Menschen mit psychischen Problemen (Illustration)
Illustrationen von Kathrin Fahrngruber

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Menschen

Du solltest in Österreich besser nicht psychisch krank werden, wenn du deinen Job behalten willst

Jeder 10. Österreicher leidet unter psychischen Problemen; sie sind der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeitspensionen. Trotzdem sind Institutionen „nicht sonderlich gut darauf eingestellt". Wir haben mit zwei Betroffenen gesprochen.

Als ich noch im Studentenheim wohnte, gab es auf meinem Stock eine Kärntnerin, mit der ich auf die eine oder andere Party ging. Am Abend war sie meistens enthusiastisch, am Tag oft stoisch, aber weil das im Wesentlichen ziemlich genau dem studentischen Lebensrhythmus entsprach, der auch bei mir nach Heimfesten und Alkohol getaktet war, dachte sich niemand etwas dabei.

Dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte, dachte ich mir zum ersten Mal, nachdem sie auf mehreren Partys einfach das Gespräch abbrach, so etwas sagte wie „Damit kann ich mich nicht beschäftigen" und zu einer lustigeren Runde wechselte. Auch das war für Studentenpartys nicht ganz untypisch—und wer wie ich selbst mit ein paar neurotischen Selbstzweifeln ausgestattet ist, denkt in solchen Situationen natürlich zuerst darüber nach, ob man einfach wirklich zu langweilig war.

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Aber irgendetwas an ihrer Art machte mich stutzig. Die meisten anderen im Heim zuckten nur die Schultern und meinten, sie wäre eben egozentrisch. Was mich aber nicht losließ, war der Gedanke, dass sie das, was sie sagte, wirklich genauso meinte—und dass sie nicht einfach nur ignorant war, sondern sich wirklich nicht mit unseren Geschichten beschäftigen konnte.

Anscheinend bin ich letzte Woche nackt über den Marktplatz gelaufen und meine Freunde haben eine Amtsärztin eingeschaltet. Die Ärzte sagen, ich habe eine manische Depression. Jetzt bin ich die meiste Zeit festgebunden.

Kurz darauf kamen die Sommerferien und jeder zog für zwei Monate zurück in sein Bundesland. An einem sonnigen Nachmittag bekam ich plötzlich einen Anruf von ihr. Hier ist der Ablauf unseres Telefonats aus meiner Erinnerung.

„Hallo, Eva*?"

„Hallo, Markus. Willst du mich in Kärnten besuchen kommen? Es ist alles der Wahnsinn hier, es ist so schön, ich habe die ganze Zeit Orgasmen. Musikalische Orgasmen und alle Arten von Orgasmen. Du musst aber nicht unbedingt vorbeikommen, du kannst auch einfach FM4 einschalten und dich mit mir synchronisieren. Überleg's dir einfach! Tschüs!"

Ich dachte, sie wäre bekifft. Wie immer, wenn wir uns in der Zeit davor gesehen hatten, gab es kein wirkliches Gespräch, nur einen Abtausch von Statements. Eine Woche später rief sie wieder an. Das war unser zweites Telefonat, so gut ich mich daran erinnern kann:

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„Hallo, Markus. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass es mir nicht gut geht. Was ich letztes Mal gesagt habe, war nicht so gemeint. Ich liege auf der Geschlossenen. Anscheinend bin ich letzte Woche nackt über den Marktplatz gelaufen und meine Freunde haben eine Amtsärztin eingeschaltet. Die Ärzte sagen, ich habe eine manische Depression. Jetzt bin ich die meiste Zeit festgebunden. Ist nicht so cool. Aber es geht schon."

Ich erinnere mich nicht, was ich geantwortet habe, aber es war mit ziemlicher Sicherheit unpassend. In diesem Sommer—genau genommen mit diesen zwei Telefonaten—änderte sich mein gesamtes Konzept von Depressionen und seelischen Problemen generell. Ich hatte bis dahin nie mit ernsthaften psychischen Erkrankungen zu tun und mir unter „manischer Depression" definitiv etwas anderes vorgestellt (auch, wenn ich keine Ahnung habe, was). Und noch etwas beschäftigte mich zum ersten Mal: Als ich meiner damaligen Freundin die Sache erzählte, sagte sie „Stell dir mal vor, wie schwer sie es jetzt hätte, wenn sie nicht noch studieren würde, sondern einen fixen Job hätte.

