Tätowierte Unterarme, daneben ein Mann mit Mütze, der von der Kamera abgewendet steht
Elias Moustakas hat sich im Gefängnis mit Hepatitis C infiziert. Das Tattoo an seinem linken Arm hat ihm ein Mithäftling mit einer Kugelschreibermine und Tinte aus Schuhsohlen gestochen | Alle Fotos: Eva L. Hoppe

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Drogen

Warum Menschen sich im Knast mit Hepatitis C infizieren, obwohl es nicht sein müsste

Elias Moustakas kam im Gefängnis zwar an Heroin und Koks, nicht aber an saubere Spritzen. Also teilte er sich welche mit anderen Insassen.

Wenn man die Spitze einer Kugelschreibermine lange genug an der Wand entlang schrabbt, immer und immer wieder, dann kann daraus eine Nadel werden. Keine besonders spitze Nadel, aber immerhin eine, die man irgendwie in eine Vene stechen kann. Kombiniert mit dem Pumpmechanismus eines Nasensprays erhält man eine Spritze. Und mit der kann man sich wiederum Drogen injizieren. Wie eine Erlösung fühlt sich das nicht an, sondern ziemlich umständlich und schmerzhaft. Zu dieser Variante des Drogenkonsums greifen Menschen nur, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen. Zum Beispiel im Gefängnis. Elias Moustakas hat das genau dort so gemacht.

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Moustakas heißt eigentlich anders, aber um ihn zu schützen, nennen wir ihn hier so. Er ist ein hagerer Mann, die dunklen Haare trägt er zurückgekämmt, seine Haut wirkt fahl. Um seinen Hals hat er ein schwarz-weißes Pali-Tuch gewickelt, dazu trägt er ein schwarzes Longsleeve und eine leicht zu weite Jeans. Er ist 46 Jahre alt, 30 Jahre davon ist er drauf. Er konsumiert Heroin und Kokain. "Cocktail" nennt er das. Moustakas kocht das Heroin, wirft Koks rein, zieht es dann in die Spritze. Auch im Gefängnis konnte er sich diesen Cocktail mixen. "Im Knast habe ich mehr Drogen bekommen als draußen", erzählt er. "Ich konnte da alles kriegen."

Zumindest fast alles, denn was er selten bekommen konnte, war sauberes Besteck. Also teilte er sich die Spritzen – mal selbstgebastelt, mal reingeschmuggelt – mit anderen Insassen. Die Folge: Moustakas hat sich mit Hepatitis C infiziert. Im Gefängnis, so sagt er.


Auch bei VICE: Geständnisse eines Drogenabhängigen


2009 kam er für zwei Jahre in die JVA Tegel, laut eigener Aussage wegen Schwarzfahrens und nicht gezahlter Rechnungen. Der Entlassungsschein liegt VICE vor. Auf die Frage, ob er sich sicher ist, dass er sich in Haft infiziert hat, sagt Moustakas: "Natürlich. Ich habe immer aufgepasst mit meinem Konsum." Vor der Haftzeit hat er in der Gastronomie gearbeitet. Erst hat er Geschirr gespült, dann hat er gekellnert, zuletzt war er Koch. Jeden Morgen habe er sich seine drei Spritzen vorbereitet und in seine Tasche gesteckt. Damit ist er zur Arbeit gefahren, ist damit dreimal "zack zack, aufs Klo", niemand habe etwas gemerkt. Außerdem habe er sich einmal im Monat bei dem Angebot des Berliner Suchthilfeträger Fixpunkt auf Hepatitis C (HCV) testen lassen. Die Sozialarbeiterin, die sich seit seiner Entlassung im Rahmen eines Projektes für betreutes Wohnen um Moustakas kümmert, bestätigt, dass er ihr vor Jahren schon das Gleiche erzählt hat.

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Schlägereien, Sex, Drogenkonsum, Vergewaltigungen: Im Knast geht es blutig zu. Deswegen erscheint nur logisch, dass die Gefahr einer Ansteckung dort besonders hoch ist. Denn Hepatitis C ist eine Infektionskrankheit, die durch einen Virus ausgelöst wird und die sich übers Blut überträgt. Also bei ungeschütztem Sex, beim Stechen von Tattoos oder Piercings mit verunreinigten Nadeln, oder eben beim Drogenkonsum, wenn man sich das Zubehör teilt, also die Röhrchen zum Ziehen oder die Spritzen zum Drücken. Vor allem bei Letzterem ist das Risiko erhöht. Ist man erkrankt, entzündet sich die Leber, was zu Leberzirrhose oder Leberkrebs führen kann.

