Chemnitz machten Rechtsradikale Jagd auf alle, die nicht aussehen, als seien ihre Großeltern schon in der Hitlerjugend gewesen, die Politik ist überfordert und die Polizei sowieso.


Auch bei VICE: Chaos in Chemnitz


Wie gehen Menschen damit um, die aus Sachsen kommen, aber die dem Bundesland den Rücken zugekehrt haben? Die Menschen, denen auf WG-Partys und Kneipenabenden nicht ihr Geld, oder ihre Feierkultur vorgeworfen wird, sondern, dass ihr Bundesland eine Neonazihochburg ist. Haben sie ihre Heimat aufgegeben und sie den Rechten überlassen? Wir haben uns mit drei Sachsen im Exil unterhalten.

Falko Müller, 34, Industriereiniger, lebt in Berlin

Selfie eines Mann vor seiner Wohnzimmerwand

Falko Müller war Crystal Meth abhängig. Erst als er aus Leipzig wegzog, kam er von der Droge weg | Foto: Privat

VICE: Wann hast du in Sachsen gelebt?
Falko: Von 1983 bis Ende 2011, in Leipzig, dann bin ich nach Berlin gezogen.

Wie kann man sich das Leipzig von damals vorstellen?
Sehr rechts und viele Drogen waren im Umlauf, gerade in den 90er-Jahren, kurz nachdem die Mauer fiel. Mit einem Schlag kam aus der "Tschechei" das Crystal Meth zu uns. Ich habe es das erste Mal von meinem Cousin bekommen.

Warum bist du aus Leipzig weggezogen?
Ich habe ein Kind bekommen mit meiner damaligen Partnerin. Ich wollte von der Droge wegkommen, habe es alleine nicht geschafft.

Du meintest, Leipzig wäre zu der Zeit sehr rechts gewesen. Was meinst du genau?
Ich war selber ein Neonazi, bis ich 2011 nach Berlin gezogen bin und dann auch den Kulturschock von Neukölln und der Herrmannstraße verarbeitet hatte. Ich war ein typischer Mitläufer – ein Skinhead mit Springerstiefeln und allem. Mittlerweile bin ich davon losgekommen.

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Wie kam es dazu?
Ich habe einen Berliner kennengelernt. Der ist ein richtiger Türke. Er ist ein bisschen mein Abi – mein großer Bruder. Und ich lerne mittlerweile auch Türkisch. Dadurch habe ich meine Meinung komplett geändert. Ich bin auch stolzer Deutscher. Ich bin Nationalist, aber kein Rassist. Jeder ist für mich willkommen, aber muss sich an die Regeln halten. Ich bin froh darüber, dass so viele Asylbewerber gekommen sind.

Wie hast du dich gefühlt, als du gesehen hast, was in Chemnitz passiert ist?
Ich war richtig wütend. Das ist typisch Sachsen. Vor allem Chemnitz und Zwickau sind die Städte, die am offensten mit Neonazis umgehen. Da wehen Flaggen mit Reichsadlern vor Häusern oder Neonazis tragen Kleidung von Thor Steinar. In Berlin habe ich in Neukölln als Rettungssanitäter gearbeitet. Da ist fast jeden Tag einer abgestochen worden, egal ob Deutscher oder Ausländer. In Chemnitz nutzen sie es aus, weil es diesmal zwei Asylbewerber waren.

Was muss sich in Sachsen ändern?
Die Politik muss härter durchgreifen. Die haben Neonazis in der Vergangenheit immer belächelt.

Hast du Leipzig im Stich gelassen?
Ich musste weg, weil es damals kacke war und ich keine Zukunftsperspektive hatte. Jetzt hat sich das mittlerweile geändert. Ich bin Sachse und stolz darauf. Sobald mein Sohn 16 Jahre alt ist, ziehe ich zurück nach Leipzig.

Matthias*, 33, Erzieher, lebt in Berlin

VICE: In welcher Stadt hast du gelebt?
Matthias: Von 1993 bis 2001 habe ich in Coswig bei Dresden gelebt, vorher in anderen Städten von Dunkeldeutschland.

