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Sex

10 Fragen an eine Frau im Rollstuhl, die du dich niemals trauen würdest zu stellen

Wie ist der Sex? Nutzt du den Behindertenbonus aus? Und kannst du im Berghain an der Schlange vorbeirollen?
Eine Frau im Rollstuhl

Laura Gehlhaar, 33, geht gerne aus, hatte eine heftige Tinder-Phase, ist sarkastisch und arbeitet in einem Coworkingspace in Berlin-Kreuzberg. So weit, so Berlin-normal. Seit zehn Jahren sitzt sie im Rollstuhl, was auch vollkommen normal ist—nur eben oft nicht für Menschen um Laura herum. Um das zu ändern, schreibt sie auf ihrem Blog Frau Gehlhaar über ihr Leben als Rollstuhlfahrerin in der Großstadt. Darüber, wie Nichtbehinderte und Behinderte miteinander klarkommen oder wie ihre Behinderung als Arschloch-Filter beim Daten funktioniert.

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Oder sie sammelt die dümmsten Sprüche, die sie zu hören bekommt, zu einem Rollstuhlfahrer-Bullshitbingo: "Soll ich mal schieben? Ich habe mal Zivi gemacht." Oder: "Ich könnte das ja nicht." Mitte September erschien übrigens ihr erstes Buch, deren Titel auf einem dieser Bullshit-Sprüche basiert: Kann man da noch was machen?

Laura sagt, dass sie kein Problem mit ihrer Behinderung habe—nur damit, dass die Menschen ihr gegenüber so befangen sind und sie wie ein Kuriosum behandeln. Und das komme eben daher, dass die wenigsten Behinderte kennen würden—oder sich nicht trauten, ihnen Fragen zu stellen. Das holen wir hier nach.

VICE: Ist der Sex anders?
Laura: Bei mir geht alles. Und was heißt schon anders? Sex ist ja nicht "so" oder "so". Es ist ja nicht nur Rein-Raus, sondern tausend andere Dinge. Jeder muss für sich schauen, was er gut findet und wie er das mit seinem Partner ausleben kann. Als Mensch mit Behinderung muss man sich zwangsläufig mit seinem eingeschränkten Körper auseinandersetzen und ihn gut kennen. Man muss kreativer sein, viele Dinge ausprobieren und entwickelt dabei ein sehr gutes Körpergefühl. Das macht den Sex besser. Ich weiß nicht, ob ich besonders toll im Bett bin. Aber bis jetzt hat sich keiner beschwert.

Das ist Laura | Alle Fotos: Schall & Schnabel

Sagst du auf Tinder, dass du im Rollstuhl sitzt?
Klar. Ich schreibe jetzt keinen Aufsatz darüber. Aber das sieht man ja auf Bildern. Und bei einem Foto im Rollstuhl habe ich drunter geschrieben: "Es ist fast wie Sex mit meinem Rollstuhl: Er quietscht, ich stöhne." Ich hatte einen Sommer, in dem ich viel getindert habe, und ein Jahr später einen Tinder-Frühling. Da wollte ich auch keinen Lebenspartner finden, sondern einfach nur Sex haben. Ich habe natürlich viele Deppen kennengelernt, aber auch richtig coole Typen. Und irgendwann war einer dabei, mit dem ich bis heute zusammen bin.

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Hattest du Angst, dass jemand nur aus Neugier mit dir schlafen will?
Angst habe ich nicht. Aber klar passiert sowas. Ziemlich oft sogar. Da ist Neugierde. Viele wollen ein Häkchen auf ihrer Liste machen, etwas Neues ausprobieren. Aber das merkt man ganz schnell an dieser übermäßigen Interessiertheit an der Behinderung. Die wollen dann alles über meine Erkrankung wissen.

Ist Liebe anders, wenn man auf Hilfe von seinem Partner angewiesen ist?
Mein Freund ist mein Freund und nicht mein Pfleger. Aber man wird schon in Schubladen gesteckt. Mein Freund wird automatisch als der Fürsorgliche abgestempelt, der großartige Held, nur weil er eine Freundin mit Behinderung hat. Klar ist er toll. Aber nicht, weil er mit mir zusammen ist. Natürlich holt er mir mal was aus dem Regal und ist mein verlängerter Arm. Aber ich helfe ihm ja genauso. Ich bin auch fürsorglich und seine starke Schulter. Wir sind ein Team. Da gibt es keinen Stärkeren.

Nutzt du deinen Rollstuhl auch mal aus?
Klar. Wenn bei der Post eine Riesenschlange ist, freue ich mich, wenn die Frau am Schalter mich vorbei winkt und die anderen eine halbe Stunde warten müssen. Ich bin auch eine notorische Zuspätkommerin. Das kann ich auf den Rollstuhl schieben: "Musste voll lang auf den Aufzug warten", sage ich dann. Oder: "Die Bahn war zu voll."

