Der Forscher Kim Holmen in Ny-Ålesund
Der Schwede Kim Holmen auf dem Dach der Forschungsstation Sverdrup des Norwegischen Polarinstituts in Ny-Ålesund | Foto: Craig S. Smith
Politik

Ein letzter Besuch in der Arktis, bevor der Mensch sie zerstört

Militärmanöver und Ölkämpfe? Davon bekommen die Einwohner der Arktis nichts mit. Sie haben viel mehr Angst vor dem Klimawandel – und den drohenden Touristenmassen.

Von unserem Schiff aus blicken wir über das Meereis. Drei milchige Punkte bewegen sich durch die Stille – eine Eisbärin mit ihren beiden Jungen. Wir haben eben den Hafen von Longyearbyen verlassen, dem größten Ort der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen nördlich des Polarkreises.

Doch danach sehen wir auf unserer weiteren Fahrt Richtung Norden kein Eis mehr. Obwohl Spitzbergen auf halber Strecke zwischen der Nordspitze Norwegens und dem Nordpol liegt: überall nur Wasser.

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Ich bin in der Arktis, um herauszufinden, wie Menschen, die dort leben und arbeiten, die geopolitische Debatte wahrnehmen, jetzt wo der Klimawandel die Region zugänglicher macht: Es geht um Landraub, versteckte Ölschätze, strategische Schiffsrouten. Ich will wissen, wie diese Bedrohungen vor Ort aussehen. Und natürlich hoffe ich, selbst Fuß auf das arktische Meereis zu setzen – davon träume ich seit meiner Kindheit.

Die Realität hat mit den Träumen nicht viel gemeinsam. Es ist Juni, wir segeln eine Woche lang nordwärts und sehen in der ganzen Zeit weder richtiges Eis noch Anzeichen für internationale außenpolitische Manöver oder Ölbohrvorhaben. Stattdessen treffe ich verdutzte Menschen, die schon lange im hohen Norden leben und sich erst noch an den schnellen, vom Klima beeinflussten Wandel der Region gewöhnen müssen. Alle, mit denen ich spreche, sorgen sich mehr um die Tierwelt der Region als um rivalisierende Staaten. Die um den Polarkreis einheimischen Inuit sehen ihre einzigartigen Kulturen und Lebensweisen in Gefahr.

Im Juni 1818 wagte sich der Entdecker Sir John Franklin nördlich von Spitzbergen. Es war seine erste, gescheiterte Expedition auf der Suche nach einer arktischen Seeroute zwischen dem Atlantik und dem Pazifik. Das Tauwerk des Schiffs war so eisverhangen wie das Meer: So weit das Auge bis zum nördlichen Horizont reichte, überall nur Eis.

Das Verschwinden des Eises an der Spitze der Welt macht die Arktis zu einer strategisch wichtigen Region für die umliegenden Staaten.

200 Jahre später steche ich hier selbst in See, und zwar in einer Schonerbark, einem Großsegelschiff, das dem von Sir John Franklin ähnelt. Mit an Bord ist eine Gruppe von Künstlern, unser Kapitän ist Niederländer. Doch wo Franklin Eis vorfand, ist alles blau und nass. Aktuell liegt die Größe der Eisfläche nördlich von Spitzbergen 40 Prozent unter dem Sommerdurchschnitt der letzten vierzig Jahre. Laut unserem Kapitän beginnt die gefrorene Polarkappe mindestens 160 Kilometer weiter nördlich, als wir Zeit haben zu segeln.

Alle wissen, dass die Arktis schmilzt. Aber die Konfrontation mit dem völlig eisfreien Polarmeer, wo Franklin vor 200 Jahren längst nicht mehr navigieren konnte, ist dennoch ein Schock. Seit Ende der 1970er hat das Volumen des arktischen Meereises um mehr als 70 Prozent abgenommen, sowohl in der Ausbreitung als auch in der Dicke.

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Die Polarkappe hatte vor 40 Jahren zum Ende der Sommerschmelze noch etwa die Größe der USA und reichte bis vor Kurzem noch verlässlich an die nördlichen Küsten von Grönland und Kanada. Letzten August war das Wasser vor der grönländischen Küste auf einmal flüssig, als das Eis dort zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen aufbrach. Einige Forscher sagen voraus, dass in etwas weniger als einem Jahrzehnt der Arktische Ozean nur noch im Winter zufrieren wird.

