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Sex

Warum die WG mit meiner Oma das Beste war, das mir passieren konnte

Von der Party-WG ins Wohnzimmer der Oma. Sie räumt hinter mir auf und erzählt mir ihre Kiff-Geschichten. Perfekt. Wäre da nicht die Sache mit dem Sex:

Was gibt es eigentlich Schöneres als handgeschriebene Zettel? | Alle Fotos von der Autorin

Meine Zwischenmiete war abgelaufen, das mit dem so gut wie sicheren Zimmer im Anschluss klappte nicht. Notiz an mich: Ein Handschlag und "du hast die Wohnung für die drei Monate, in denen ich nicht da bin" heißt leider nicht, dass man die Wohnung auch hat.Zurück zu Mama und Papa? Niemals! Ausgezogen heißt ausgezogen. Innerhalb von zwei Wochen ein bezahlbares WG-Zimmer in München zu finden, war—na ja, viel muss ich dazu nicht sagen.

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Verzweifelt erzählte ich es meiner Oma, die eine Geburtstagskarte vorbeibrachte. Ich war gerade 19 geworden, wir hatten uns davor Monate nicht gesehen. "Komm doch mit zu mir", sagte sie, wahrscheinlich, ohne wirklich darüber nachzudenken. Als ich am nächsten Tag meinen Koffer und zwei Kisten zu ihr brachte, waren wir beide etwas unschlüssig. Wir schauten uns an. Ich stand mit meinem Koffer zwischen dem Klavier und gerahmten Bildern—Öl, Zeichnungen, eine Reihe Fotos. Ein anderes Gefühl als zwischen Schnapsbar und dreckigem Warnhütchen von einer Baustelle, das irgendjemand mal angeschleppt hatte. Weniger aufregend. Eben die Wohnung einer über 70-Jährigen. "Ich hole mal Bettwäsche", sagte Oma.

Sie ist vor gut 20 Jahren hierhergezogen, mitten in die Stadt, alleine. Kurz davor, nach der Trennung von ihrem Mann, hat sie eine Motorradtour gemacht. Ein Foto davon hängt überm Klo: Sie mit Helm, irgendwo in Süditalien. Es war mir noch nie aufgefallen. Neben ihrem Bett noch ein cooles Foto, aus einem alten Film. Sie rauchend, er heiß. Ein Bild, das ich mir auch aufhängen würde.

Oma hat Geschmack. Das Bild neben ihrem Bett

Ich ging zurück ins Zimmer, Oma zog gerade die Schlafschublade aus, eine Matratze, die man aus einem Podest ausziehen kann. Mein Bett für die nächsten Monate.

"Ich bin nicht oft da, ich hoffe das ist kein Problem. Und ich koche nie", sagte Oma. Ansage. "Ich würde doch gar nicht wollen, dass ich wieder bekocht werde", sagte ich. "Wir wohnen einfach in einer WG, OK?" - "WG, das klingt gut", sagte Oma. Zu diesem Spirit passte auch unsere erste Konstruktion: Meine Jacken an der Außenseite eines Spritzschutzes an der Badewanne.

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Improvisieren geht auch noch mit 74. Unsere Garderobe, Tag eins

Wir setzten uns auf die Terrasse, sprachen über Kindheit, Jugend und unser erstes Mal Kiffen—das lustigerweise etwa bei uns beiden rund drei Jahre zurücklag. Alles von dem, was sie erzählte, war neu. Wie Mitbewohner kennenlernen, nur viel vertrauter.

Am Morgen suchte ich nach Frühstück. Im Kühlschrank: ein Stück Butter, eine Flasche Wein, zwei Tomaten. Ich hätte in Omas Küche Sauerrahm, Süßkartoffeln und Zartbitterschoko-Mandeln erwartet. Dinge, die sie früher mitgebracht hatte, am "Oma-Tag". Jetzt stand sie im Nachthemd hinter mir. "Lass uns in mein Stammcafé gehen." Oma kochte tatsächlich fast nie für sich allein. "Das schmeckt doch nicht."