Kommst du in jeden Club, weil die Türsteher sich nicht trauen, dich abzuweisen und rollst du an der Schlange vorm Berghain einfach vorbei?
Klar. Das habe ich ein paar Mal gemacht. Ich weiß jetzt aber nicht, ob das wegen des Behindertenbonusses geklappt hat, oder einfach so. Ein Trick, der in Clubschlangen immer funktioniert: Ich fahre ganz vor und frage—obwohl ich das eigentlich schon ganz genau weiß—: "Entschuldigung, komme ich hier auch als Rollstuhlfahrerin rein?" Dann sagen sie: "Aber natürlich, komm rein, komm!" Klappt immer. Aber es kam auch schon vor, dass ich wegen des Rollstuhls an der Tür abgewiesen wurde.

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Der Türsteher sagte, dass niemand meine Sicherheit im Club garantieren könne. Diesen Sicherheitsaspekt halte ich für vorgeschoben. Ich will nicht, dass mich jemand bevormundet. Dass immer noch sehr wenige Behinderte ausgehen, merke ich an den ganzen Daumen-Hoch-Sprüchen, die ich bekomme: "Toll, dass du auch rausgehst! Respekt!" Am geilsten sind Typen, die sich verständnisvoll vor mich hinknien, die Ellenbogen auf mein Bein abstützen, nach dem Motto: Guckt mal her, ich habe null Berührungsängste. Und dann, erste Frage: "Was ist denn dir passiert?" Solchen klopfe ich immer auf die Schulter und sage: "Im Flirten Note sechs."

Ist es dreist zu fragen, was genau bei dir nicht funktioniert?
Nee, ich bin da schon offen. Aber wenn man sich nicht kennt, dann sollte das nicht die erste Frage sein. Das ist unhöflich. Meine Gesundheit ist etwas Privates. Ich frage auch nicht als Gesprächseinstieg: Wie war dein Stuhlgang? Aber wenn ich mit jemanden vertraut bin, erkläre ich, dass ich eine Muskelerkrankung habe. Es ist normal, dass Menschen sich interessieren, aber lern mich doch erstmal kennen. So ähnlich ist es mit Behindertenwitzen. Wenn das ein Fremder macht, finde ich es unangebracht. Aber Witze über Krankheiten liebe ich ja selber. Zum Beispiel: Was sagt ein Schizophrener nach dem Sex? [prustet los, noch bevor sie eine Antwort gibt] Und, wer war ich?

Was nervt mehr: Wenn Menschen dich anstarren, oder wenn sie weggucken?
Beides. Beides kommt von einer Unsicherheit, die mich ärgert. Das passiert, weil die meisten keine Behinderten kennen. Wenn sie zu unserem alltäglichen Bild gehören würden, gäbe es diese Unsicherheit nicht. Aber sobald du in Deutschland eine Diagnose bekommst, die eine Behinderung nach sich zieht, rutschst du in ein System, das dich für den Rest der Gesellschaft unsichtbar macht. Du gehst in einen Förderkindergarten, dann auf eine Sonderschule, dann in eine Werkstatt für Behinderte oder in ein spezielles Wohnheim.

In Deutschland wird man nicht mit Behinderten groß, wird nicht mit ihnen konfrontiert. Deswegen bekomme ich all diese Blicke: die interessierten, die starrenden, die bewundernden, die mitleidigen. Oder Menschen gucken heimlich, wie bei einem Verkehrsunfall. Nach dem Motto: Ich weiß, ich sollte nicht gaffen, aber das ist so interessant. Ich weiß, dass Menschen erstmal glotzen müssen, damit Menschen wie ich irgendwann als Normalität abgespeichert werden. Aber wenn jemand auf der Straße stehen bleibt, um mir hinterher zu gucken, ist das schon nervig.

Stört dich das Lächeln von Unbekannten—und ungefragte Hilfsangebote?
Nö, ich finde, gerade in Berlin dürfen die Leute mehr lächeln. Und Hilfsangebote finde ich immer gut, solange man mir Raum gibt, sie abzulehnen. Ungefragt anfassen geht zum Beispiel nicht. Aber fragt mich gern. Manchmal werde ich sagen "Nein, danke", und dann ist das Thema abgehakt.

Gibt es Momente, in denen du dein Schicksal hasst?
Nein. Aber es gibt Momente, in denen ich verzweifelt bin, weil ich wegen meiner Behinderung diskriminiert werde. Zum Beispiel wenn Leute Urteile über mich fällen, ohne mich zu kennen. "Die Arme hat bestimmt ein trauriges Leben", so etwas. Früher dachte ich dann: "Scheißbehinderung." Jetzt denke ich: "Das ist mein Körper. Er hat meine Persönlichkeit geprägt. Ich bin gut, wie ich bin." Aber es macht mich sauer, dass Behinderte nicht die gleichen Rechte vor dem Gesetz haben.

Ein Beispiel: Behinderte, die beim täglichen Leben auf einen Assistenten angewiesen sind, müssen zum Sozialamt. Sie müssen wie Sozialhilfe-Empfänger ihr Konto offen legen und dürfen nicht mehr als 2.600 Euro drauf haben. Hätte ich so einen Assistenten, dürfte ich von meinen Einkünften nur knapp 800 Euro behalten. Deswegen habe ich keinen, auch wenn mein Leben viel einfacher wäre, wenn jemand mir beim Einkaufen und Putzen helfen würde.