Ich bin mit meiner Mutter zur Erotik-Messe Venus gegangen
Alle Fotos: Hanko Ye

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Sex

Ich bin mit meiner Mutter zur Erotik-Messe Venus gegangen

"Und Mama, fühlt es sich echt an?" Sie ist nicht überzeugt. "Nein, eher wie Käsekuchen."

Bisher haben meine Eltern und ich es vehement vermieden, über Sexuelles zu sprechen, das über Kate Winslets nackte Brüste in Titanic hinausgeht.

Das berüchtigte Vater-Sohn-Gespräch hat bei uns nie stattgefunden. Selbst als ich meine erste Freundin hatte und klar war, dass ich ihr nicht nur "mein Zimmer zeige", blieben peinliche Fragen aus. Meine Eltern sind Chinesen. Das Thema Sexualität wurde bei uns von einem Schwarzen Loch verschlungen.

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Als ich Anfang des Jahres in Shanghai war, fiel mir auf, dass Paare auf der Straße, in Parks oder Bars kaum Körperkontakt hatten. Einhaken war OK, Händchenhalten gewagt und Küssen glich einem Fallschirmsprung vom lokalen Pearl Tower. Wieso verbannt die chinesische Kultur Sexualität aus Erziehung und Alltag und vor allem: Was passiert, wenn Chinesen die volle Breitseite Sex abbekommen – in Form der größten Erotik-Messe der Welt?

Ich rufe meine Mutter an. Erstaunlicherweise werde ich weder enterbt noch für verrückt erklärt.

"Gehst du mit mir für einen Artikel zu einer Erotik-Messe?"

"OK. Ich wollte dich sowieso besuchen."

"Das ist eine Erotik-Messe. Also mit Pornostars und so."

"Na und, wir sind doch auch schon gemeinsam ins Theater gegangen."

Diese messerscharfe Argumentation konnte ich nicht aushebeln. Es war besiegelt.

10 Uhr, Frühstückstisch, Berlin-Friedrichshain

Meine Mutter summt einen Song ihrer chinesischen Lieblingssängerin, der zum festen Repertoire ihrer Dusch-Karaoke gehört. Früher war es das Signal, dass ihre Laune gut genug war, um ihr die Klausurnote zu beichten, mit der ich das Mathe-Klischee für Asiaten widerlegte. Also Zeit für Tacheles.

"Mama, wieso haben wir noch nie über Sex geredet?"

"Wir wollten dir Freiraum geben. Du hast mal gesagt, dass du mit dem ersten Mädchen, das du nach Hause bringst, für immer zusammen bleiben wirst. Da warst du neun. Was, wenn sie nicht die Richtige wäre? Dann würdest du wie der Professor enden, der in Harry Potters Mutter verliebt war."

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"Ihr hattet Angst, dass ich wie Professor Snape ende?"

"Ja, das ist doch traurig. Nachdem sie gestorben ist, hat er nie geheiratet."

11:40 Uhr, Messe Berlin, Eingangsbereich und Kinky Area

Am Eingang der Messe werden wir von Ella Mortadella begrüßt, mit 2,06 Metern, laut eigenen Angaben Deutschlands größte Drag-Queen. Meine Mutter, rund 50 Zentimeter kleiner, starrt sie unverhohlen, aber lächelnd an. Zwei Chinesen und eine Drag-Queen – in Sekunden bildet sich eine menschliche Arena um uns.

Den typischen Venus-Besucher gibt es nicht. Stattdessen eine demografisch heterogene Masse: Vorstadt-Opas, tätowierte Rocker, Lackfetischisten und Jungs, die ihre Volljährigkeit mit einer Porno-Messe feiern. Der Großteil ist männlich, der Rest trägt Nippel-Pads. In der Showhalle wird mir bewusst, was "Reizüberflutung" wirklich ist. Links räkelt sich der Porno-Kader einer Webcam-Firma, rechts interviewen Halbnackte andere Halbnackte, dazwischen ein menschlicher Spießrutenlauf aus Gaffern und Silikonbrüsten. Ich blicke mich um, meine Mutter ist verschwunden.

Ich entdecke sie an einem SM-Stand. Sie plaudert mit einer Domina, eine Blondine, von Kopf bis Fuß in rotem Lack, in der Hand eine Leine, daran ein geknebelter Sklave mit Latexmaske. Meine Mum zeigt auf die Leine: "Toll! Wir haben einen Collie zu Hause." Sie gehört zu den Menschen, die auch auf einer Beerdigung Freunde finden können.