Seither habe ich dieses hypothetische Szenario mehrmals im Kopf durchgespielt. In einem geregelten Arbeitsverhältnis hätte Eva einerseits weniger Chancen gehabt, sich in ihren mit manischen Phasen mit Alkohol abzulenken und ihr Verhalten wäre wahrscheinlich früher aufgefallen; andererseits heißt das nicht, dass ihre Erkrankung früher erkannt worden wäre, sondern womöglich nur, dass sich ihre Mitarbeiter hinter ihrem Rücken über ihren Egozentrismus und ihr Boss sich über ihren Motivationsmangel beschwert hätten. Es heißt vielleicht, dass Eva noch viel mehr unter Druck gestanden wäre, weil sie sich besser verstellen hätte müssen—und dass ihre Einweisung und die geschlossene Abteilung ihrem Leben einen viel stärkeren Knick verpasst hätte. Vielleicht auch einen dauerhaften.

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Psychische Krankheiten sind in Österreich mittlerweile die zweithäufigste Krankheitsgruppe bei den Berufs- und Erwerbsunfähigkeitspensionen. Laut Statistik Austria beziehen mit Stand 2013 insgesamt 195.621 Menschen eine Pension aufgrund der Arbeitsunfähigkeit. Das statistische Handbuch der österreichischen Sozialversicherungen nennt in 33,1 Prozent davon psychische Erkrankungen als Hauptursachen.

Die Zahl der Pensionierungen wird dabei nicht nur immer höher. Im Schnitt sind Pensionisten aus Arbeitsunfähigkeit zirka 10 Jahre jünger als Alterspensionisten. In Österreich nehmen jedes Jahr zirka 900.000 Menschen das Gesundheitssystem aufgrund von psychiatrischen Diagnosen in Anspruch—das ist ein Zehntel der Gesamtbevölkerung.

Psychische Krankheiten sind nach wie vor ein Tabuthema und die Betroffenen eine zunehmend alleingelassene, immer größere und leider auch immer jüngere Randgruppe.

„Psychische Krankheiten sind nach wie vor ein Tabuthema und die Betroffenen eine zunehmend alleingelassene, immer größere und leider auch immer jüngere Randgruppe", sagt Beate Wehringer*. Sie ist Sozialpädagogin bei der Laube und betreut seit über 30 Jahren seelisch belastete Menschen in ihrem Leben und durch den Beruf. „Die Krankheitsbilder unserer Besucher sind breit gestreut", erzählt sie. „Von Angststörungen über Schizophrenien bis hin zu Depressionen sind alle Gruppen vertreten."

Wie alles im Leben existieren auch psychische Erkrankungen nicht im luftleeren Raum. Selbst, wenn Betroffene den Schritt hinaus gewagt und die richtigen Einrichtungen gefunden haben, gibt es keine einfachen Antworten und keine universelle Blackbox, der man das Problem füttert und die daraufhin Lösungen ausspuckt. Nirgendwo wird der Zusammenprall (und auch die Gegenläufigkeit) von persönlichen Bedürfnissen und unserem allgemeinen Gesellschaftssystem so deutlich wie bei psychischen Erkrankungen und dem Arbeitsmarkt.

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Deshalb setzen sozial-psychiatrische Einrichtungen wie die Laube nicht nur auf Beratungsgespräche, sondern integrative Wohn- und Arbeitsprojekte für psychisch Erkrankte—und auf Lebensbegleitung.

Um die Probleme von Menschen mit seelischen Schwierigkeiten am Arbeitsplatz auch ganz praktisch besser zu verstehen, habe ich mich mit zwei Betroffenen unterhalten, die aus völlig unterschiedlichen Lebensbereichen mit völlig unterschiedlichen Problemen, völlig unterschiedlichem Alter und völlig unterschiedlichen Jobs kommen. Trotzdem haben ihre Fälle einiges gemeinsam.