Der Verkäufer in der Bäckerei grüßte sie mit Namen. "Croissant und Cappuccino, wie immer?" Am Tisch neben uns las ein Mann die Süddeutsche, er war etwa so alt wie meine Oma. Hin und wieder schaute seine Brille über der Zeitung hervor. Er beobachtete sie nicht auf eine unangenehme Weise, sondern sehr respektvoll. Als wir unsere Tassen zurücktrugen, passte der Herr den Moment ab, um Oma ein Kompliment für ihren orange-farbenen Mantel zu machen. "Ein Beamter in Rente, sehr belesen, sehr nett", sagte sie beim Rausgehen. Mit "nett" war wohl alles gesagt. Nicht sonderlich aufregend. Flirten als 19-Jährige und Flirten mit 74—offensichtlich kaum ein Unterschied.

Bald hatte ich das Gefühl, dass meine Oma mehr Sozialleben hat als ich. Ein Tag bei ihr war zirka so: Geige üben, Mittagsstammtisch (alle den Rentnerteller), Freundin besuchen, Yogastunde. Mal kam sie nachts um halb eins angeheitert nach Hause, stellte sich in mein Zimmer und erzählte mir lang und breit, mit welch netten Leuten sie gerade zusammensaß. Eines Abends stellte ich ihren kleinen Röhrenfernseher auf einen Stuhl—auch so eine Konstruktion. Fernsehen, Familienleben dachte ich. "Oma, schaust du mit?" Sie kam aus dem Bad, schwarzes langes Kleid, halbhohe Schuhe. "Nein, ich geh' Tango tanzen." Sie sah toll aus. Ihren Tanzpartner, mit dem sie als junge Frau getanzt hatte, hat sie letztens—nach vielen Jahren—zufällig auf der Straße wiedergetroffen, und sofort war beiden klar: Sie fangen wieder an. Das ist natürlich spannender als ein Herr im Café, der süße Komplimente macht. Und auch spannender als die 19-Jährige Enkelin, die denkt, mit Oma schaut man Tatort. "Gehst du nicht mehr raus?", fragte sie verwundert. "Äh, nein … bis später." Gerade noch Party-WG, jetzt alleine bei meiner Oma, vor einem Röhrenfernseher, während der Tatort-Vorspann lief. Ich fühlte mich alt.

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Bei aller unerwarteten Jugendlichkeit meiner Oma—mit der Zeit merkte ich doch, dass es Unterschiede zwischen 20- und 70-jährigen Mitbewohnern gibt.

WG-Frühstück im Backshop

Punkt eins: "Dieser Mantel ist neu" heißt für uns: in den letzten Wochen gekauft. Bei Oma heißt das: in den letzten fünf Jahren gekauft.

Punkt zwei: Jede WG hat ihre WhatsApp-, Telegram- oder Threema-Gruppe. Oma schrieb Zettel. Guten Morgen Sofia. Ich bin spazieren, komme gegen Abend wieder. Hier sind frische Erdbeeren. Schönen Sonntag! Was gibt es eigentlich Schöneres als handgeschriebene Zettel? Wenn Oma dann doch mal eine SMS schreibt, dann grundsätzlich in Großbuchstaben.

Punkt drei: Jeden mitbringen, wie ich lustig bin, war nicht drin. Das klärte sich, als ein Freund zu uns kam, Probe für ein Bandprojekt. Am Abend kam die Ansage: "Das hier ist mein Privatraum. Ich möchte nicht, dass hier Menschen sind, die ich nicht kenne. Vielleicht liegt das am Alter." - "Kein Problem. Wir proben woanders", sagte ich. "Oh nein", dachte ich. Das hieß: keine Freunde auf dem Sofa, keine After Hour in der Küche und an Sex zu Hause war gar nicht erst zu denken. Ich respektierte das. Auch als Oma übers Wochenende weg war, die Wohnung groß, der Weg von der Bar aus so kurz. Und ja, da gab es jemanden und die Versuchung war groß. Aber wie in jeder WG: Die Regel zu brechen, die dem anderen am wichtigsten ist, kam einfach nicht in Frage.

