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Wie es ist, als erste Person in der Familie zu studieren

Ihre Familien sind unzufrieden oder können ihnen kaum helfen: Vier junge Menschen erzählen von ihrem ungewöhnlichen Start ins Uni-Leben.
Jan und Tessa, die die Ersten in der Familie waren, die an die Uni gegangen sind

Erstmal einen schweren Rucksack auf den Rücken schnallen und die Welt erkunden. Für viele frischgebackene Abiturienten und Abiturientinnen aus finanziell gut gestellten Familien ist das das erste Ziel nach dem Schulabschluss. Und danach steht das Studium an, wo man auf der Erstsemesterparty darüber bondet, wie spektakulär doch der Aufstieg zum Machu Picchu war.

Sogenannte Arbeiterkinder können da oft nicht mitreden – und wurden auch erst gar nicht eingeladen. Für die jungen Menschen aus Familien, in denen noch niemand studiert hat, sieht das Ganze viel komplizierter aus. Aus verschiedenen finanziellen und sozialen Gründen ist ein Studium nach der Schule hier alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Kein Wunder, wenn kein Familienmitglied einem dabei helfen kann, sich im komplizierten Studiensystem mit all seinen Hürden zurechtzufinden. Oder wenn die Familie es sogar ablehnt, dass man studiert. Und in anderen Fällen liegt die gesamte Hoffnung einer Familie auf der Studienanfängerin.

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Vier aktuelle und ehemalige Studierende, die sich in genau dieser Situation wiederfanden, erzählen uns von ihrem Studiumsalltag und von ihren Diskussionen mit oftmals nicht ganz einverstandenen Verwandten.

Amber, 22, Studiengang: Kriminalwissenschaften

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VICE: Wie haben deine Verwandten reagiert, als du ihnen erzählt hast, dass du studieren willst?
Amber: Meine Familie war insgesamt sehr stolz auf mich. Ich wurde zu einer Art Prunkstück. Mein Vater verstand trotzdem nicht wirklich, warum ich nach der Schule nicht einfach eine Ausbildung anfing und stattdessen Kriminalwissenschaften studierte.

Hast du das Gefühl, einen Nachteil gegenüber den Studierenden zu haben, deren Verwandte ebenfalls zur Uni gegangen sind?
Auf jeden Fall. Ich habe zum Beispiel erst nach einem Jahr herausgefunden, dass ich hier in den Niederlanden einen Studienkredit aufnehmen kann. Das hat mir vorher niemand gesagt. Bis dahin hatte ich mich mit einem Nebenjob über Wasser gehalten.

(Anm. d. Red.: In den Niederlanden können Studierende ein staatliches Darlehen beantragen, das sie binnen 35 Jahren nach ihrem Abschluss samt Zinsen zurückzahlen müssen. Für finanziell schlechter Gestellte gibt es ein sogenanntes Aufstockungsdarlehen.)

Eine Freundin bekam immer Hilfe von ihren Eltern. Sie lasen zum Beispiel ihre Dissertation Korrektur, während ich Nachhilfe nehmen musste, um irgendwie meinen Schnitt zu schaffen.


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Wie groß war der Druck, dich vor deiner Familie zu beweisen?
Ich habe mich häufig mit meiner Mutter gestritten, weil sie oft wollte, dass ich es noch besser mache – selbst die besten Noten reichten ihr nicht. Außerdem sah sie zwei Master-Abschlüsse und einen Doktortitel als das Minimum an. Ihrer Meinung nach musste ich mich ganz dem Studium verschreiben. Das stresste mich richtig. Irgendwann verklickerte ich ihr, dass sie mich unter zu viel Druck setzte. Das half zum Glück.

Kannst du mit deiner Familie über deinen Studiengang reden?
Nein. Meine Verwandten verstehen nicht wirklich, was ich studiere. Ich weiß aber, dass sie trotzdem nur das Beste für mich wollen.

Jan, 26, Studiengang: Grafikdesign

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VICE: Wie haben deine Familie und dein soziales Umfeld darauf reagiert, dass du studieren willst?
Jan: Unter Grafikdesign konnten sich nur die wenigsten Verwandten und Freunde etwas Konkretes vorstellen. Deswegen sahen viele meine Wunschkarriere eher kritisch. Typische Kleinstadt-Kommentare wie "Lern doch was Richtiges" hörte ich damals leider häufig. Von meiner Entscheidung zu studieren, waren aber alle begeistert. Nur der Umstand, dass ich mehrere Jahre ins Ausland gehen würde, war vor allem für meine Eltern erstmal schwierig.

Hattest du das Gefühl, während des Studiums Nachteile gegenüber den Kommilitonen und Kommilitoninnen zu haben, deren Eltern selbst studiert hatten?
Im Gegenteil. Ich habe schnell gelernt, selbstständig zu sein. Der Leistungsdruck an einer Kunstakademie ist aber generell ein anderer als an einer klassischen Universität. Studierende, die zum Beispiel bei Ausstellungen auf praktische und handwerkliche Hilfe der Eltern zurückgreifen konnten, hatten immer einen gewissen Vorteil.

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Hattest du Schwierigkeiten, dein Studium zu finanzieren?
Finanziell gesehen war ich immer am Limit und musste mir durch Nebenjobs etwas dazuverdienen. Auch in Sachen BAföG war es nicht einfach: Gerade der Antrag für ein Auslandsstudium ist sehr komplex. Zum Glück ist meine Mutter in Sachen Behördendeutsch ziemlich fit und konnte mir da weiterhelfen.

