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Meine Eltern waren Impfkritiker und haben meine Beziehung zur Medizin versaut

„Die Fakten sprechen eine klare Sprache und der Glaube auch—nur sprechen eben beide eine komplett andere."
Titelfoto von John Vachon

Der Mann im weissen Kittel schaute mir fassungslos in die Augen. Wieder und wieder blätterte er das gelb-weisse Heftchen durch. Fragte mich, ob ich nicht noch eines davon hätte. Er konnte schlicht nicht glauben, was ihm mein Impfbüchlein verriet: In meinen mehr als 20 Jahren auf dieser Erde bestätigten gerade mal zwei Ärzte mit ihrem Gekritzel, dass eine Spritzennadel den Weg durch meine Hautschichten gefunden hatte.

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Zehn Minuten nachdem ich all seine Fragen verneint hatte, kritzelte er selbst seine unleserliche Unterschrift hinter den unaussprechbaren Namen einer Impfung. Eintrag Nummer drei. Geht es nach dem Bundesamt für Gesundheit sollten—nach heutigen Standards—aber schon 23 Einträge die Zeilen des Büchleins ausfüllen. Dass meines eher aussieht wie der Reisepass eines Einsiedlers, liegt zu einem grossen Teil an meinen Eltern.

Ein einsamer Eintrag in meinem Impfbüchlein. Foto vom Autor.

Als ich Ende der 80er-Jahre in einem Provinzspital in die Welt geworfen wurde, thronten Milli Vanilli gerade auf dem ersten Platz der deutschen Single-Charts. Von dort aus trällerten sie „Girl you know it's true" durch alle Radiostationen ohne Seele. Wie sich später herausstellen sollte, war aber nichts davon „true". Alles gelogen, alles Playback, alles falsch. Mindestens so falsch war die damalige Entscheidung meiner Eltern, mich nicht impfen zu lassen.

Mein Vater und meine Mutter waren keine radikalen Impfgegner. Sie ordneten sich keinem Dogma zwischen undifferenzierter Kritik und Verschwörungstheorie unter. Bei meinem Vater bezweifle ich sogar, dass ihm wirklich bewusst war, was für eine Entscheidung er da treffen sollte.

Soweit ich das beurteilen kann, war er allein schon von der Tatsache überfordert, dass er nur ein Jahr nach seiner Volljährigkeit, ohne abgeschlossene Ausbildung und ohne Lebensziele—dafür mit sehr grossem Interesse an Trial-Bikes, Schnaps-Partys und Gras—die Verantwortung für so ein kreischendes, kackendes und kotzendes Ding übernehmen sollte. Ich habe zwar nie mit ihm darüber gesprochen, nehme aber an, dass er den Impfentscheid—wie so ziemlich alle anderen Entscheidungen in meiner Erziehung—meiner Mutter überliess.

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Wie hoffentlich jede Mutter dieser Welt, wollte meine nur das Beste für mich. Sie gab ihren Job auf und war rund um die Uhr für mich da. Das Beste bestand für sie aber auch darin, sich genau zu überlegen, wie weit sie mich in das gesellschaftliche Verständnis von „normal" integrieren sollte.

Sie hatte ihre klaren Überzeugungen. Die da oben waren meistens die Bösen, die ihre Freiheit einschränken wollten. Und Konzerne existierten hauptsächlich, um ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen—obwohl es bei uns, die wir von gerade mal ein paar hundert Franken pro Monat lebten, nichts zu holen gab. In dieser Realität, die von der Brutalität der Welt überzeugt war, wurde ich erzogen.

Während gleichaltrige Kinder sich in der Spielgruppe unter Aufsicht gegenseitig die Schädel einschlugen, stopfte ich also auf dem heimischen Spielplatz Sandkörner in mich hinein. Wenige Jahre später überlegte sich meine Mutter, ob sie mir zumuten könne, meine Kindergartenfreunde nicht im Dorf, sondern in der weit entfernten Waldorfschule zu finden (nein, konnte sie nicht). Und anstatt bei Krankheit üblichen Arztbesuchen bekam ich Bachblüten-Shots und Globuli-Zuckerkügelchen.

Foto: Public Domain

Ich fand das lange Zeit OK. Ich hatte keine Allergien und während andere sich von Wintergrippe zu Wintergrippe keuchten, blieb mein Absenzenheft leer. Ich war gesund—das war das Wichtigste. Bloss wieso? Hatte ich wirklich ein stärkeres Immunsystem, weil ich als Kind genug Dreck gefressen hatte—wie meine Mutter das sagte? War ich weniger auf Krankheiten sensibilisiert als Menschen, die mehr Medikamente kannten als Aspirin und ging darum nie zum Arzt? Oder hatte ich einfach Glück? Eine abschliessende Antwort darauf habe ich bis heute nicht. Ich weiss nur, dass mein Verhältnis zur Medizin stark unter dieser Erziehung gelitten hat.