Das Verschwinden des Eises an der Spitze der Welt öffnet die Arktis für die Schifffahrt, Fischerei sowie Öl- und Gasbohrungen und macht sie zu einer strategisch wichtigen Region für die umliegenden Staaten. Wie viele andere hat der Entdecker Vilhjalmur Stefansson in den 1920er Jahren vorhergesagt, dass der Arktische Ozean eines Tages wie ein neues Mittelmeer sein wird, umringt von rivalisierenden Nationen.

 A mother polar bear and two cubs on an expanse of sea ice in Svalbard. Photo by Craig S. Smith

Eine Eisbärin mit ihren beiden Jungen | Foto mit freundlicher Genehmigung von Rachel Honnery

Im Mai schockierte der US-Außenminister Mike Pompeo mit einer Aussage auf einem Ministertreffen des Arktischen Rats, der die Gesetzgebung zwischen den acht arktischen Nationen sowie Vertretern der indigenen Bevölkerung der Region koordiniert. Die Arktis sei eine "Arena der Macht und des Wettbewerbs" geworden. "Dies ist der Zeitpunkt für Amerika, sich als arktische Nation zu zeigen und sich für die Zukunft der Arktis einzusetzen", sagte er. "Die Arktis ist an der vordersten Front der Möglichkeiten und des Überflusses."

Die auf Spitzbergen lebenden Menschen weichen den Fragen nach Geopolitik aus. Sie schniefen und schauen weg, lächeln und zucken die Schultern. Russen und Norwegerinnen, Chinesinnen und Kanadier bevölkern gemeinsam die Handvoll Siedlungen der norwegischen Inselgruppe. Ein Gefühl für internationale Intrigen gibt es nicht einmal in der Bergarbeitersiedlung Barentsburg. Sie stammt aus einer Zeit, als die Sowjetunion noch größere Ambitionen für die Arktis hatte und in den Kohleabbau investierte. Heute begegnet mir auch in Barentsburg vor allem die Sorge darüber, was ein immer wärmerer Planet für die Region bedeutet.

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Vision was sharp and clear in the dry, dustless air. Photo by Craig S. Smith

Foto: Craig S. Smith

Russland ist das arktischste Land: 40 Prozent der Landmasse nördlich des Polarkreises sind russisch, ebenso drei Viertel der dortigen Bevölkerung. Militärstützpunkte, die seit der Sowjet-Ära leer standen oder vernachlässigt wurden, baut Russland in letzter Zeit wieder gezielt auf.

In Reaktion darauf prophezeien konservative Beobachter und militärische Hardliner, dass die Arktis zum Schauplatz eines wahrlich Kalten Krieges werden könnte. "Russland wertet Norwegens Spitzbergen-Politik als Kriegsrisiko", verkündete eine Schlagzeile im Barents Observer Ende 2017. "Die Arktis schmilzt und Territorialkonflikte werden heißer", warnte der britische Independent im Frühjahr 2018.

US-Politiker und Amtsträger, angeführt von Senator Dan Sullivan, einem Republikaner aus Alaska, und dem ehemaligen Verteidigungsminister James Mattis, fordern größere Militärbudgets für den hohen Norden, um gegen das russische Aufrüsten anzukommen. Eine Karte der russischen Militäreinrichtungen in der Arktis, herausgegeben von Senator Sullivans Büro, wird oft für Warnungen vor den "aggressiven Schritten" Moskaus eingesetzt.

In seiner Rede vor dem Arktischen Rat kritisierte Pompeo außerdem Russland und China aufs Schärfste für "aggressives Verhalten" und betonte, dass vor allem Russland "im Schnee die Abdrücke von Kampfstiefeln" hinterlasse.

Doch viele der russischen Bemühungen gelten tatsächlich einem ausgedehnten Netzwerk an Rettungsstationen, die Schiffsrouten entlang der Nordostpassage bedienen sollen. Diese Seeroute gilt aufgrund der globalen Erwärmung zunehmend als nutzbar. Alison LeClaire, die als Kanadas Senior Arctic Official im Arktischen Rat sitzt, bezeichnet dies als "legitime staatliche Aktivitäten" und merkt an, dass die Militärpräsenz Russlands heute bei Weitem nicht so ausgeprägt sei wie zu Sowjet-Zeiten. "Das ist eine Regierung, die eine wachsende Quelle des Wohlstands in ihren nördlichen Gebieten zu verteidigen hat", sagt LeClaire am Telefon. "Unserer Einschätzung nach gibt es da keine militärische Bedrohung."

