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Rassismus

Fast noch schlimmer als die Ausschreitungen: Wie Sachsens Regierung mit Chemnitz umgeht

Was der CDU-Ministerpräsident Kretschmer zu der Situation sagt, ist dumm – und leider typisch für die sächsische Politik.
Foto: Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V.

Am Montagnachmittag, als der sächsische Ministerpräsident sich endlich zu Wort meldete, war Folgendes bereits passiert:

- Ganz Deutschland hatte die Bilder aus Chemnitz gesehen, wo an die tausend Neonazis und rechte Hools am Sonntag das Stadtfest gesprengt und stundenlang offen Jagd auf Leute, die für sie nicht nach Deutschen aussahen, gemacht hatten.

- Der Sprecher der Bundesregierung hatte sich eingeschaltet und die "Hetzjagden" aufs Schärfste verurteilt.

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- Die Polizei hatte bekannt gegeben, dass tatsächlich ein Syrer und ein Iraker mutmaßlich für den Mord an einem 35-Jährigen verantwortlich sind – und es war bereits klar, dass die Ausschreitungen in der Stadt weitergehen würden. Gleichzeitig hatten linke Gruppen für eine eigene Demo in der Stadt mobilisiert.

An diesem Montagnachmittag also, als Chemnitz längst zu einem anderen Wort für Ausnahmezustand, Straßenschlachten und enthemmte Rechtsradikale geworden war, da gab Michael Kretschmer Folgendes bekannt:

Die Reaktionen auf dieses Machtwort waren in dem sozialen Netzwerk ziemlich einhellig: erstens, dass es ziemlich dumm ist. Und zweitens, dass es symptomatisch ist für die ganze Art und Weise, wie die sächsische Regierung seit Jahren mit allen Krisen dieser Art umgeht. Aber der Reihe nach:

Warum es so dumm ist

Zuerst mal, weil es die Situation offensichtlich falsch darstellt. Das Problem sind nicht mehr Rechtsextreme, die "im Netz Stimmung machen und zur Gewalt aufrufen", sondern Rechtsextreme, die ganz real die Straßen von Chemnitz übernommen haben und die Gewalt dort auch ausüben. Die laut Sprüche wie "Für jeden toten Deutschen einen toten Ausländer!" grölend durch die Innenstadt ziehen, sich Schlägereien mit der Polizei liefern und Hetzjagden veranstalten auf alle, die nach Ausländer, Zecke oder Journalist aussehen. Das ist widerlich, und der erste Schritt des Ministerpräsidenten sollte es sein, diese Realität, die wir alle in Hunderten Videos sehen können, auch anzuerkennen.

Fast noch schlimmer als diese Realitätsverweigerung ist aber die Schlussfolgerung, die Kretschmer daraus zieht. Was er absolut nicht zulassen will, was bei ihm so richtig die Kiemen anschwillen lässt, das ist nämlich: "Dass das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird".

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Nicht, dass Menschen in einer deutschen Stadt allein wegen ihrer Hautfarbe um ihr Leben rennen müssen. Nicht, dass eine Horde von Neonazis (und nicht "Chaoten") offensichtlich glaubt, dass Chemnitz ihnen gehört und sie dort machen können, was sie wollen – Menschen angreifen, Hitlergrüße zeigen –, ohne irgendeine rechtsstaatliche Konsequenz fürchten zu müssen. Nicht, dass die Polizei offensichtlich nicht in der Lage ist, diese Leute im Zaum zu halten. Nein, für Kretschmer sind die Zustände in seinem Land offenbar nicht das Problem. Sondern nur, wie sie "das Bild des Landes" beeinflussen.

Da haben wir aber schlechte Neuigkeiten für Sie, Herr Kretschmer: Das Bild Sachsens ist schon seit einer ganzen Weile im Arsch. Und schuld daran sind auch Sie und Ihre Vorgänger.

Warum es so typisch ist

Seit der Wiedervereinigung stellt die CDU in Sachsen den Ministerpräsidenten, und von Anfang an hat die Partei eine klare Haltung zum Rechtsextremismus in Sachsen gehabt: Sie hat ihn einfach ignoriert. Insofern hat Kretschmers Rebranding von Neonazis als apolitische "Chaoten" eine lange Tradition: Schon Kurt Biedenkopf, der allererste Ministerpräsident im neuen, bundesdeutschen Sachsen, behauptete in den 90ern, seine Sachsen seien "immun gegen Rechtsextremismus".

Seitdem hat die Sachsen-CDU immer an der Taktik festgehalten, jede Art von rechtsextremer Aktivität kleinzureden – auch dann noch, als Orte wie Hoyerswerda und Heidenau deutschlandweit zu Symbolen für Fremdenhass wurden, als der eigene Verfassungsschutz warnte, Sachsen sei eine "Hochburg des Rechtsextremismus", als mit der "Gruppe Freital" ein weiteres Mal eine rechtsextreme Terror-Vereinigung aufflog. Und jedesmal, wenn so etwas passierte, sorgten die sächsischen CDU-Politiker sich zuerst um das Image Sachsens – nicht darum, wie Gewalt Leben zerstört, den Alltag von Migranten zur Hölle macht oder wie zerrüttet die Psyche in Teilen des Landes bereits war.

Was Kretschmer macht, hat in Sachsen also lange Tradition. Das heißt aber nicht, dass die Sachsen-CDU damit immer durchkommen wird: Am Montag zum Beispiel ist ganz Deutschland aufgefallen, dass die Bundesregierung sich schon zu Chemnitz geäußert hatte, als Kretschmer immer noch keinen Pieps gemacht hatte. Und auch im Land selber scheint die Taktik des Totschweigens nicht mehr aufzugehen: Bei der letzten Bundestagswahl erreichte die AfD mit 27 Prozent mehr Stimmen im Freistaat als die CDU. Vielleicht würde es sich für die Sachsen-CDU also lohnen, es mal mit einer klaren Haltung zum Rechtsextremismus-Problem in ihrem Land zu versuchen. Das könnte nicht nur die Seele der Partei retten – sondern auch Menschenleben.

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