Wir haben die Berliner Senatsverwaltung für Justiz gefragt, wie es dazu kommen kann, dass ein Mensch sich in der Obhut des Gefängnisses mit Hepatitis C infiziert. Doch auch nach mehrfachen Nachfragen bekommen wir nur die Antwort, eine Infizierung mit Hepatitis C passiere über kontaminiertes Blut. Eine Stellungnahme bekommen wir nicht. "Das betrifft den Einzelfall und wäre nur mit Annahmen zu beantworten", antwortet ein Sprecher per Mail.

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Das Pferd hat Moustakas im Gefängnis gemalt. Er hat sich vorgestellt, darauf in die Freiheit zu reiten

Aber ist es wirklich ein Einzelfall, dass ein Mensch sich im Gefängnis mit Hepatitis C infiziert?

Eine Statistik, die genau das erfasst, gibt es nicht. Die Gesundheitsuntersuchungen, die bei Haftantritt gemacht werden, sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Der Test zu HCV ist teilweise freiwillig. Und nur diese eine Untersuchung beim Antritt würde nicht reichen. Um genau zu erfassen, ob eine Person sich in Haft infiziert hat, müssten mindestens vier Bluttest gemacht werden: einer bei Haftantritt, dann ein halbes Jahr später, zum Haftaustritt und ein halbes Jahr nach Haftentlassung. Denn zwischen einer Infektion und dem Zeitpunkt, an dem man den Krankheitserreger im Körper feststellen kann, liegen mehrere Monate.

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Immerhin: Einige Studien nähern sich der Frage an, wie viele Menschen sich in Haft mit Hepatitis C infizieren. Jeder Dritte der befragten Drogenkonsumierenden mit Hafterfahrung hat im Gefängnis Drogen injiziert, heißt es in der DRUCK-Studie des Robert-Koch-Instituts, einer groß angelegten Untersuchung zu Drogen und chronischen Infektionskrankheiten. Andere Studien zeigen: 21 Prozent der Drogengebrauchenden in Haft benutzen gemeinsam Spritzen und ebenfalls ein Fünftel aller Gefangenen haben Hepatitis C. Moustakas hat sich im Gefängnis mit mindestens sieben Leuten eine Spritze geteilt. Es ist also nicht verwunderlich, dass sein Schicksal und das Ergebnis der DRUCK-Studie zusammenpassen: Drogenkonsumierende mit Hafterfahrung haben demnach eine höhere Wahrscheinlichkeit, HCV-positiv zu sein als jene, die nicht im Knast waren.

"Mit Hepatitis habe ich ja noch Glück gehabt. Ich hätte ja auch AIDS kriegen können, was wäre dann gewesen?"

"Es war eine totale Dummheit, die Spritzen zu teilen", sagt Moustakas heute. Beim Sprechen zippelt er an seinen Fingern. Dabei fällt ein Pflaster ab, entblößt einen blutig abgekauten Fingernagel. Schnell hebt er es auf und steckt es wieder auf. "Mit Hepatitis habe ich ja noch Glück gehabt. Ich hätte ja auch AIDS kriegen können, was wäre dann gewesen?"

Dass es gefährlich ist, sich Spritzen zu teilen, wusste er. Immerhin gibt es seit den Achtzigerjahren große Aufklärungskampagnen dazu. Auch in vielen Justizvollzugsanstalten leisten Suchthilfeträger Aufklärungsarbeit, Infomaterialien liegen aus. Doch der Suchtdruck ist zu groß. "Im Knast fühlst du dich wie ein Hund im Käfig", sagt Moustakas. "Du hast genug Probleme da. Du willst einfach Drogen nehmen. In dem Moment ist dir das mit den Krankheiten egal."

