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Popkultur

Eine Frau beschreibt, wie sie Menschen in den Tod begleitet

Jasmin Schreiber lässt sich zur Sterbeamme ausbilden. Vor Kurzem hat sie Gerda besucht, sie wurde ihre erste Tote.
Symbolfoto: unsplash | Christian Newman | gemeinfrei

Jasmin Schreiber möchte Sterbeamme werden und lässt sich gleichzeitig zum psychologischen Coach für Trauerarbeit ausbilden. Sie lebt in Berlin und arbeitet unter anderem als Journalistin und freie Autorin. Auf ihrem Blog sterbenueben.de schreibt sie über das Leben, Sterben und Trauern und teilt Erfahrungen aus ihrer ehrenamtlichen Arbeit und Ausbildung. Dort ist ihr Text über Gerda zuerst erschienen. Schreiber fotografiert ehrenamtlich auch Sternenkinder. Das sind Kinder, die noch im Bauch der Mutter, bei oder kurz nach der Geburt sterben. Auf Gofundme.com könnt ihr ihre Arbeit unterstützen.

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"Wissen Sie, wann mich vor Ihnen zuletzt jemand mit Vornamen angesprochen hat?" – "Wann?" – "Das war vor sechs Wochen. Als ich beim Röntgen war. Die Schwester dort hat mich 'Gerda' genannt, das war sehr nett."

Ihre Augen sehen aus wie das Meer an einem stürmischen Tag, an dem die Wellen weiß verwaschene Schaumkronen auf ihren Spitzen balancieren. Nass sehen diese Augen aus, und müde. Immer ist Gerda so unendlich müde.


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"Aber Ihre Familie spricht doch mit Ihnen", erwidere ich. Ich sitze an ihrem Bett und wir spielen Karten, zumindest versuchen wir es. Sie kann die Karten kaum erkennen und ich verstehe die Regeln nicht. Wir könnten auch zwei Protagonistinnen in einem Loriot-Sketch sein. "Ja, ja, schon. Die nennen mich jedoch immer Oma oder Mama, aber Gerda … von den Leuten, die mich so nannten, ist niemand mehr da. Ich bin ein Dinosaurier", sagt sie und korrigiert meinen Spielzug: "Sie hätten jetzt melden müssen."

"Schauen Sie mir bitte beim Sterben zu."

Gerda stirbt, deshalb bin ich hier. Ihre Familie hat mich kontaktiert. Sie hatten Gerda einen Artikel von mir vorgelesen und die alte Frau bat sie, mir zu schreiben und mich einzuladen. "Schauen Sie mir bitte beim Sterben zu", sagte sie mir direkt am Anfang, "da können Sie was lernen."

Und jetzt sitze ich hier und wir spielen Canasta. Ihre Finger sind dünn und knotig, die Haut hängt wie Seidenpapier an den Knochen. "Fassen Sie mal an", sagt sie mir. Ich nehme ihre Hand in meine und streiche über die Haut, die sich tatsächlich anfühlt wie dünnes Papier. Ihre Gelenke sind geschwollen, meist hält sie die Hände wie die Klauen eines Greifvogels. Als wolle sie jeden Moment etwas packen, meine Nase, mein Hirn, mein Herz, vielleicht alles zusammen, aber das gehört so. Gerda packt mich von innen und ich lasse es geschehen.

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"Wenn ich tot bin, wird meine Tochter mich waschen. Das habe ich schon bei meiner Mutter so gemacht. Sie wird mich waschen und anziehen und dann werde ich eine Nacht hier im Haus liegen. Macht heutzutage kaum noch jemand, wir aber schon. Ich bin schließlich immer noch ihre Mutter, auch, wenn ich tot bin. Und um seine Mutter kümmert man sich. Außerdem müssen wir voneinander Abschied nehmen, das Haus und ich. Das Haus muss sich dran gewöhnen, dass ich nicht mehr da bin und mein Körper muss ebenfalls Lebwohl zum Haus sagen. Das braucht alles Zeit, wissen Sie."

Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß wenig von alldem, hatte bislang kaum Todesfälle in meinem engeren Umfeld. Überhaupt komme ich mir neben Gerda vor, als wäre ich fünf und hätte noch nie irgendwas von Belang erlebt. Sie hingegen hat zwei Kriege hinter sich, ein geteiltes Deutschland, sie hat zwei Ehemänner überlebt, drei Kinder bekommen, zwei davon leben noch. Sie hat vier Enkelkinder und während ihres gesamten Lebens hatte sie dreiundzwanzig Haustiere, hauptsächlich Katzen.

Fast 100 Schläge pro Minute Ruhepuls. "Das Herz beeilt sich, es sprintet zum Ziel", lacht sie. "Herzen zählen runter", sage ich.

"Fühlen Sie mal meinen Puls." Ich wende ihre Hand, die immer noch in meiner liegt und lege Zeige- und Mittelfinger an ihre Pulsschlagader. Fast 100 Schläge pro Minute Ruhepuls. "Das Herz beeilt sich, es sprintet zum Ziel", lacht sie. "Herzen zählen runter", sage ich. – "Oh, das ist schön, das merke ich mir!"

