Menschen

Diese eine Liebe, über die du nie hinwegkommst

Es ist eine Ewigkeit her, neben dir schläft längst jemand Neues. Und trotzdem lässt dich diese eine alte Beziehung jahrelang nie ganz los. Warum? Wir haben Experten und Betroffene gefragt.
Zwei Menschen halten Händchen

"Oh Gott, da drüben ist mein Ex", sagt meine Bekannte. Der Club ist voll, aber ich habe alle Ausgänge im Blick – wir könnten in Sekunden hier raus sein, versichere ich ihr. Ganz so akut ist der Notfall dann doch nicht: "Geht schon", sagt sie. "Es ist nur so: Das ist DER Ex." Plötzlich verstehe ich, warum sie so blass geworden ist.

Alle, die ich kenne, haben DEN einen oder DIE eine Ex. Diese eine verflossene Beziehung, die in einer ganz anderen Liga zu spielen scheint als all die anderen. Eine Person, die uns in einem ganz anderen Maß geprägt hat als sonst irgendwer.

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Die meisten dieser Beziehungen scheinen sich den üblichen Regeln von Liebeskummer zu entziehen. Bei meinem wichtigsten Ex war es auch so: Wir waren nur etwa einen Monat zusammen, aber die Trennung setzte mich monatelang außer Gefecht. Damals glaubte ich an die Formel von Charlotte aus Sex and the City: "Nach einer Trennung brauchst du die Hälfte der Beziehungsdauer, um darüber hinwegzukommen." Oder an das Klischee schlechthin: Die Zeit heilt alle Wunden. Ich wartete darauf, dass die Trauer irgendwann versiegen würde, wie Sand, der durch eine Sanduhr läuft. Tat sie aber nicht.


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Amir Levine ist Psychologe an der Columbia University in New York und Koautor von Warum wir uns immer in den Falschen verlieben: Beziehungstypen und ihre Bedeutung für unsere Partnerschaft. Laut Levine kann die Trennung nach einer kurzen Beziehung sogar schmerzhafter sein als nach einer jahrelangen. "Wenn wir eine Beziehung an ihrem Höhepunkt abbrechen, ist das eine der schmerzhaftesten Erfahrungen, die wir machen können", sagt er.

Der Familientherapeut Matthew Johnson erforscht an der University of Alberta im kanadischen Edmonton die Entwicklung intimer Beziehung. Auch er sagt, dass Charlotte aus Sex and the City mit ihrer Berechnung daneben liegt. Zwar sei unser Leben nach einer langen Beziehung natürlich stärker mit dem der anderen Person verwoben. "Manchmal hängen Menschen aber insbesondere leidenschaftlichen, kurzen Romanzen nach, weil sie nur den Höhenflug des Verliebtseins mit dieser Person erlebt haben", sagt er. "Sie haben nie die schwierigen Aspekte des Alltags zusammen durchgemacht, obwohl man genau die bewältigen muss, um eine Liebe auf Dauer aufrechtzuerhalten."

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Die Länge der Beziehung ist also nicht unbedingt ausschlaggebend dafür, ob jemand dein wichtigster Ex wird. Auch das Timing spielt laut dem Psychologen Levine eine Rolle, gerade wenn es um eine Jugendliebe geht. "Wir haben so viel zusammen erlebt, und viele dieser Sachen waren damals für uns neue Erfahrungen", erinnert sich die 23-jährige Rohina. Sie lernte ihren Ex am Einführungstag ihrer Uni kennen, nachdem sie zum Studieren ins Ausland gezogen war. Auch Robert, 25, fand seine unvergessene Inzwischen-Ex in dieser Umbruchphase. "Wir halfen einander durch diese große Veränderung, als es mit dem Studium losging", sagt er.

Beim ersten Menschen, der dir Liebeskummer bereitet hat, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er die Sonderstellung des wichtigsten Ex erreicht. "Wenn du schon mal eine Trennung durchgemacht hast, dann weißt du, dass es erst mal hart ist und dann irgendwann besser wird", sagt der Psychologe. "Aber wenn du das zum ersten Mal erlebst, hast du noch keinen Vergleich."