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Selbst Julia Gourley, eine Beamtin des US-Außenministeriums und die US-Repräsentantin im Arktischen Rat, stimmt zu. "Es gibt keine Beweise dafür, dass Russland aggressive Absichten verfolgt, auch wenn das Land die militärischen Einrichtungen in der Region stärkt", sagte sie 2016 vor dem Kongress.

"Hier denkt niemand über Politik nach", sagt Sergei Anenkow, ein Bergarbeiter in Barentsburg auf Spitzbergen. Er serviert mir Kaffee und Mohnküchlein in seiner Einzimmerwohnung. Die meisten Bergarbeiter in der Siedlung stammen aus der Ukraine, sagt Sergei, doch selbst während der russischen Krim-Invasion habe es in Barentsburg keine Spannungen gegeben. Stattdessen würden sich Anenkov und seine Freunde fühlen wie Zeugen einer bald vergessenen Welt.

Im einsamen russischen Konsulat von Barentsburg – der nördlichsten Auslandsvertretung der Welt – betont ein Attaché, dass sich das Konsulat vor allem um Reisepässe für die hiesigen Russinnen und Russen kümmere. Tourismus und Forschung seien die Zukunft der Siedlung, sagt er.

Die unwirtlich aussehenden Ziegelgebäude des Ortes haben vor Kurzem farbige Verkleidungen bekommen. Das größte und neueste Bauwerk ist ein blaues Entertainment-Center, dort tanzen und singen Arbeiterinnen und Arbeiter für die wenigen Touristen, die jeden Tag kommen. Ein kleines Klimaforschungszentrum hat am anderen Ende von Barentsburg eröffnet. "Hier gibt es keine Intrigen", sagt der Leiter des Zentrums, Aleksandr Nowikow. "Wir arbeiten hier mit vielen Ländern zusammen, darunter die USA."

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Dass vielerorts von potentiellen Konflikten gemunkelt wird, liegt auch daran, dass einige arktische Staaten – USA, Kanada, Dänemark, Norwegen und Russland – ihr Gebiet erweitern wollen, wenn das Eis zurückweicht. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen garantiert Ländern Hoheitsrechte für Unterwassergebiete, wenn sie beweisen können, dass ihr Festlandsockel sich weiter erstreckt als die 200 Seemeilen, die man für gewöhnlich als Meeresstreifen zu einem Küstenstaat rechnet. Russland, Kanada und Dänemark behaupten alle, sie seien mit dem Lomonossow-Rücken verbunden, einem Unterseegebirge, das den Arktischen Ozean zweiteilt. Die Gebietsansprüche der drei Länder überlappen am Nordpol. Kanada hat im Mai 2.100 Seiten wissenschaftliche Beweise an die Vereinten Nationen überreicht, um seinen Anspruch zu verteidigen.

Wenn die strittigen "Besitzansprüche" auf den Nordpol die Arktis noch nicht in einen Tom-Clancy-Roman verwandelt haben, dann hauptsächlich weil die letztendliche Entscheidung der Vereinten Nationen auf einem langen, wissenschaftlich akribischen Prozess beruht. Die Grenzverläufe sind abhängig von Diplomatie, nicht von Bomben und Blockaden.

"Hier gibt es kein Konfliktpotential", sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow vergangenes Jahr bei einem Gipfeltreffen der arktischen Staaten in Fairbanks, Alaska. "Das internationale Recht schützt zuverlässig die nationalen Interessen der arktischen Staaten."

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Our boat anchored off Rossøya. Sir John Franklin encountered impenetrable sea ice at this point 200 years ago. Photo by Craig S. Smith

Unser Schiff vor Rossøya | Foto: Craig S. Smith

Als wir bei Rossøya, der "Ross-Insel", ankommen, sehen wir immer noch kein Eis. Dies ist das letzte Fleckchen Land vor dem Nordpol. Der Felsen ragt wie der Buckel eines Wals aus dem Wasser und ist leer bis auf die Flechten und das Löffelgras, die unter dem Vogelkot gedeihen. Die Insel ist nach James Clark Ross benannt, dessen Versuch, mit seinem englischen Landsmann William Parry zum Nordpol zu gelangen, 1827 scheiterte. Später suchte er vergebens die eisige Nordwestpassage nach Franklins verschollener Expedition ab.