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"Wenn man stirbt", sagt sie, greift nach meinen Karten, schaut sie an und sortiert sie neu, "dann bremst alles irgendwie ab. Ich bin ein welker Baum. Ich habe keinen Hunger mehr, weil ich nichts mehr schmecke. Nur salzig, das schmecke ich noch. Ist aber kein spannender Geschmack, ehrlich gesagt, also wenn es der einzige ist. Und ich pinkel nur noch wenig, darf ich Ihnen das sagen? Das mit dem Pinkeln? Ich finde das normal, wir pinkeln alle, aber manche Leute reden nicht so gern darüber. Ich schlafe viel, fast so, als wolle sich der Körper nicht mehr die Mühe machen mit der ganzen Aufwachensache. Wenn man gar nicht erst richtig aufwacht, hat man weniger Arbeit, wieder schlafen zu gehen." Zwischen den Worten macht sie lange Pause, sie ist erschöpft. Trotzdem hat sie schon wieder gewonnen und ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist oder welche Kriterien überhaupt erfüllt sein müssen, um Canasta zu gewinnen.

"Schreiben Sie dann einen Text über mich?", fragt sie. Wir hören auf zu spielen, sie ist zu müde und ich nicht schlau genug, wie es scheint. "Nein", sage ich. "Aber wieso denn nicht?" – sie klingt ernsthaft gekränkt. "Ist Ihnen das nicht zu persönlich, das Sterben?" – "Ach, Sie können ja meinen Namen ändern. Nennen Sie mich Gerda, der hat mir immer sehr gefallen. Und schließlich machen wir das ja deshalb hier." – "Das Sterben?" – "Na, ich sterbe ja wohl kaum für Sie. Aber das Treffen. Schauen sie ein bisschen zu und dann schreiben Sie darüber. Und dann druckt meine Tochter den Text aus und kann ihn anfassen. Dann kann sie das Sterben anfassen und weiß, dass ich gestorben bin."

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"Vorm Sterben hab ich Angst, hoffentlich tut es nicht weh."

Plötzlich springt etwas auf meinen Schoß, eine rotgetigerte Katze erklimmt mich. "Das ist Felix", sagt sie, "der Name ist nicht sehr einfallsreich, aber mir gingen einfach die Ideen aus und ein Name ist so gut wie der andere." Ich streiche dem Tier über den Rücken, wir betrachten uns misstrauisch. Katzen und ich haben ein seltsames Verhältnis zueinander, man weiß nie, wer sich unwohler fühlt, das Tier oder ich.

"Haben Sie einen Mann?", fragt Gerda. "Nein", sage ich. – "Einen Freund?" – "Nicht mehr, der ist mir kürzlich abhanden gekommen." – "Das ist ja seltsam. Eine Frau, die keine Angst vorm Tod hat, sollte man unbedingt heiraten." – "Aber ich habe Angst vorm Tod, sehr." – "Und doch stellen Sie sich dieser Angst. Das erfordert Schneid. Menschen, die nie Angst haben, leben nicht richtig. Die sparen die spannenden Dinge aus, es könnte ja was passieren."

Gerda lehnt sich zurück, schließt die Augen und wir schweigen lange. Ihr Atem rasselt, ab und zu versucht sie, kraftlos zu husten, doch es fällt ihr schwer.

"Nehmen Sie noch einmal meine Hand, so wie eben? Das war schön. Sie sind ganz warm." Ich nehme ihre zarten Papierhände wieder in meine. "Haben Sie Angst vorm Tod?", frage ich. "Nicht so sehr wie vorm Sterben. Vorm Sterben habe ich Angst, hoffentlich tut es nicht weh. Auf den Tod freue ich mich eigentlich, dann habe ich endlich meine Ruhe." – "Glauben Sie an ein Leben danach?" – "Das ändert sich mehrmals am Tag, manchmal ja, manchmal nein. Ich weiß nicht und irgendwie ist es mir nicht so wichtig." – "Nicht so wichtig?" – "Na ja, wenn es keins gibt, merke ich es ja nicht und wenn es eins gibt, dann werde ich es ja merken, oder nicht?"

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"Ich wäre jetzt wirklich gerne für Sie gestorben."

Wieder schweigen wir.

"Ich glaube, heute sterbe ich nicht." – "Nein." – "Sind Sie enttäuscht, dass ich nicht gestorben bin?" – "Was? Nein!" – "Ich bin schon ein bisschen enttäuscht. Ich wäre jetzt wirklich gerne für Sie gestorben, das hätte mir nichts ausgemacht, ehrlich." – "Das ist ein seltsamer Satz." – "Na, da wäre ich Ihre erste richtige Tote gewesen, also jetzt außer den kleinen Kindern, die sie fotografieren. Das hätte mich schon ein bisschen stolz gemacht." – "Wollen Sie etwa um die Wette sterben?" – "Na klar, früher bin ich Pferderennen geritten! Ich muss mich immer messen. Dann wäre ich ihre erste Tote gewesen und vielleicht sogar die Hübscheste, wer weiß!" Ich bin nicht sicher, ob sie sich über mich lustig macht. Sie verzieht keine Miene, das perfekte Pokerface.

"Gerda?" – "Ja?" – "Sind Sie zufrieden mit ihrem Leben gewesen?" – "Ja. Ich habe wirklich alles gemacht, was man so machen kann. Jetzt kommt das Ende. Ich habe ausgelebt, fiesta, Le fin, das war es jetzt. Alles ist gut so, wie es ist." – "Das freut mich." – "Ja. Kommen Sie bald noch einmal bei mir vorbei? Dann versuchen wir es nochmal mit dem Sterben." – "OK." – "OK."

Zum zweiten Treffen kam es nicht mehr. Gerda ist am 07. März 2018 gestorben. Sie ist meine erste Tote. Und ja, auch die Hübscheste.

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