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Sex

Mein Leben ist das deutsche 'Sex Education'

Die neue Netflix-Serie erinnert mich an früher: "Wie viele Schwänze hatte dein Dad schon in der Hand?" war nur eine der Fragen, die ich mir als Urologen-Tochter anhören musste.
Sex Education Netflix Otis Jean Milburn
Pressefoto: Sam Taylor | Netflix

Mit seinen Eltern über Sex zu sprechen ist in etwa so angenehm, wie am Straßenrand zu pinkeln und plötzlich fährt eine Touristengruppe im Bus vorbei und macht Fotos. Und ungefragt von den Eltern deren Wissen zu Deepthroats, Masturbation oder Petting zu erfahren, ist, als würde man in einem Dixi-Klo sitzen, das gerade von einer Festivalmeute umgeworfen wird.

Viele Jugendliche haben Glück und deren Eltern-Kind-Sexgespräche gehen nie über den kurzen "Du weißt aber, dass ihr aufpassen müsst"-Rahmen hinaus. Und dann gibt es Otis aus der neuen Netflix -Serie "Sex Education": Dessen Mutter ist Sextherapeutin. Sie hilft Menschen dabei, wieder glücklich zu vögeln. "Also eine Prostituierte?", fragt ein Mitschüler und Otis antwortet: "Nein, eher eine Art Irren-Ärztin." Seit Anfang Januar ist die britische Serie online und nimmt uns mit in schambefreites Coming-of-Age-Entertainment.

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Der 16-jährige Otis lebt zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter. Im gemeinsamen Haus gibt es eine "Sexhöhle", wie sein Mitschüler Adam bei einem Besuch feststellt. Gemeint ist damit ihre Praxis. Er hat weitere Fragen: "Wieso hängt da 'ne Muschi an eurer Wand?" Und warum wird auf dem Fernseher eine DVD abgespielt, bei der man sieht, wie sich ein Mann die Eier quetscht? Aus reiner Notwehr gibt Otis die DVD "Sexuelle Anatomie" als seinen Porno aus. Er will unbedingt geheim halten, was seine Mutter beruflich macht. Doch spätestens als alle in der Schule unbeabsichtigt einem Film sehen, in dem seine Mutter Masturbationsnachhilfe gibt und mit einer Aubergine den männlichen Orgasmus erklärt, ist dieses Geheimnis gelüftet.


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Ich kann sehr gut nachempfinden, wie sich Otis fühlen muss. Auch in meinem Elternhaus ging es deutlich häufiger um erigierte Penisse, als man sich das als pubertierende Person wünscht. Mein Vater ist Urologe. Die Art von Doktor, bei der die Reaktionen schnell von einem begeisterten "Oh, dein Dad ist Arzt" in ein verhaltenes "Ah, Urologe…" umschlagen. Und obwohl zu Hause keine Bilder von Geschlechtsteilen an der Wand hingen oder dokumentarische Pornos liefen, wollte ich nicht, dass jemand weiß, was er beruflich macht. Ihm ging das anders – er ist Urologe aus Leidenschaft.

Das führte zu unangenehmen Momenten. Ich ging jahrelang mit meinem Dad ins Freibad und wir schwommen Bahnen. Mit meiner Pubertät änderte sich das, denn mein Vater hatte ein neues Handtuch, das ihm ein Pharmavertreter geschenkt hatte. In Viagrablau. Darauf abgebildet war eine Gleichung: Venussymbol + schlaffes Glied + Viagra = erigierter Penis. Was nicht zu sehen war: mein knallrotes Gesicht, als er es zum ersten Mal voller Stolz auf einer Wiese neben meinen Mitschülern ausbreitete.

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Kinder, deren Eltern beruflich und öffentlich über Sex sprechen, führen kein gewöhnliches Teenagerleben

Als ich 14 Jahre alt war, hielt mein Vater an meiner Schule einen Gastvortrag zu Geschlechtskrankheiten und Safer Sex. Ich täuschte an diesem Morgen eine spontane Magen-Darm-Erkrankung vor, aber einen Vater auszutricksen, der Arzt ist, funktioniert nicht. Anstatt mit meinen Freunden Bus fuhr ich mit ihm im Auto mit zur Schule. Auf unserem Heck klebte ein Aufkleber "Captain Katheter", den ich vor der Fahrt auch nicht schnell mit meinen Fingernägeln abknibbeln konnte. Ich recherchierte im Auto nach anderen Schulen und sah meinen sozialen Status ruiniert, während Papa zu einem Song der "Mannheimer Uroband" mitpfiff: "Oh Prostata, du bist immer für uns da".

