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Asyldebatte

Wo Markus Söder das Wort "Asyltourismus" her hat

Der bayerische Ministerpräsident hat ein Wort aus dem Müllhaufen der Geschichte gezogen.
Collage aus Fotos von Söder (imago/ZUMA Press) und Migrantenboot (imago/Rene Traut)

Im August 2015 entdeckte die österreichische Polizei einen abgestellten Kühllaster in einer Autobahn-Pannenbucht nahe der ungarischen Grenze. Der Fahrer war nirgends zu sehen, die Türen des Laderaums waren verriegelt. Als die Polizisten sie aufbrachen, fanden sie darin 71 erstickte Männer, Frauen und Kinder – aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Iran.

"Asyltouristen", wie Markus Söder sagen würde.

Das Wort "Asyltourismus", das der bayerische Ministerpräsident am Donnerstagabend in den ARD-Tagesthemen fallen ließ, sorgt zu Recht für Entsetzen. Menschen, die alles hinter sich lassen, um Zuflucht zu finden oder sich ein neues Leben in der Unsicherheit aufzubauen, als Touristen zu bezeichnen, ist zynisch bis menschenverachtend. Was aber nicht alle wissen: Das Wort hat in Deutschland eine lange Tradition. Und zwar nicht nur bei der NPD.

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Tatsächlich ist Söder auch nicht der erste CSU-Politiker, der den Begriff benutzt: Erst am Montag hat der bayerische Innenminister Joachim Herrmann das Wort in einem Interview mit dem Handelsblatt aus dem Sack gelassen. Weil das aber wenig Beachtung fand, hat Söder offenbar beschlossen, den Begriff noch einmal prominenter zu platzieren – erst in den Tagesthemen, dann nochmal auf Twitter.

Damit ist klar, dass die CSU das Wort ganz bewusst in der Debatte unterbringen will. Der Zweck ist offensichtlich: Das Wort soll das Problem beschreiben, das die CSU mit ihrer Forderung lösen will, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen, die schon in einem anderen EU-Land registriert wurden. (Juristen streiten sich immer noch darüber, ob das rechtlich überhaupt erlaubt ist.) Mit "Asyltourismus" meinen Söder und Herrmann also nicht unbedingt alle Flüchtlinge, sondern nur die, die innerhalb Europas weiterreisen. Söder jetzt mit dem Elend der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer zu konfrontieren, ist also nicht ganz richtig. Das macht es nur eben nicht besser: Er meint Menschen wie die, die an der ungarisch-österreichischen Grenze in dem Lastwagen erstickt sind.

Interessant an dem Wort ist, dass es bis vor ein paar Tagen in der aktuellen Asyldebatte eigentlich kaum benutzt wurde. Außer bei der NPD, die den Begriff liebevoll über Jahre gehütet hat, war das Wort bei keiner Partei wirklich gang und gäbe, nicht mal bei der AfD.

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Ein Graph, der die Häufigkeit des Wortes

Die Häufigkeit des Begriffs "Asyltourismus" in deutschen Büchern. Quelle: Google Ngram Viewer

Das war allerdings nicht immer so: In den frühen Neunzigern, als Deutschland zum ersten Mal eine große Asyldebatte führte, warfen die Politiker mit dem Begriff "Asyltouristen" nur so um sich. Allerdings war die Debatte damals auch in der Mitte der Gesellschaft noch von deutlich schärferer Sprache geprägt: Selbst in FAZ und Zeit erschienen in den Neunzigern Artikel, die davon sprachen, dass man "die Asylflut eindämmen" müsse. Die Bundeszentrale für politische Bildung spricht von einem "düsteren Gebräu an zunächst ausländerfeindlichen und bald allgemein fremdenfeindlichen Abwehrhaltungen", das sich im Deutschland der frühen Neunziger gebildet hatte.

Auch damals meinte man mit dem Wort vor allem Geflüchtete, die sich ihren Zufluchtsstaat innerhalb Europas selbst aussuchen wollten. Und auch damals empfand man das offenbar als eine solche Zumutung, dass die deutsche Politik beschloss, diese Unsitte ein für allemal ein zu beenden. Am 26. Mai 1993 beschloss der Bundestag eine Grundgesetzänderung, die im Wesentlichen besagte, dass Deutschland weiterhin gerne Asylbewerber empfangen würde – nur nicht solche, die über ein EU-Land oder ein anderes Nachbarland eingereist sind. Soll heißen: eigentlich niemanden, außer er kommt mit dem Flugzeug, und das hat die EU leider auch verboten.

Das Ergebnis: Obwohl Deutschland die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hatte, gab und gibt es heute praktisch keine legale Möglichkeit für Flüchtlinge mehr, nach Deutschland einzureisen. In der Theorie sollten Flüchtlinge also in dem EU-Land Asyl erhalten, indem sie zuerst registriert wurden – was natürlich die südlichen Staaten mit EU-Außengrenze wie Italien und Griechenland mit dem Problem alleine lässt. Dass das System nicht wirklich funktioniert, haben die Ereignisse von 2015 gezeigt, wo die Italiener zahllose Flüchtlinge irgendwann einfach durchgewunken haben, und Deutschland sie später aufnahm.

Die Lehre aus der Geschichte: Unter dem Vorwand, den "Asyltourismus" zu bekämpfen, haben die deutschen Politiker in den frühen Neunzigern das Recht auf Asyl praktisch gleich mit abgeschafft. Kein Wunder, dass Söder das Wort jetzt unbedingt wiederbeleben will.

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