Die Domina gibt mir ihre Karte und zieht dabei ihren Sklaven mit sanfter Gewalt hinter sich her. Meine Mutter fragt: "Wie lang ist denn der arme Mann schon in der Folie eingewickelt?" Die Domina antwortet, dass er freiwillig an der Leine sei. Der Sklave nickt. Meine Mutter lässt nicht nach. "Er schwitzt ja schon", sagt sie und deutet auf den nassen Kugelknebel. "Mama, das ist Speichel."

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Danach erzählt sie mir, dass BDSM und Fetische allgemein in China nur im Untergrund existieren, auf geheimen Sexpartys und in Clubs. Diese sexuellen Vorlieben weichen vom Zweck, Kinder zu bekommen ab, und gelten deshalb als sexuelle Perversion. Als abnormal gelten auch Homosexualität, Masturbation, Anal- und Oralsex.

In der Schule, in den 60er Jahren in Shanghai, hat man ihr eingetrichtert, dass all das gesundheitsschädlich sei und den Verstand verwirre. Meine Mutter denkt, dass fehlende Aufklärung in der Schule der Grund sei, weshalb Sex noch heute als schmutziges Tabuthema angesehen wird. Für die Generation meiner Mutter diente Sex vor allem dazu, die konfuzianische Tradition der Kindespflicht, xìao dào, zu erfüllen – und (männliche) Nachkommen zu bekommen. Vorspiel, Liebe, weiblicher Orgasmus spielten da keine Rolle. "Sex war Vergnügen für den Mann und Verpflichtung für die Frau", sagt meine Mutter.

Für Chinesen ist es wichtig, ihr Gesicht, miànzi, zu wahren. Eltern drillen deshalb ihre Kinder in der Schule oder geben einer Ehe erst ihren Segen, wenn der Partner aus einer angesehen Familie stammt und Job, Auto und Wohnung vorweisen kann. Der eigene Status in der sozialen Hierarchie ist das Wichtigste für die Generation meiner Mutter. Gespräche über Sex sind ein Risiko, Schwäche zu zeigen. Selbst heute, nachdem vieles aus der westlichen Mentalität in die chinesische Kultur eingeflossen ist, trauen sich immer noch viele Paare nicht, über ihre Sexualität zu sprechen.

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Angeregt durch die Domina verschlägt es uns in die Kinky Area, den Fetischbereich. Auch wenn sich die Leute hier in Lack und Leder kleiden, habe ich nicht das Gefühl, dass sie verstecken, wer sie sind. Meine Mum posiert mit einem Hünen, der wie ein mit Latex verhüllter ägyptischer Gott aussieht.

An einem Stand für Fetisch-Artikel begutachten andere Kunden Peitschen und Umschnalldildos wie Obst im Supermarkt. Meine Mutter zieht es zu den Gasmasken. Ich frage, ob sie eine für ein Foto anprobieren will. Sie winkt ab. "Die sind nicht schön. Ich möchte wenn dann eine schöne!", sagt sie und deutet auf eine mit Hasenohren. Die Standbesitzerin erlaubt uns das Foto mit der Maske allerdings nicht.

12:15 Uhr, B2C Messe Area, Halle 18

In der Showhalle gibt es kaum einen, der nicht fotografiert. Eine Darstellerin sitzt breitbeinig auf einem Vibratorsattel und wird gerade zum Orgasmus gerüttelt. Dabei liest sie laut aus einem Roman vor, James Bond. Meine Mutter verschränkt die Arme und schaut, als würde sie in einen schimmligen Apfel beißen. Ich bin auch schockiert, aber eher, weil BDSM meine Mutter nicht aus der Bahn wirft, aber ein Vibratorstuhl. Eine Moderatorin hält der Frau auf dem Sattel grinsend das Mikrofon hin und hilft ihr wie eine Nachhilfelehrerin, wenn sie beim Lesen stockt. Die Männer um uns stehen im Halbkreis vor der Bühne und halten das Geschehen mit ihren Kameras fest. "Das ist doch unheimlich. Überhaupt nicht schön", sagt meine Mutter.