Die Kanadierin Sarah Crosby startete 2018 ihren Podcast Recalculating über die unterschiedlichen Umbruchphasen des Lebens, nachdem sie selbst eine schlimme Trennung durchgemacht hatte. Bei ihrer Arbeit an dem Podcast kommt das Thema Verletzlichkeit immer wieder auf. "Ich denke, die Leute tragen in Bezug auf Trennungen auch sehr viel Scham mit sich rum", sagt sie über die Gäste in ihrer Show, die immer wieder klagten, sie seien zu verletzlich oder nicht verletzlich genug gewesen. "Anscheinend meinen die meisten Leute, dass du wirklich nur trauern darfst, wenn jemand gestorben ist."

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Auch die Experten Johnson und Levine sehen Scham als eine zusätzliche Belastung, die sich Menschen nach einer Trennung aufbürden. "Nicht nur leiden wir aufgrund des Beziehungsendes", so Levine, "sondern wir machen uns auch noch Vorwürfe, weil wir nicht schnell genug darüber hinwegkommen." Dabei sei es ja mitunter evolutionsbiologisch bedingt, wie sehr wir an diversen Menschen hängen – nach einem standardisierten Zeitplan über jemanden hinwegkommen zu wollen, ist da also utopisch.

Und manchmal ist einfach kein Ende in Sicht. Denise ist 62 und seit Jahrzehnten verheiratet. Trotzdem sticht in ihrer Biografie ein bestimmter Mann hervor. Ihr Freund während der Studienzeit geht ihr nicht aus dem Kopf – wohl auch, weil die Trennung damals eine schwerwiegende Veränderung lostrat. "Mir wurde klar, dass es in seiner Familie viel Missbrauch gab", sagt sie. Das sei für sie der Grund gewesen, seinen Heiratsantrag abzulehnen. "Zehn Jahre später wurde mir klar, dass ich davor weggelaufen war, weil es auch in meiner Familie Missbrauch gab, den ich verdrängt hatte." Aus dieser Erkenntnis habe sich bei Denise ein wichtiger Heilungsprozess entwickelt, von dem sie heute sagt, er habe ihr Leben vollkommen verändert.

Diese Erfahrung war für Denise auch ein Grund, warum sie damals zögerte, etwas mit ihrem Ehemann anzufangen. Levine, der Psychologe, betont, dass Verletzlichkeit nicht nur zu Leid, sondern auch zu Heilung führen kann. Wenn wir jemandem eine solche persönliche Entwicklung verdanken, nimmt die Person in unserer Biografie unweigerlich einen großen Stellenwert ein.

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"Mein wichtigster Ex war der Erste, bei dem ich keine Angst mehr vor einem Mann hatte, sondern das Gefühl, dass ich wieder vertrauen kann", sagt die 25-jährige Caitlin. Vorher sei sie in einer traumatischen Beziehung mit einem Mann gewesen, der sie missbraucht habe. Sie und ihr wichtigster Ex waren sechs Monate lang zusammen. "Auf lange Sicht hat diese Beziehung dazu geführt, dass ich überhaupt wieder Ansprüche an meine Mitmenschen gestellt habe", sagt sie.

Robyn ist 33 und sagt, sie habe niemanden "so frei und so leicht lieben können" wie ihren wichtigsten Ex, den sie mit 14 im Ferienlager kennenlernte und mit dem sie fünf Jahre lang eine Fernbeziehung führte. "Ich denke, er wird mich immer daran erinnern, wie unverdorben und voller Potential junge Liebe ist."

Diese unvergessenen Ex-Partnerinnen und -Partner sind nicht einfach nur Menschen. Sie stehen für die Entscheidungen, die unser Leben geprägt haben, und sie sind die Spiegel, in denen wir uns selbst sehen lernen. "Ich denke, in erster Linie trauern wir um den Menschen, der wir waren, als wir mit dieser Person zusammen waren", sagt Podcast-Moderatorin Crosby.

Für die ebenfalls betroffene Rohina steht DER Ex für mehr als nur für unsere Erinnerungen. "Das ist, wie wenn du deinen Daumen in feuchten Ton drückst", sagt sie. "Wie tief geht das? Wie sehr formt das deine Skulptur?"