Warum bist du weggezogen?
Damals war Coswig eine sehr trübe, kulturfreie Kleinstadt. Es gab keine Perspektive für uns Jugendliche. Außerdem war mein Vater gewalttätig. Regelmäßig hat er uns geschlagen. Ich hab das nicht mehr ertragen. Als er seinen Job verlor, fand er in unserem Briefkasten einen Flyer der NPD und wurde sofort Mitglied. Er ging zu deren Stammtischen und brachte uns Bücher mit, wie Das Schwarzbuch des Kommunismus. Wir wurden ab da regelrecht mit der Naziideologie indoktriniert. Mit 13 Jahren habe ich dann verstanden, dass das Lügen sind, und mich langsam davon emanzipiert, bis ich dann nach Berlin umgezogen bin. Mein Glück war, dass ich eine liebevolle Mutter habe, die mich darin unterstützte.

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Ist deine Neonazi-Vergangenheit der Grund, warum du anonym bleiben willst?
Ja. Außerdem bin ich sehr vorsichtig.

Wann hat sich der Fremdenhass bei deinem Vater gezeigt?
In der Öffentlichkeit eher weniger. Da hat er nur die Politik kritisiert. Erst als er und seine Freunde betrunken waren, kam der Rassismus offen heraus. Dann haben sie Juden beschimpft, den Holocaust geleugnet, den Hitlergruß gezeigt oder Türken als "Kanaken" beschimpft.

Was ging in dir vor, als du die Hetzjagd in Chemnitz gesehen hast?
Für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis so was passieren musste. Es war keine Überraschung.

Hoyerswerda, Wurzen, NSU, Freital – welcher dieser Momente war für dich der einschneidendste?
An Rostock-Lichtenhagen erinnere ich mich gut. Ich war das erste Mal darüber schockiert, zu was Neonazis fähig sind.

Fühlst du dich schuldig, dass du weggezogen bist?
Nein, überhaupt nicht. Es war nicht nur für mich das Beste, sondern auch für die Region. Wäre ich nicht gegangen, dann hätte Sachsen einen drogenabhängigen Neonazi mehr.

Kati Engel, 36, Abgeordnete im Thüringer Landtag, lebt in Eisenach

Als Neonazis durch Chemnitz wüteten, wusste die Politikerin Kati Engel nicht, ob sie wieder sicher zu ihrem Auto kommt | Foto: Privat

VICE: Sie haben einen emotionalen Tweet über Chemnitz geschrieben, was ging in Ihnen vor, als Sie die Bilder von den Ausschreitungen gesehen haben?
Kati Engel: Ich war schockiert, habe sowas noch nie erlebt. Meine politische Einstellung war schon immer links. Deswegen wurde ich auch regelmäßig von Nazis gejagt, aber maximal von zehn. Was in Chemnitz am Sonntag passiert ist, hat eine neue Qualität.

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Ich war am Montag bei der Gegendemo in Chemnitz und habe gesehen, wie die Bevölkerung den Neonazis zujubelt. Das war eine krasse Erfahrung, dass unsere Gegenkundgebung der Fremdkörper für Chemnitz war und nicht die Rechtsradikalen. Ich hatte das Gefühl, sie würden die Neonazis willkommen heißen. Das ist wahrscheinlich nicht so, weil ganz normale Menschen Angst hatten und lieber zu Hause blieben, wie meine Eltern. Selbst das ist ein Zeichen: sich zu verstecken und aufzugeben. Ich habe zwei Tage gebraucht, um das zu verarbeiten.

Warum sind Sie in ihren 20ern aus Chemnitz weggezogen?
Ich habe ein Studium in Jena begonnen. Aber ich wollte nicht wieder zurück nach Chemnitz, obwohl ich mich auch dort auf Lehrstellen beworben hatte. Die Stadt hatte was Trostloses, so eine Art depressive Stimmung.

Haben Sie Sachsen oder Chemnitz im Stich gelassen?
Ich glaube nicht, dass das Schicksal einer Stadt an mir hängt. Die Nazis gehen ja nicht weg dadurch. Mich hat enttäuscht, dass die ganz normalen Chemnitzer nicht da waren und sich gegen die Neonazis gestellt haben. So blieb der Eindruck, nur die Antifa hätte was gegen sie.

Wie müsste sich Chemnitz ändern, damit Sie wieder da wohnen könnten?
Gute Frage. Ich habe darüber nie nachgedacht.

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