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Popkultur

Kranker Scheiss aus dem Leben eines Ski-Bergretters

Lawinen, gefrorene Finger, gebrochene Beine: Alltag im Leben von Renato Nigg, einem SOS-Patrouiller im Skigebiet Flims Laax Falera.

Illustration von Eva Rust Diese Geschichte wird dir präsentiert vom Suva Schneesport-Check Auf der Schweizer Alp Nagens, 2.127 Meter über Meer, herrscht reger Betrieb: Kinder, die in knalligen Einteilern den Hang hinunter stemmbögeln, braungebrannte Boarder mit Kopfhörern in den Ohren und eine ältere Dame, die elegant kurz wedelt. Von der Beiz weht Käseduft und Après-Ski-Musik hinüber. Mitten im Trubel: Renato Nigg, 29, wache Augen, roter Faserpelz, um die Brust ein Gurt mit Funkgerät geschnürt. Er ist SOS-Patrouiller im Skigebiet Flims Laax Falera. Seine Füsse stecken in Skischuhen, jederzeit bereit in die Bindung der Skier zu springen, die vor der SOS-Station bereit stehen. Dann ab auf die Piste, wo Skifahrer und Snowboarder auf seine Hilfe warten: "In maximal zehn Minuten bin ich an der Unfallstelle", sagt er in breitem Bündner Dialekt. Renato hat uns mit ein paar Geschichten einen Einblick in die absurden Höhen und Tiefen seines Alltags gegeben

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Ich bin bereits die neunte Saison Teil des SOS-Teams. An einen meiner ersten Rettungseinsätze erinnere ich mich besonders gut. Es war meine erste Saison als SOS-Patrouiller und es hatte wenig Schnee. Ein 19-Jähriger war mit seinen Kollegen unterwegs und fuhr abseits der Piste. Er geriet in einen Couloir, eine mit Schnee gefüllte Rinne, und löste eine Lawine aus. Einheimische beobachteten ihn und schlugen sofort Alarm. In solchen Situationen zählt jede Minute. Die Lawine hatte ihn komplett verschüttet, wir mussten ihn ausgraben und reanimieren. Es war so stürmisch, dass der Helikopter kaum landen konnte—ein turbulenter Fall. Das ging mir sehr nahe, ich war damals kaum älter als er. Er hat glücklicherweise ohne Schaden überlebt und fährt jetzt auch wieder bei uns Ski. Später bedankte er sich persönlich bei uns. Ob er sich überschätzt hat? Überschätzen wir uns nicht alle? Gerade wenn noch Alkohol im Spiel ist.

Mit Schuss auf die Talabfahrt

Vor der Talabfahrt einen Kafi Lutz oder einen Punsch mit Schuss gehört für viele zu einem gelungenen Skitag. Es kommt jedoch—entgegen aller Erwartungen—selten vor, dass ich Betrunkene retten oder betreuen muss. Wobei jeweils an einem Tag Ende März, am Schlagerfestival "Schnulz im Sulz", fliesst der Schnaps in rauen Mengen. An diesem Event tummeln sich 3.000 bis 4.000 Schlagerfans auf der Alp Nagens. Die harten Kämpfer, die bis zum Schluss durchhalten, sind meistens nicht im besten Zustand. Wenn sie noch einigermassen gehen können, halten wir sie nicht auf, sich auf die Bretter zu stellen. Einmal jedoch musste ich einen wie ein Stück Vieh auf den Schneetöff binden, ihn zur Bahn karren, hineinsetzen und schauen, dass er unten wieder ausgeladen wird.

Betrunkene machen mir gar nichts aus, solange sie nicht aggressiv reagieren. Was mich hingegen sehr beschäftigt, sind verständlicherweise Todesfälle: Ein konkreter Fall fällt mir jetzt gerade nicht ein, ich verarbeite schnell. Albträume habe ich nie. Wenn ich jemanden persönlich kenne, wirft mich das eher aus der Bahn. So wie kürzlich: Da gab es eine schwere Kollision zwischen zwei Frauen. Das kommt eher selten vor, Selbstunfälle sind die Regel. In diesem Fall jedoch waren beide schwer verletzt und wir mussten mit zwei Helikoptern fliegen. Ich kannte die Tochter der einen Verletzten und habe darum alles von ihr mitgekriegt, vor allem den langen Heilungsprozess. Während den Anfangszeiten stiess ich bei krassen Unfällen manchmal an meine Grenzen, weil ich noch keine Routine hatte. Dann musste ich auch schon dem Kollegen sagen, er müsse übernehmen. Das kam aber schon lange nicht mehr vor.