Heute ist es ein anderer Schatz, den viele in den unerforschten Fluten um die Insel vermuten, der die Arktis in den Augen vieler so wertvoll macht: Kohlenwasserstoffe. Diese Vermutung basiert hauptsächlich auf einem Bericht des Kartografie-Amts United States Geological Survey von 2009, in dem die Verfasser schätzen, dass sich 13 Prozent des bisher unentdeckten Öls und ein Drittel des unentdeckten Gasvorrats der Erde in der Arktis verstecken. Nowikow, der russische Forscher in Barentsburg, lacht auf, als er mit dieser Schätzung konfrontiert wird. "Das sind deren Zahlen, nicht unsere."

Doch selbst wenn diese Schätzungen stimmen sollten – und das hat bisher keine Expedition bestätigt: Dem Bericht zufolge liegt der Löwenanteil dieser Vorräte ohnehin deutlich innerhalb der Festlandsockel, die bereits zu den arktischen Nationen gehören, etwa vor der Küste Alaskas. Doch es gibt keine Bemühungen, Bodenschätze aus dem bisher internationalen Gewässer des Nordpolarmeers zu gewinnen.

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So oder so wird die Öl- und Gasgewinnung in der Arktis wohl eher eine kooperative, transnationale Angelegenheit bleiben. Ein Fünftel des russischen Bruttoinlandsprodukts kommt aus der Arktis, hauptsächlich aus Onshore-Öl- und Gasquellen. Doch als das Land neue Reserven in der Arktis anzapfen wollte, wandte es sich an den amerikanischen Energieriesen ExxonMobil. Sanktionen gegen Russland aufgrund der Annektierung der Krim setzten diesem Deal zwar ein Ende, doch Russland fand daraufhin schnell einen anderen willigen Partner: China.

Chinas Interesse an der Arktis unterscheidet sich gar nicht so sehr von Sir John Franklins: Es geht dem Land dabei um eine Arktis-Route, die die Entfernung zwischen China und Europa um bis zu 40 Prozent verringern könnte. Somit könnte China jährlich mehr als 100 Milliarden Dollar sparen, schätzt das chinesische Ministerium für Bodenressourcen. Chinesische Frachtschiffe fahren bereits in den Sommermonaten durch die Arktis, hauptsächlich entlang der russischen Küste. Manche Forscher sagen voraus, dass China bereits Mitte des Jahrhunderts regelmäßig Schiffe direkt über den Nordpol schicken wird.

The melting ice

Foto: Craig S. Smith

Kein Wunder, dass China sich als "arktisnahes" Land positioniert und Milliarden ausgibt – hauptsächlich für eine Flotte arktischer Eisbrecher –, um einen Platz in der Region für sich zu beanspruchen. Dabei ist die geografische Entfernung zwischen China und dem Polarkreis riesig. China investiert außerdem massiv in ein Flüssiggas-Projekt auf der russischen Jamal-Halbinsel und hat Pläne für eine Bahnstrecke und einen Tiefwasserhafen in der nordrussischen Hafenstadt Archangelsk angekündigt.

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Außerdem interessiert sich die chinesische Regierung dafür, die Öl- und Gassuche in Grönland zu finanzieren. Innerhalb der kleinen indigenen Bevölkerung gibt es viele, die Unabhängigkeit von Dänemark anstreben wollen, sobald die Energiepreise sich genug erholt haben. Mit chinesischen Geldern könnte Grönland zu einem Stellvertreter Chinas werden und dem Land so den Zugang zu den arktischen Ressourcen gewähren.

Doch niemand scheint zu erwarten, dass Chinas Ambitionen in Bezug auf arktische Schifffahrt und Ölbohrungen zu Konflikten führen werden. Laut einer chinesischen Arktis-Expertin, die sich nur anonym äußern möchte, weil ihr Pressemitteilungen nicht gestattet sind, erweitert China seine Präsenz in der Arktis ausschließlich durch etablierte internationale Stellen.

Ny-Ålesund auf Spitzbergen ist die nördlichste durchgehend bewohnte Siedlung der Welt. Von den zehn Ländern, die in Ny-Ålesund Forschung betreiben, hat China die meisten Forschenden dort stationiert. Zwei Marmorlöwen stehen vor dem roten Holzgebäude, bekannt als die Arktisstation Gelber Fluss, und heben es optisch von den schlicht-funktionalen Gebäuden des winzigen Ortes ab.