Wir flüchten aus der Menge. Eine Frau drückt uns im Vorbeigehen Kondome in die Hand und wirbt für eine Hardcore-Lesben-Show. Die Teilnehmerinnen posieren vor einer Wand und lassen sich von und mit Fans fotografieren. Was auf Touristen-Bildern der Daumen hoch ist, ist auf der Venus der demonstrative Griff an die Brüste. Eine von ihnen winkt uns zu sich: "Wäre doch was für euch. Nur 15 Euro und mit Anfassen! Na, wie wär's?"

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Wir wählen lieber die Sex Dolls. Auf einem Sofa sitzen vier nackte Puppen mit Brüsten, die den Rahmen jeder realistischen Proportion sprengen. "Sie sehen traurig aus", sagt meine Mum. Eine fünfte männliche Puppe sitzt abseits. Meine Mutter fragt den Verkäufer, wieso der Penis der männlichen Puppe dunkler ist als der Rest des Körpers. Er erzählt, dass man die Penisse nach Größe und Länge austauschen kann. Ich frage meine Mutter: "Fühlt es sich echt an?" Sie ist nicht überzeugt: "Nein, eher wie Käsekuchen."

13:00 Uhr, B2B Business Area, Halle 20

Eine Dildo-Verkäuferin winkt uns zu und fragt, ob wir unser Sexleben nicht etwas auffrischen wollen. Ich bleibe irritiert stehen, meine Mutter lacht los. "Das ist mein Sohn!", sagt sie. Die Verkäuferin ist verdutzt, lässt sich aber in ihrem Verkaufswillen nicht beirren. "Ich hätte da ein schönes Modell aus medizinischem Silikon, unser Verkaufsschlager." Meine Mutter sagt: "Sie sind jung, wie alt sind Sie? Sie sehen aus wie die Ex-Freundin meines Sohnes. Marvin, sieht sie nicht so aus?" Wenn es je eine effektive Methode gab, Dildoverkäuferinnen abzuwimmeln, meine Mutter hat sie gefunden. Ich frage trotzdem, was es sonst noch so gibt. Die Verkäuferin deutet auf bunte Dildos, die noch einen Klitoris-Massage-Fortsatz in Form verschiedener Tiere haben. "Ich kann den Schmetterling empfehlen, der vibriert besser als der Delfin", sagt die Verkäuferin. Ich frage meine Mutter, ob sie sowas schon gesehen hat.

"Natürlich. Aber die sind doch eine Beleidigung für den Mann."

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"Wieso?"

"Wofür braucht man sowas, wenn der Mann streicheln und küssen kann. Fühlen Männer sich dann nicht mehr gebraucht?"

"So Spielzeug ist ja auch eher als Zusatz zu Sex gedacht."

"Das hat nichts mit Gefühl zu tun, es ist nur ein Ding. Du schläfst doch auch lieber mit deiner Freundin als mit einer Puppe"

"Mhm."

Meine Mutter verwendet beim Erzählen nie das Wort "Sex" und vermeidet auch sonst Begriffe, die verrucht klingen.

Wir schließen uns einem Menschenstrom an, der an uns vorbeizieht. Diesmal sind es erstaunlicherweise fast nur Frauen. Auch die wartende Menge vor der Bühne der Showhalle ist weiblich und hält ihre Handys bereit. Ein Logo leuchtet an der Wand auf: Sixx Paxx. Es ist die Stripper-Gruppe, der auch Dschungelkönig Marc Terenzi bis vor einem Jahr angehörte. Der Moderator ("Ladys, die werden euch richtig einheizen, haltet eure Höschen fest") holt die Tänzer, die sich auf der Bühne aufwärmen. Meine Mutter will lieber zurück in den Messebereich, weil sie einen Stand mit Haarprodukten auskundschaften will. Sie dreht sich Richtung Hallenausgang um, als die Stripper anfangen zu tanzen. "Mama? Die ziehen sich aus." Sie bleibt stehen, dreht sich wieder zur Bühne und zückt ihr Handy. Nachdem sie eine Foto-Salve abgeschossen hat, geht sie Richtung Ausgang. "Nicht schön", sagt sie. Dann dreht sie sich nochmal um.

14:30 Uhr, B2C Star Walk/ Reality Lovers

Micaela Schäfer ist gerade angekommen. Seit 2011 repräsentiert sie die Venus, dieses Jahr soll sie Musik auflegen. Vor der Messe habe ich meiner Mutter ein Bild von ihr gezeigt und sie gefragt, was sie wohl für einen Beruf hat.

"Arzthelferin."

