Sex

Ein offener Brief an den Menschen, der mich mit HIV angesteckt hat

Jedes Mal, wenn ich jemandem sage, dass ich HIV-positiv bin, denke ich an dich. Und muss lächeln.
Zwei Hände und Blut im Hintergrund
Illustration: Michael Dockery

"Wie hast du dich infiziert?" Wenn du sagst, dass du HIV-positiv bist, will das fast jeder wissen. Manche fragen direkt, andere sind zurückhaltender. Trotzdem siehst du in ihren Augen die Neugier. Immer, wenn ich jemandem sage, dass ich positiv bin, denke ich an dich. Nicht etwa in Wut oder Reue. Ich denke an die Dinge an dir, die mich zum Lächeln bringen.

Ich denke an unser zweites Date. Es war in einem japanischen Restaurant am Rande von Denpasar, Bali. Das Essen war nicht so gut. Bei jedem Bissen hast du leicht gequält dein Gesicht verzogen. Aber du hast tapfer alles aufgegessen, sogar den Reis. Um keinen Preis wolltest den Koch vor den Kopf stoßen. So durch und durch gut bist du. Bis zum letzten Reiskorn hast du es durchgezogen. Ich habe mein Gericht nicht aufgegessen. Beim Reden flatterten deine Hände wie Schmetterlinge. Wenn du gelacht hast, hast du die Hände vor dein Gesicht gehalten. Und du hast sehr viel gelacht. Es sind diese kleinen Gesten, an die ich mich erinnere.

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Nicht lange nach diesem Date trennten wir uns. Ich musste nach Hause, nach Australien. Pünktlich zu Weihnachten war ich wieder in der Heimat, an Silvester lag ich mit Ausschlag und Fieber im Bett. Der Arzt checkte mich komplett durch, große Sorgen machte ich mir nicht. Ich bin zwar sexuell aktiv, aber ließ mich regelmäßig testen. Und eigentlich hatte ich dieses Mal auch nichts besonders Riskantes getan. Ein paar Wochen später saß ich wieder beim Arzt. Die Ergebnisse waren da: HIV-positiv. Ich war traurig und verwirrt. Auch wenn ich wusste, dass eine HIV-Infektion behandelbar ist, war die Diagnose kaum zu ertragen. Es tat weh.

Fast schlimmer als die Diagnose selbst ist allerdings der Gedanke, dass du unwissentlich jemand anderen angesteckt haben könntest. Jemanden, der dir viel bedeutet.


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Ich hatte einen Kloß im Hals und mein Herz hämmerte, als ich auf WhatsApp Nachrichten verschickte. Es war nicht viel Text. Eine Bitte, sich testen zu lassen, dazu die Adresse des nächsten Arztes. Weil ich mich selbst alle sechs Monate untersuchen ließ, konnte ich den Zeitrahmen eingrenzen. Ich musste drei Männern schreiben. Einer davon warst du. Zum Glück reagierten alle mit Verständnis und Mitgefühl. Alle drei hatten den Mut, sich testen zu lassen. Niemand machte mir Vorwürfe. Wut wäre eine nachvollziehbare Reaktionen gewesen, aber wir sind alle erwachsen. Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen und in Momenten wie diesen stehen wir vor den potenziell unangenehmen Konsequenzen. Wut führt nur zu Schweigen – und Schweigen richtet am Ende die größten Schäden an.

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Von den drei Typen kamen zwei mit negativen Tests zurück. Einer war positiv. Das warst du, der immer so viel lächelt und noch mehr lacht. Es war ein Schock für uns beide. Wir fanden es ungerecht. Trotz allem zeigten wir Stärke, waren füreinander da. HIV ist es egal, ob du ein "guter" oder "schlechter" Mensch bist. Das Virus will nur deinen Körper.

Als du mir gesagt hast, wie niedrig dein CD4-Wert ist – die Zahl deiner Helferzellen, die den Zustand deines Immunsystems anzeigen –, bekam ich Angst um dich. Uns wurde bewusst, dass du schon lange HIV-positiv warst. Vielleicht seit Jahren. Du wusstest es nicht, du hattest dich nicht testen lassen. Das Virus zwang dein Immunsystem langsam in die Knie. Hätte ich nicht HIV bekommen und dich um einen Test gebeten, hätte diese Geschichte ganz anders verlaufen können – mit langen Krankenhausaufenthalten und schließlich Tod. Schweigen isoliert uns und macht uns verletzlich.

Viele Menschen vermeiden HIV-Tests. Für sie ist es nicht nur eine Untersuchung auf ein Virus, sondern eine Untersuchung ihrer Moral. Nach dieser Logik macht dich ein positiver Befund zu einem schlechten Menschen – zu jemandem, der etwas Falsches getan hat. Du hast mir gesagt, du hättest Tests aus Angst gemieden, und auch, weil du nicht dachtest, dass du positiv sein könntest. Du stammst aus der Mittelschicht, bist gebildet, romantisch, im Herzen monogam.

Neben dem Schweigen kann auch das Stigma blind machen. Wenn wir nicht sehen, dass HIV alle treffen kann – es dafür nur eine einzige riskante Entscheidung von uns oder unseren Partnern braucht –, dann werden weiter Menschen an HIV sterben.

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Es sind jetzt ein paar Monate vergangen und wir beide haben die Sache gemeinsam durchgestanden. Wir haben beide die Behandlung begonnen, haben beide den anfänglichen Nebenwirkungen der Medikamente und der Bürokratie des Gesundheitssystems standgehalten. Schon bald wird dein Immunsystem wieder stark sein – und mit etwas Glück sinkt unsere Viruslast unter die Nachweisgrenze. Was mir inzwischen mehr Angst macht als deine Gesundheit, ist das Stigma in deinem Umfeld. Nur 33 Prozent aller Menschen in Indonesien wissen, dass man sich definitiv nicht mit HIV anstecken kann, wenn man Essen mit einem HIV-Infizierten teilt. Angesichts solcher Fehlinformationen mache ich mir große Sorgen um dich und alle anderen, die mit HIV in Indonesien leben.

Deswegen teile ich unsere Geschichte. Eine Geschichte über HIV, über Sex und über Liebe. Eine Geschichte mit unbeholfenen Dates und schlechtem japanischen Essen. Denn genau das brauchen wir: mehr Geschichten. Stigma und Schweigen hätten mich mich davon abhalten können, mich bei dir zu melden oder mich überhaupt erst testen zu lassen. Es hätte uns beide das Leben kosten können. Nicht etwa HIV – denn die Infektion ist behandelbar –, sondern das Schweigen und das Wegschauen.

Wir haben jetzt Mittel, damit Menschen mit HIV genauso lange leben können wie Menschen ohne das Virus. Korrekt angewendet verhindern die Medikamente die Übertragung des Virus und halten unser Immunsystem stark. Allein das Stigma hält die flächendeckende Verbreitung dieser Neuerungen zurück.

Wir haben alle eine Verantwortung, uns über unseren eigenen Zustand zu informieren – und den Menschen in unserem Umfeld dasselbe zu empfehlen. Außerdem ist es an uns allen, Betroffene nicht abzuwerten und stattdessen vehement gegen Vorurteile und unbegründete Ängste vorzugehen. Wer mit HIV infiziert ist, versucht wie alle anderen sein Leben zu leben – und manche von uns sind sogar so liebe Menschen, dass sie noch das letzte Reiskorn aufessen, damit der Koch sich nicht schlecht fühlt.

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