Auf dem Rückweg machen wir in Ny-Ålesund halt. Die Chinesinnen und Chinesen sind gerade "in Meetings", also spreche ich mit dem Schweden Kim Holmen, der einen beeindruckenden Gandalf-Bart trägt und vor Ort internationaler Direktor des Norwegischen Polarinstituts ist. In den Sommermonaten radelt er durch das Dorf, auf dem Kopf eine glitzernde Strickmütze mit einem übergroßen pinkfarbenen Bommel. "Die Arktis ist einer der friedlichsten Ozeane der Welt", sagt er und schaut dabei von einem baumlosen Hang über die spärliche Siedlung. "In dieser Weltregion gibt es sehr wenige greifbare Zeichen für drohende Konflikte."

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Doch wer genau hinsieht, erkennt die ersten Anzeichen für Veränderung. Die Bar in Ny-Ålesund ist zweimal die Woche geöffnet: einmal samstags, für die Forschenden, und seit Kurzem außerdem donnerstags, wenn Kreuzfahrtschiffe Touristen bringen, die durch das Dorf flanieren, Souvenirs kaufen und Ansichtskarten vom nördlichsten Postamt der Welt verschicken.

Als das Land mit der größten Zahl an Auslandstouristen wird China wohl auch den arktischen Tourismus dominieren. Das bereitet vielen Einheimischen und Forschenden Sorgen. Als der chinesische Unternehmer Huang Nubo vor wenigen Jahren in einem entlegenen Teil Islands ein Luxushotel bauen wollte, verhinderten das die Isländerinnen und Isländer. Dasselbe passierte, als er auf Spitzbergen Land kaufen wollte: Die norwegische Regierung kaufte das Land kurzerhand schnell selbst aus dem Privatbesitz, für umgerechnet mehr als 33 Millionen Euro. 2014 gelang es Huang schließlich, in Nordnorwegen Land zu kaufen, doch erschlossen hat er das Grundstück noch nicht.

Zurück in Longyearbyen begegne ich einer Gruppe von wohlhabenden chinesischen Touristinnen. Sie tragen die grellgelben Parkas, die das Arktis-Reiseunternehmen Quark Expeditions bereitstellt. Vor Kurzem, so erzählen die Touristen, hätten sie an Bord des russischen Atomeisbrechers 50 Let Pobedy den Nordpol besucht. Das staatseigene Schiff wird als Nordpol-Luxuskreuzer vermietet, komplett mit Champagner- und Kaviar-Verpflegung. Eine Frau mittleren Alters erzählt mir stolz, sie habe schon beide Pole besucht.

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Im kleinen Hafen von Longyearbyen stellt derweil ein riesiges deutsches Kreuzfahrtschiff, das nur so vor Balkonen strotzt, unseren Dreimaster in den Schatten. Unzählige Menschen strömen an Land. Es ist nur eins von Dutzenden Schiffen, die jeden Sommer im Hafen der winzigen Siedlung ankern. Einige halten auch in Ny-Ålesund und fahren die unberührten Fjorde an, wo einst nur raue Entdecker und einsame Pelzjäger verkehrten.

Schon heute stellen Touristen die größte menschliche Präsenz in der Arktis dar. Die Zahl der Menschen, die auf Kreuzschiffen vor allem aus Europa und den USA eintrifft, wird noch kräftig ansteigen. "Wir brauchen in der Arktis langfristige Planung in Bereichen wie Einwanderung und Tourismus, und daran sollten die arktischen Völker direkt beteiligt sein", sagt Cindy Dickson, Vize-Vorsitzende des Arctic Athabaskan Council, einer Organisation, die indigene Einwohner der USA und von Kanada im Arktischen Rat vertritt.

Der Leiter einer Logistikfirma in Longyearbyen hat etwas kleinere Sorgen. "Die Konjunktur ist gut für uns", sagt er. "Aber wir brauchen mehr Infrastruktur."

Was er damit meint, verdeutlichen die Zahlen: Ein durchschnittliches Kreuzfahrtschiff generiert pro Woche bis zu rund 760.000 Liter Abwasser und mehr als 3,5 Millionen Liter Schmutzwasser, so eine Studie der US-Regierung von 2008. Hinzu kommen noch circa 95.000 Liter öliges Bilgenwasser aus den Motoren und Maschinen des Schiffs.