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Angeregt durch die obligatorischen DJ-Zwischenrufe ("Jetzt geht's ab!", "Wo sind eure Hände?") beginnt die Venusgemeinde, die Hüften zu schwingen, gleichzeitig wird weiter fotografiert. Wir stellen uns an den Stand am Hallenrand und testen virtuelle Pornos. Ich hatte schon paar mal eine VR-Brille auf (Danke, Ikea!), meine Mum noch nie. Wir überspringen die Anleitung der Mitarbeiterin und setzen uns die Brillen auf. Erst sehe ich nur ein rotierendes Ladesymbol, dann bin ich in einem hellen, spärlich eingerichteten Raum. Nur ein Bett und eine Vagina, die eine Handbreit vor meinem Gesicht schwebt. Die Frau geht auf alle Viere, wackelt mit ihrem Hintern und schaut mich zwischen ihren Beinen an. Sie murmelt etwas, ich verstehe nur "dick", aber das war das Signalwort – sie gibt mir einen Blowjob. Nach zwei Minuten ackert mein wohlwollendes Gegenüber immer noch und ich fürchte, in einer Zeitschleife gefangen zu sein. Ist das der Alltag eines männlichen Darstellers?

Ich nehme die Brille ab und sehe zu meiner Mutter. Der sichtbare Teil ihres Gesichts wandert zwischen Erleuchtung und Entsetzen. Nach einer halben Minute nimmt auch sie ihre Brille ab und setzt sich auf einen Hocker. "Das war wie echt! Zwei Frauen und ich als Mann. Alle auf mir!" Ich weiß nicht, welcher Teil extremer für sie war: dass sie die Perspektive eines Mannes gesehen hat oder einen Dreier hatte. Ich frage sie, ob sie sich früher nie vorgestellt hat, zu dritt ins Bett zu gehen. "Undenkbar. Dazu bin ich zu eifersüchtig." Und mit zwei Männern? "Auch nicht. Dazu wäre dein Papa zu eifersüchtig."

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Inzwischen ist Micaela Schäfer verschwunden und zwei Pornodarstellerinnen nehmen ihren Platz im Zentrum der Aufmerksamkeit ein. Pornografie gehört neben Prostitution zu den kontroversesten Themen in China. Ich frage meine Mutter, ob wir nicht mal mit einer Darstellerin ins Gespräch kommen sollten.

"Was soll ich sie fragen?"

"Alles, was du sie nicht fragen sollst."

Sie deutet auf die Frauen, die sich im Blitzlichtgewitter baden, und die Männer, die es verursachen: "Sieht das für dich echt aus?"

"Anscheinend gefällt es den Frauen."

"Das würde sie natürlich sagen. Die anderen Antworten kannst du dir doch auch denken."

Sie zählt auf: "Gefällt es dir, einsame Männer vor ihren Bildschirmen zu befriedigen? – Ja. Machst du das für Geld? – Bestimmt. Was sagt dein Partner dazu? – Er akzeptiert es. Was sagen deine Eltern dazu? – Sie akzeptieren es auch. Und es ist mein Körper."

"Ist das denn schlimm?", frage ich.

"Natürlich, die Frauen sind doch nur ein Objekt ohne Liebe. Wenn sie Männer verführen wollen, sollen sie in eine Bar gehen. Wenn man schön ist, kann man auch eine Schauspielschule besuchen. Ich würde nicht wollen, dass du dich so verkaufst. Wenn du Geld brauchst, dann versteigere ich das Haus."

Ich versichere ihr, niemals Pornostar zu werden, und umarme sie.

15:00 Uhr Messe Berlin, Ausgang Nord

War es komisch, mit meiner Mutter auf die Venus zu gehen? Minimal. Hat es sich gelohnt? Definitiv. Würde ich es wieder tun? Niemals. Der Besuch der Erotik-Messe glich einem hyperrealistischen Allround-Live-Porno in Überlänge. Und jeder, der Pornos schaut, weiß, dass man aufhören soll, wenn's gerade am schönsten war.

Aber ich bin auch dankbar. Es ist viel einfacher, über Sex zu sprechen, wenn man davon umgeben ist. Auch mit der eigenen Mutter.

Ihr Fazit?

Sie ist nun fest davon überzeugt, dass Fetischisten ihre Freunde sein könnten und sie niemals einen Dildo aus medizinischem Silikon kaufen wird. Ich frage sie, was sie heute gelernt hat. "Ich bin offener geworden", sagt sie. "Aber nicht alles, was mit Sex zu tun hat, ist sexy"

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