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Meine Eltern liessen mir sehr viele Freiheiten. Ich entschied selbst, ob ich mich durch das Gymnasium oder die Sekundarschule quäle, mit wieviel Alkohol ich mich volllaufen lasse und ob, was und wo ich studiere. Das hatte sehr viele gute Seiten. Als Teenie fragten mich meine Eltern etwa nie, wo und wie ich die Abende verbracht habe—und gerade darum erzählte ich es ihnen.

Jedoch hatte es auch seine schlechten Seiten. Als Kind und Teenie war ich schlicht noch nicht bereit dazu, mich aus eigener Überzeugung für die von der Schule angebotenen Arztbesuche zu entscheiden. Kinder und Teenies brauchen eine Guideline, ein How-to fürs Leben. Und das existiert nun mal zu einem grossen Teil in Form ihrer Eltern.

Möglichkeiten, mir eine Guideline zu geben, hätten meine Eltern durchaus gehabt. Ich erinnere mich etwa, dass ich mit acht oder neun Jahren in der Biologie-Fragestunde den Satz „Was passiert mit mir, wenn ich Bauchschmerzen habe?" auf einen Zettel kritzelte. Das Interesse an medizinischen Fragen war also durchaus da. Eine Antwort darauf habe ich aber weder von meiner Lehrerin, noch von meinen Eltern bekommen.

Auch bei meinen Absagen an die Schul-Arztbesuche hätten meine Eltern intervenieren können, doch ihnen war meine Freiheit wichtiger. Und so verglichen meine 13-jährigen Freunde ihre erstmals offiziell bestätigte Hodensackgrösse ohne mich.

In den vergangenen Jahren führte meine medizinfremde Erziehung immer wieder zu absurden Situationen. Einmal etwa war ich total verliebt in eine Hypochonderin, deren Medikamtenvorrat wohl den Wert meines gesamten Besitzes überstieg. Und hin und wieder versorgte ich für einen miesen Studentenlohn tagelang Ärzte an Kongressen mit sprudelndem Mineralwasser. Ich—umgeben von hunderten Menschen, die mir wohl Pillen und Zäpfchen nachschmeissen würden, wenn sie meine Geschichte kennen würden.

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Foto: Public Domain

Das erste Mal für eine Untersuchung zum Arzt—die Zahnarztbesuche mal ausgeklammert—ging ich schliesslich mit 22 Jahren. Diagnose: Ausser den ungläubigen Blicken in mein Impfbüchlein war alles OK. Nach diesem bewussten Erstkontakt mit einem Arzt und seiner Spritze hat mich meine Mutter gefragt, ob ich ihre Entscheidung mich nicht impfen zu lassen, verantwortungslos fände. Ich fauchte sie etwas zu vehement an, dass sie damit mein Leben riskiert habe. Ähnlich wie ich sie anfauche, wenn wir über Religion, Glaube und alternative Heilmethoden diskutieren wollen.

Das Problem ist bei beiden Diskussionen dasselbe: Die Zahlen sprechen eine klare Sprache und der Glaube auch—nur sprechen eben beide eine komplett andere. Für meine Mutter war das Gefühl wichtiger, für mich die Fakten. Und die sind klar. In Indien steckten sich etwa Ende der 80er-Jahre jährlich etwa 1.000 Kinder mit Polio an. Heute ist die Kinderlähmung dort ausgestorben. Nicht, weil Impfkritiker die durchgeführte Impfkampagne so kritisch hinterfragt haben, sondern weil neues Wissen als etwas Wertvolles angenommen wurde und so das Virus besiegt werden konnte.

Ich finde es OK, wenn Menschen wie meine Mutter ihr etwas romantisch verklärtes Bild der Welt haben. Das Recht auf eine eigene Realität möchte ich niemandem absprechen. Die Grundfrage beim Impfen bleibt aber: Verzichtest du für eine gefühlte Freiheit lieber darauf, Pharmakonzernen ein paar Franken in den Arsch zu schieben oder auf eine bessere Gesundheit? Meine Eltern wählten die Gesundheit—und mir ist bis heute trotzdem nichts Schlimmes passiert.

Und doch verstehe ich nicht, wie man sich selbst über wissenschaftlich so eindeutige Erkenntnisse stellen und aus dieser Anti-Establishment-Haltung heraus sein eigenes Kind in Gefahr bringen kann—und gleichzeitig einen der wichtigsten medizinischen Erfolge der vergangenen Jahrhunderte einfach ignoriert.

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelfoto von John Vachon | Wikimedia | Public Domain