Punkt vier: In der WG vorher ging ständig was kaputt. Mehr als fünf Leute, mindestens zwei Gläser weniger. In Omas Haushalt war das anders. Ich hatte eine ganze Kokosnuss gekauft. Also googelte ich. Erst die zwei Punkte an der einen Seite mit einem Messer durchbohren und das Kokoswasser trinken. Schnell gemacht. Dann: Kokosnuss mit Säge oder Hammer teilen. Ich fand weder Hammer noch Säge. Ich weiß bis heute nicht, ob "einmal kräftig auf den Boden werfen" ein ernst gemeinter Tipp ist, jedenfalls versuchte ich es. Die Kokosnuss federte wie ein Flummi von den Fliesen ab und landete auf einer Schale auf der Küchenablage. Eine schöne Schale mit blauem Muster, jetzt mit großem Riss. Es fühlte sich anders an, als einen WG-Kühlschrank verschimmeln zu lassen oder einen Tisch mit einer Tanzeinlage zu zerbrechen. Das war nicht irgendeine Schüssel, wie das meiste in Omas Wohnung nicht einfach irgendwas ist. Die Schüssel war das Geschenk einer Freundin aus Griechenland.

Oma ist alt, viele ihrer Freunde sind weit weg, nicht mehr so agil wie sie, einige sind schwer krank. Unsere Wohnsituation war nicht nur ein lustiger Zufall, sondern ein verdammtes Glück. Wer bekommt schon so viel von seiner Oma mit? Viele meiner Freunde wissen gerade mal, dass ihre Großmutter guten Schweinebraten macht. Das gilt auch umgekehrt. Sicher hat mich Oma in Situationen erlebt, die normal eben Mitbewohnern vorbehalten sind. Im Vollrausch zum Beispiel. Ich, fünf Uhr morgens aus dem Club, Radius 25 Meter. Irgendwie zur Wohnung, irgendwie aufsperren. Kurz rechnen, zwei Stunden Schlaf, bevor der Wecker klingelt. Erstmal Wasser. Hey, Cornflakes! Verpackung noch zu. RATSCH. Ach, scheiße, ganze Küche voll. OK, egal. Leise Tür zu. WUMMS.

Am nächsten Abend war mein Cornflakes-Chaos weg und statt genervt zu sein, erzählte mir Oma diese Geschichte: "Als ich früher mit meinen Kindern im selben Haus gewohnt habe—sie waren schon Anfang 20—, haben dein Vater und dein Onkel nachts als Plakatierer gearbeitet. Das Haus war alt, man hörte den Aufzug quietschen, wenn er losfuhr. Also wartete ich immer bis früh morgens auf das Geräusch. Erleichtert, dass sie sicher wieder angekommen waren, konnte ich endlich einschlafen. Als du kamst, hatte ich Angst, dass es wieder so wird. Dass ich nicht schlafen kann, wenn du feiern gehst. Aber es ist nicht mehr so. Ich meine: Du bist erwachsen. Und ich bin lockerer geworden."

Auch ich war entspannter als bei meinen Eltern. Keine Relikte jugendlicher Kämpfe, aber trotzdem die Vertrautheit zwischen engen Verwandten. Und—so absurd das klingen mag—wir waren in einer ähnlichen Lebensphase: Viel Zeit für das Leben, Liebe, Musik. Für meine Oma eine besondere, keine gegebene Situation. Sie hat mir mehr gezeigt, wie man das Leben genießt, als jeder sich auslebende Mitbewohner, mit dem ich danach zusammenwohnte.