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Ähnlich schildert es Dirk Schäffer. Er ist Referent für Drogen und Strafvollzug bei der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH). Auch er war im Gefängnis, in den späten Achtzigern. Damals hatte er kleine Mengen verkauft, um seine eigene Sucht zu finanzieren, und wurde dabei erwischt. Er kam für zehn Monate ins Gefängnis. Und auch er teilte sich schon Spritzen mit anderen. "Klar haben wir unter Bedingungen konsumiert, die nicht cool waren", sagt er. "Aber das war letztendlich sekundär, weil man völlig geil ist auf Drogen. Gerade in so einem Setting, das wird ja in Haft eher noch verstärkt als abgeschwächt." Auch bei ihm wurde vor einigen Jahren Hepatitis C diagnostiziert. Wo er sich infiziert hat, kann er rückblickend nicht mehr sagen. "Aber die Chance, sich da zu infizieren, war schon ziemlich groß", sagt er.

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Solche Injektionssets bekommen Abhängige im Drogenkonsumraum der Birkenstube, einer Berliner Kontaktstelle

Dabei könnten Gefängnisse das Risiko, dass sich ihre Insassen beim Drogenkonsum mit Hepatitis oder AIDS infizieren, recht einfach eindämmen. Nämlich, indem sie den Inhaftierten saubere Spritzen zur Verfügung stellen. "Wir machen in Deutschland auf der Straße seit 20 Jahren gute Erfahrungen damit, Hepatitis durch eine Spritzenausgabe zu bekämpfen. HIV bekämpfen wir so schon seit 30 Jahren", sagt Heino Stöver. Er leitet den Studiengang "Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe" an der Frankfurt University of Applied Sciences und forscht seit vielen Jahren zu dem Thema. Er fordert, dass auch in Gefängnissen eine Spritzenvergabe eingeführt wird. Auch das Robert-Koch-Institut empfiehlt das.

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In der Freiheit sieht diese Spritzenausgabe so aus: Konsumierende können Drogenkonsumräume oder bestimmte Beratungsstellen aufsuchen und sich neue Spritzen holen. Ihre alten geben sie ab. In Haft könnte das so aussehen: Auf der Waschbecken-Ablage jeder Zelle liegt ein Spritzen-Dummy. Mit dem können sich Inhaftierte an einem Automaten eine richtige Spritze holen. Diese können sie wiederum gegen eine neue tauschen, sobald sie gebraucht ist. Deutschlandweit wird das momentan bloß in einem Gefängnis umgesetzt: In der JVA Lichtenberg, einem kleinen Gefängnis für 200 Frauen. Damit steht diese Maßnahme bloß 200 von insgesamt rund 60.000 Inhaftierten in Deutschland zur Verfügung. Modellprojekte in anderen JVAs wurden nach Regierungswechseln in den jeweiligen Bundesländern wieder eingestampft.

Die Erfahrungen auf der Straße sind gut, Wissenschaftler wie Stöver, Suchtreferenten wie Schäffer und auch Institute wie das Robert-Koch-Institut raten zur Spritzenvergabe in Haft – wieso gibt es dann keine Tauschprogramme in deutschen Gefängnissen? Auch dazu äußert sich die Justizverwaltung bloß ausweichend. "Die Thematik wird seit Jahren auch bundesweit viel diskutiert. Vor- und Nachteile sind immer wieder geprüft worden. Aktuell gibt es keine Pläne zur Ausweitung", heißt es.

Dass der Drang nach den Drogen überhaupt so groß ist, liegt auch daran, dass den Konsumierenden im Gefängnis deutlich seltener eine Substitutionstherapie ermöglicht wird als außerhalb der Haft.

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Also reiben die Menschen im Knast ihre Nadeln an der Reibefläche einer Streichholzschachtel, um sie zu schärfen. Oder bauen sich eben selbst Spritzen. Oder versuchen, die Spritzen notdürftig mit kochendem Wasser zu desinfizieren. Was gar nicht so leicht ist, immerhin werden die Plastikspritzen nach einigem Auskochen porös. "Das, was wir machen konnten, haben wir natürlich gemacht", kommentiert Dirk Schäffer. "Niemand hat Bock, so ein blutversifftes Ding zu benutzen."