Kinder, deren Eltern beruflich und öffentlich über Sex sprechen, führen kein gewöhnliches Teenagerleben. Otis trifft es aber noch ein wenig härter als mich. Morgens platzen die One-Night-Stands seiner Mutter in sein Zimmer, als er sich gerade Handcreme und Pornohefte zum Masturbieren bereitlegt. Und nach dem Frühstück begegnet er den Patienten seiner Mutter, zum Beispiel einem Paar mit Umschnall-Dildo. Er hört seine Mutter regelmäßig beim Sex und ist dabei, als sie mit seinem Mitschüler Adam kifft und ihn über Gras und Impotenz aufklärt. "Intimitätsgrenzverletzungen", nennt Otis die übergriffige Art seiner Mutter, wenn sie mal wieder zu offen über "Männermilch" spricht oder ihn ausfragt, warum er Jungfrau sei und mit Handcreme und Pornoheften nur vorgebe, sich einen runterzuholen.

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Otis lernt aber auch, dass es Vorteile haben kann, mehr zu wissen als der eigene Sexualkundelehrer. Nicht nur weil er die weibliche Anatomie fehlerfrei beschriften kann und seiner beeindruckten Mitschülerin erklärt, warum die weibliche Prostata nicht das Jungfernhäutchen ist. Er merkt, dass Teenager über Sexthemen eben am liebsten mit anderen Teenagern sprechen. Deshalb richtet er mit Freunden eine Sprechstunde gegen Geld ein, die zunächst einem Beichtstuhl gleicht. In der einen Klokabine sitzt ein Mädchen, das erzählt, wie es beim Blasen ihrem Freund auf den Schwanz gekotzt hat. In der daneben Otis: "Du hattest also Probleme beim Fellatio, die dazu geführt haben, dass du eine Emesis durchleiden musstest." Und dann erzählt er von selbstbefriedigenden Chinchillas.

Auch wenn dieser Dienst zunächst unangenehm erscheint – Otis' bester Freund bringt es auf den Punkt: "Wissen ist Macht und Macht ist Status."

Die Welt wird ein bisschen besser, wenn Sex enttabuisiert wird. Aber ich weiß, dass aller Anfang schwer ist

"Sex Education" zeigt, wie gut sich Teenager untereinander austauschen können, um Hürden des Erwachsenwerdens zu meistern. Man möchte seine Eltern, die Lehrerin oder den Kinderarzt, der nach jeder Behandlung einen Lolli parat hatte, einfach nicht fragen, warum man vom Rasieren rote Pickel am Hodensack hat oder warum es beim Blowjob einen Würgreflex gibt. Otis kann mit seinem unfreiwillig angeeigneten Wissen seinen sexuell frustrierten Mitschülern helfen – und sich dadurch mehr Selbstvertrauen verschaffen.

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Als Teenager verhält man sich wie einem Gerichtssaal vor den Geschworenen. Man möchte bloß nicht, dass irgendwas gefunden wird, was andere gegen einen verwenden können. Die Entwicklung von Otis, sein Geschäftsmodell und die Reaktionen seiner Mitschüler zeigen, dass die Welt ein bisschen besser ist, wenn Sex enttabuisiert wird. Aber ich weiß, dass aller Anfang schwer ist.

"Dein Papa steckt anderen für Geld den Finger in den Po!" oder "Wie viele Schwänze hatte dein Dad schon in der Hand?" waren nur ein paar Dinge, mit denen ich nach dem Vortrag meines Vaters in der Schule begrüßt wurde. Aber nachdem die erste Welle der Lacher wie bei einem schlechten Comedy-Sketch abgeklungen war, kamen andere Fragen: "Sag mal, weißt du, ob es normal ist, dass ich morgens helle Flecken im Höschen habe?", wollte ein Mädchen aus meiner Englischklasse wissen. Und ein paar der Jungs mieden plötzlich Blickkontakt mit mir. Beim Mittagessen mit meinen Eltern erfuhr ich warum. "Du wärst überrascht, wie viele von denen schon auf meiner Liege saßen", sagte mein Vater. Ich merkte, dass Wissen wirklich Macht bedeutete, und mein Urologen-Outing machte alles nur noch halb so schlimm.

Ein Urologen-Vater oder eine Sextherapeutin als Mutter sind einem erstmal peinlich. Trotzdem bringen sie einem genau das bei, was zum Erwachsenwerden wichtig ist: kindliche Scham abzulegen, offen zu reden und "Sex Education" zur Normalität zu machen. Auch wenn die Methoden von Otis Mutter besser in der Fiktion einer sehr gut durchdachten Serie bleiben sollten.

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