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Aktuell gibt es allerdings keine Einschränkungen, was Abwasser-Dumping in der Arktis angeht, und nur wenige Häfen im hohen Norden haben die Infrastruktur, um Bilgenwasser, Abwasser und festen Abfall ordentlich zu entsorgen. Schon heute sind die entlegenen Inseln und Sandbänke, die wir bei unserer Reise sehen, übersät mit grünen Fischernetzen und orangefarbenen Netzschwimmern, die Schleppnetzfischer im Wasser verloren haben. Im eisigen Norden zersetzen sich Gegenstände im Gletschertempo, soll heißen: ziemlich langsam.

Mehr Besucher dürften die Situation noch verschlimmern. "Tourismus übt Druck auf die Umwelt aus", sagt der schwedische Forscher Kim Holmen. Für ihn findet der wahre Konflikt in der Arktis deshalb nicht zwischen Russen, Amerikanern, Kanadiern und Chinesen statt, sondern zwischen den beiden Akteuren, die sich in der Arktis schon immer gegenüberstehen: Mensch und Natur. Doch anders als zu Sir Franklins Zeiten hat der Mensch heute die Oberhand. Das schmelzende Eis wird die Region für Menschen zugänglicher machen, und diese menschliche Präsenz wird einen unwiederbringlichen Einfluss auf die Flora und Fauna haben. Unberührte Lebensräume werden verschmutzt, Pflanzen- und Tierarten werden aussterben. Menschen werden letztendlich berühren, was bisher unberührt blieb, weil es von Eis eingeschlossen war.

Während ich mit meinen Mitpassagieren an Land herumstapfe und die karge, schwarz-weiße Landschaft erkunde, entdecken wir in ein paar Hundert Metern einen Eisbären auf einem Inselchen. Wir versammeln uns in einer schmalen kleinen Bucht, aneinander gedrängt aufgrund des steilen Ufers, und sehen dem Raubtier zu, wie es zwischen den Felsen umherläuft. Dann gleitet der Bär auf einmal ins Wasser und schwimmt auf uns zu.

Eisbären sind dank den Schwimmhäuten an ihren paddelartigen Pranken überraschend schnelle Schwimmer. Schon bald hat der Bär die halbe Strecke zu uns zurückgelegt und versetzt damit unsere Gruppe – und die mit Gewehren bewaffneten Aufpasser – in aufgeregte Bewegung. Begegnungen mit Eisbären können schnell tödlich enden, und niemand will eines dieser Tiere töten müssen. Insgesamt überleben auf Spitzbergen nur ein paar Tausend von ihnen. Wir rufen über Funk einige der soliden schwarzen Gummiboote zur Hilfe, die in der Arktis überall zum Einsatz kommen, und machen im Wasser einen weiten Bogen um den Bären.

A walrus near the shore at Sarstangen, a sandbar on the island of Prins Karls Forland in Svalbard. Photo courtesy of Rachel Honnery

Foto mit freundlicher Genehmigung von Rachel Honnery

Auf einer einsamen Sandbank steigen ich und etwa 20 Mitreisende aus den Gummibooten. Wir hoffen, hier Walrösser zu beobachten. Nur Minuten später hievt sich eins der riesigen Tiere an Land. Es hebt seine Flossen und starrt uns aus zehn Metern Entfernung an. Seine braune Haut ist mit Flecken und Wucherungen übersät. Die Augen sind blutunterlaufen und wirken auf unheimliche Art voller Bewusstsein. Ein solch augenscheinlich intelligentes Wesen in der Wildnis zu sehen, fernab von jeglicher Zivilisation, vermittelt ein Gefühl dafür, wie groß, wie uralt und wie komplex die Erde ist. Sie ist mächtiger als alles, was der Mensch mit ihr angestellt hat. Die Natur wirkt auf mich in diesem Moment unschuldig, und der Mensch hingegen überaus schuldig.

Wir Menschen und das Walross starren einander etwa eine Viertelstunde lang an, bevor es mit einem heißen, dampfigen Prusten in der eiskalten See verschwindet. Ich bin in die Arktis gereist, um herauszufinden, was diese Region bedroht – nur um festzustellen, dass ich selbst diese Bedrohung verkörpere.

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