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Angefrorene Finger

Nach einem Einsatz jedoch war ich selbst geschädigt, wenn auch nur physisch: Ich wurde zu einem Unfall auf dem Vorabgletscher gerufen. Es war stürmisch und um die minus 7 Grad. Per Zufall hatten sich zwei Seniorinnen aus dem gleichen deutschen Reisebus zur exakt selben Zeit verletzt. Die eine hatte einen Unterschenkelbruch und die andere hatte sich das Gesicht aufgeschlagen. Mein Kollege kümmerte sich um das Gesicht und ich mich um den Unterschenkel. Ich zog meine Handschuhe aus und wegen der eisigen Kälte froren mir sofort alle Finger ausser den beiden Daumen an. Ich konnte sie nicht mehr bewegen, keine Schnalle mehr schliessen, geschweige denn eine Schiene anlegen. Da sass ich nun mit den beiden verletzten Frauen auf dem Gletscher. Der Kollege musste alle drei verarzten. Und ich fühlte mich, als sei ich der Ärmste von allen. Die Frau mit dem gebrochenen Bein nahm es easy, dass ihr Retter gerade selbst gerettet werden musste.

Weil die Sicht so schlecht war, konnten wir nicht fliegen und mussten mit der Gondelbahn ins Tal fahren. Ich sass mit den beiden Damen in der Kabine: Die mit dem eingebundenen Gesicht sah aus wie eine Mumie aus einem Horrorfilm, sie blutete stark an den Lippen und überall war sehr viel Blut. Eine andere "gesunde" Frau stieg zu uns in die Gondel. Beim Anblick der Mumie fiel sie sofort in Ohnmacht. Ich war kurzfristig überfordert: Zwei verletzte Frauen, eine Ohnmächtige und ich mit steifen Fingern. Da wollte ich nur noch nach Hause. Zwei Wochen lange habe ich die Finger nicht mehr richtig gespürt. Aber die älteren Damen sind am härtesten im Nehmen. Die Wehleidigsten sind—wenn du mich fragst—südländische Männer. Klischee, ich weiss. Kinder hingegen verletzen sich selten, die sind noch gummig. Was eher vorkommt, ist, dass wir vermisste Kinder suchen müssen. Zuerst rufen wir im Hotel an, nicht dass wir zehn Leute aufbieten und das Kind schon im Hotel am Abchillen ist.

Eines Abends vermisste eine Mutter ihren kleinen Sohn. Ich fuhr über die Ebene in "Plaun". Dort ereignete sich vor ein paar Jahren ein schlimmer Unfall und ich kannte die Stelle gut. Ich durchfuhr die Fläche, um danach die Talabfahrt nach Flims in Angriff zu nehmen, als ich jemanden schreien hörte. Ich schaute instinktiv an jene Stelle, wo sich damals der Unfall ereignete und sah eine kleine Gestalt winken. Der siebenjährige Junge hatte Todesangst. Als er mich gesehen hat, umarmte er mich. Kinder sind ehrlich, ein Erwachsener hätte mir wahrscheinlich vorgeworfen: "Ihr müsst besser kontrollieren." Der Junge war so glücklich, dass er gefunden wurde, mit dem Schneetöff fahren durfte und dann seine Mama in die Arme schliessen konnte.

Baywatch am Berg

Unseren Lifestyle finden viele cool: braungebrannt, den ganzen Tag auf der Piste und mit den Schneequads durch die Gegend cruisen. Baywatch am Berg sozusagen. Das ist das Bild, das viele haben. Aber unser Job bringt auch Risiko mit sich: Öffnen wir eine neue Piste, müssen wir sicher sein, dass die Hänge daneben "sauber" sind. Dann stehe ich zuoberst hin mit einem gigantischen Böller in der Hand, zünde ihn, sprenge so den Hang und bin dann der erste, der im Pulverschnee fahren kann. Das lieben auch unsere Gäste: Wenn es über Nacht geschneit hat, sind wir in erhöhter Alarmbereitschaft. Die Werbebilder von den unberührten Powder-Hängen inspirieren viele und die ersten 200 fahren an den Neuschneemorgen sowieso abseits der Piste hinunter.

Einmal musste ich selbst um Hilfe rufen: Ich habe es ausgereizt und meinen Schneetöff versenkt. Ich steckte fest. Anstatt es allen zu funken, rief ich meinen Kollegen an, er solle mich doch aus der misslichen Situation bringen. Was macht er? Logisch, dass er es an alle funkt: "Ähm, Renato, wo steckst du jetzt genau fest? Wo muss ich dich rausziehen?" Das war peinlich. Aber alles in allem macht mir mein Job Spass. Ich liebe es, wenn etwas läuft—auch wenn es peinlich oder eiskalt wird. Solche und ähnliche Pisten-Horrorgeschichten lassen sich vermeiden, wenn du dich selbst und Risiken einschätzen kannst. Mit dem Schneesport-Check von Suva findest du heraus, welcher Pisten-Typ du bist und worauf du beim nächsten Trip in den Schnee achten solltest.