Hast du großen Druck verspürt, das Studium erfolgreich abzuschließen?
Mein Background war für mich mehr eine Motivation, den Leuten zu Hause zu beweisen, dass mein Studium nicht nur Spaß ist. Mein Ziel waren daher immer gute Noten und ein guter Abschluss. Dieses Ziel habe ich erreicht, worüber alle sehr glücklich sind.

Hast du einen Tipp für die jungen Menschen, die sich in der gleichen Situation wie du damals wiederfinden?
Auf jeden Fall durchziehen, egal wie viel du hinter dir lassen musst oder wie viel dir reingeredet wird. Ich verspürte die ersten Monate viel Reue, nicht mehr zu Hause zu sein. Insgesamt war es aber eine tolle Zeit, an die ich mich gerne zurückerinnere.

Nur, 28, Studiengang: Psychologie

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VICE: Wie fand es deine Familie, dass du studieren willst?
Nur: In meiner traditionellen, konservativen Familie war ich die Erste, die zur Uni ging. Das war auch deswegen eine große Sache, weil ich eine Frau bin. Meine Eltern waren natürlich stolz. Sie sahen das Studium als Segen an, ich würde den Familiennamen bekannt machen.

Gleichzeitig wurde ich von entfernten Verwandten kritisiert. Für sie war es nicht in Ordnung, dass ich als junge, unverheiratete Frau von zu Hause ausziehe. Ihnen missfiel ganz besonders, dass ich in einem Studentenwohnheim leben würde. Das stereotype Uni-Leben mit den ganzen Partys und Drogen steht eben im krassen Gegensatz zu den konservativen türkischen Werten. Meine Eltern wiesen mich schließlich an, die kritischen Verwandten bezüglich meines Studiums einfach anzulügen.

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Wie hast du dich dabei gefühlt?
Ich fühlte mich schuldig. Manchmal schämte ich mich. Irgendwann glaubte ich sogar, dass mein neuer Lebensstil falsch sei. Mit dem Aufeinanderprallen der Kulturen kam ich nur schwer zurecht. Während des Studiums ließ ich mich richtig gehen und lebte deswegen in zwei Welten: zum einen in meiner Uni-Welt und zum anderen in meiner Familien-Welt zu Hause.

Musstest dich zu beweisen?
Ich wollte auf jeden Fall gute Noten schreiben. Ein Grund dafür waren gewissen Leute in meiner Heimat, die bei meinem Versagen hätten behaupten können, es ja gleich gewusst zu haben. Deswegen wollte ich unbedingt beweisen, dass auch eine Frau erfolgreich studieren kann. Außerdem wollte ich meine Eltern stolz machen, weil sie so viel dafür geopfert haben, damit meine Geschwister und ich bessere Möglichkeiten bekommen.

Verstehen dich deine Eltern jetzt besser?
Nicht immer. Einmal besuchte mich meine Mutter in meiner winzigen Einzimmerwohnung in Amsterdam, als ich dort studierte. Sie wollte einfach nicht einsehen, warum ich auf nur so wenig Raum lebte. Damals hatte ich schon meinen Master in der Tasche, aber ihr war nicht klar, warum ich so lebte und noch nicht verheiratet war.

Welchen Rat würdest du jungen Menschen geben, die sich in einer ähnlichen Position befinden wie du?
Egal, was du am Ende machst, wenn du von der Norm abweichst, werden die Leute immer eine Meinung über dich haben. Außerdem fiel mir auf, dass mir meine Verwandten nicht mehr reinreden wollten, nachdem ich meine Ziele klar und selbstbewusst kommuniziert hatte. Ziehe dein eigenes Ding durch, sei stolz auf deine Entscheidungen und führe kein Doppelleben. Du musst niemanden stolz machen außer dich selbst.

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Tessa, 28, Studiengang: Modedesign

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VICE: Wie hat deine Familie auf deine Entscheidung zum Studium reagiert?
Tessa: Meine Familie war richtig stolz und glücklich. Ich komme aus einer Kleinstadt, viele junge Menschen fangen hier entweder im Betrieb ihrer Eltern an oder schlagen zumindest einen ähnlichen Weg ein. Deswegen fragten sich einige Leute von dort, warum ich nach Amsterdam zog und studierte, anstatt den "sicheren" Weg zu gehen.

Hattest du das Gefühl, einen Nachteil gegenüber anderen Studierenden zu haben, deren Eltern selbst studiert hatten?
Rein praktisch gesehen schon. Diese Studierenden haben das System besser verstanden, vor allem bezüglich finanzieller Zuschüsse. Ich musste mir das alles selbst organisieren und alles selbst bezahlen. Meine Eltern wollten mir zwar helfen, aber auch für sie war das alles neu. Außerdem verdienten die Eltern meiner Freunde mehr Geld, weil sie ja studiert hatten. So konnten sie einen Teil der Studiengebühren übernehmen. Ich hingegen konnte mir manche Studienfahrten nicht leisten und konzentrierte mich deswegen ganz aufs Studium.

Wie groß war der Druck, dich vor deiner Familie beweisen zu müssen?
Diesen Druck verspürte ich erst nach dem Studium: Ich wollte ihnen beweisen, dass mein Mode-Abschluss etwas wert ist. Zum Glück arbeite ich jetzt bei einem großen Fashion-Label. Aber auch das musste ich mir hart erarbeiten.

In Deutschland unterstützt die Organisation "Arbeiterkind" Menschen aus finanziell schlechter gestellten Familien, beim Einstieg ins Studium. Wir haben sie im Mai getroffen.

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