Dass der Drang nach den Drogen überhaupt so groß ist, liegt auch daran, dass den Konsumierenden im Gefängnis deutlich seltener eine Substitutionstherapie ermöglicht wird als außerhalb der Haft. Bei der Substitution wird einer Person, die etwa von Heroin abhängig ist, ein anderes, weniger schädliches Opiat verschrieben, um einen sanften Entzug zu ermöglichen, Tod durch versehentliche Überdosis zu vermeiden und Schadensminimierung zu betreiben. Die JVA Tegel verweist auf die Richtlinien der Bundesärztekammer, nach der die Weiterführung einer Substitution in Haft gewährleistet sein muss. Und auch ein Pressesprecher sagt, im Rahmen einer Eingangsuntersuchung werde festgestellt, ob eine bestehende Substitution fortgeführt aber eingeleitet werden müsse. Doch Elias Moustakas erzählt, er habe in Haft keine Substitution bekommen.

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Elias Moustakas' Hepatitis C ist inzwischen geheilt

Dabei hatte er einen Ausweis und auch die Telefonnummer seines Arztes, den die JVA hätte anrufen und nach Bestätigung fragen können. "Sie wollten es mir einfach nicht geben", sagt er. "Warum, weiß ich auch nicht." Er erzählt auch, dass es oft sehr lange gedauert habe, bis die Insassen ihre Substitution erhielten. Und dass die dann nicht unbedingt der Dosis entsprach, die sie vorher bekommen hatten.

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Es sei "ein Trauerspiel", wie wenig Leute in Haft substituiert werden, so DAH-Referent Dirk Schäffer. In einer offiziellen Verlautbarung des Robert-Koch-Instituts von 2018 heißt es, dass nur etwa 10 Prozent der injizierenden Konsumierenden eine angemessene Substitution erhalten. In Bayern und im Saarland wird demnach gar keine Substitution angeboten. "Auch da verwehrt man den Leuten Behandlung und Prävention auf der einen Seite, kriegt es aber gleichzeitig nicht hin, den Knast drogenfrei zu halten", so Schäffer. "Das misslingt, aber trotzdem sieht man nicht ein, den Leuten wenigstens zur Prävention von Krankheiten Utensilien zur Verfügung zu stellen. Und das ist halt die Katastrophe."

Substitution und Spritzentausch – beides sind Maßnahmen, mit denen in Deutschland in Freiheit und in anderen europäischen Ländern auch im Gefängnis gute Erfahrungen gemacht wurden, um Begleitschäden des Drogenkonsums einzudämmen. Doch den Gefängnisinsassen in Deutschland stehen diese Maßnahmen nicht ausreichend zur Verfügung.


Auch bei VICE: Zu Besuch in einem Gefängnis, aus dem niemand ausbrechen will


"Es gibt eine dreifache Diskriminierung", sagt Suchtforscher Stöver. "Suchtkranke Menschen werden erstens für die Taten, die sie begehen, um ihre Sucht zu bewältigen, inhaftiert. Und zweitens werden sie in Haft abgeschnitten von den Fortschritten moderner Suchtmedizin." Außerdem würden süchtige Inhaftierte als unzuverlässig betrachtet, weshalb ihnen vieles nicht gewährt werde, was anderen Inhaftierten zugestanden wird – auch Freigang.

Elias Moustakas nennt das "BTM-Stempel", also einen Betäubungsmittel-Stempel, den man auf der Stirn trage. Er sagt: "Wenn du einmal in der Akte der Polizei gelandet bist wegen Drogen, egal ob du sauber bist oder eine Therapie gemacht hast oder zehn Jahre nichts mehr damit zu tun hattest: Du bist überall BTM, Drogenabhängiger, Junkie. Und dann gucken dich alle mit anderen Augen an."

Moustakas' Hepatitis ist mittlerweile geheilt. Er hat eine Interferon-Therapie gemacht. Einen Job hat er nicht mehr. Seit er im Gefängnis war, bezieht er Hartz IV und lebt in einem betreuten Wohnprojekt für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Ende März will er eine Entgiftungskur machen und von da an keinen Beikonsum zu seiner Substitution mehr betreiben. Er will wieder einen Job finden und arbeiten. Vor allem aber will er nie wieder ins Gefängnis.

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