Laura* ist Ende 20 und arbeitet seit sie denken kann im Agenturbereich. Ihre Jobs wirken wie das perfekte Spiegelbild ihrer Persönlichkeit—immer geht es um Kommunikation, Serviceorientiertheit und die ständige Bereitschaft dazu, ein bisschen mehr zu geben, als die Job Description oder der Boss es jemals direkt verlangen würden. Laura ist laut, lustig und liebenswert. Der Druck, den sie hat, ist indirekt. Sie arbeitet täglich bis in die Nacht, glaubt immer, den Kunden in vorauseilendem Gehorsam noch mehr liefern zu müssen. Ihr Job ist weniger das natürliche Spiegelbild ihrer Persönlichkeit, sondern der Horrorkabinett-Zerrspiegel, aus dem sie sich irgendwann ihre Persönlichkeit holt. Hinzukommen Probleme mit ihrem Freund.

„Die Kombination aus ständiger Eskalation in meiner damaligen Beziehung und einem Job, der mir zwar Spaß machte, aber extrem stressig war, hat mich komplett durchknallen lassen", fasst Laura zusammen.

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„Da mein Team unterbesetzt war und ich meinen Chefs immer zeigte, dass ich sehr belastbar bin und alle Kunden im Griff habe, bekam ich noch zwei eigene Accounts obendrauf", erzählt sie. Einerseits bezog sie ihre Energie aus der Anerkennung im Job—andererseits fehlte ihr dazu der Ausgleich. „Auch an den Wochenenden habe ich nie abgeschaltet. Ich wollte lieber arbeiten, als an meine abgefuckte Beziehung und die Ängste um meinen Freund zu denken", fasst sie zusammen. „Es gab einfach keinen Unterschied mehr zwischen Wochenenden und Arbeitstagen."

Aufgrund einer Erkrankung ihres Freundes fühlt sie sich für ihn mitverantwortlich und versucht, seine Probleme ebenfalls in die Hand zu nehmen. Das führt wiederum zu mehr Streit und Terror in der Freizeit.

„Ich bin einfach ein psychisches Wrack geworden. In der Agentur hat das lange niemand gecheckt, weil ich gut darin bin, meine Rolle zu spielen und problemlos auf happy machen kann." Hinzukam irgendwann auch noch Schlaflosigkeit—und damit auch immer häufige Wachphasen in der Nacht, in denen Laura sich Gedanken über ihren Job machen konnte.

„An Weihnachten gab es dann ein riesiges Drama mit meinem Freund. Wir haben uns wirklich extrem gestritten. Ich hab 2 Tage nur geheult. Im Krankenhaus habe ich dann von einer Psychiaterin erfahren, dass ich nicht einfach nur traurig bin, sondern eine Panikattacke hatte."

Hätte mich jemand drauf angesprochen, was mit mir los ist, hätte ich auch die Wahrheit gesagt. Das hat aber nie jemand gemacht.

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Erst durch die Psychiaterin als neutrale Instanz wurde Laura klar, was ihr seit längerem fehlte: nämlich eine Rückzugsmöglichkeit. Während der Job von ihr volle Konzentration (und auch Verstellung) verlangte, forderte ihre Beziehung ständige Alarmbereitschaft—und da sie mit ihrem Freund in einer gemeinsamen Wohnung lebte, gab es auch keine Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen.

„Aus dem AKH kam ich dann vollgepumpt mit Beruhigungstmitteln und Benzos raus. Ich hätte lieber für ein paar Tage aussetzen sollen, aber stattdessen war ich am 2 Tage später bereits wieder im Büro. Ich weiß noch, wie ich an meinem Platz saß und einfach nur diffuse Angst hatte. Ich versuchte die ganze Zeit, nicht zu weinen. Das hab ich dann eine Stunde unterdrückt, bis die Besprechung mit meinem Team-Leader anstand. Da bin ich dann total zusammen gebrochen."

Es folgte der nächste Besuch in der Psychiatrie und die Diagnose Angststörung beziehungsweise Panikstörung—danach Psychotherapie und, aus Lauras Sicht „leider", auch mehr Medikamente.

Ein weiteres Problem, das bei vielen Betroffenen auftaucht und zu immer Isolation führt, ist die zunehmende Diskrepanz zwischen Selbst- und Außenwahrnehmung. Während gewisse Dinge für Menschen wie Laura völlig eindeutig Hilfeschreie sind, erkennen Außenstehende die Signale gar nicht und deuten ihr Verhalten anders: „Hätte mich jemand drauf angesprochen, was mit mir los ist, hätte ich auch die Wahrheit gesagt. Das hat aber nie jemand gemacht", sagt Laura.

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Eine vergleichbare Logik taucht bei Betroffenen immer wieder auf, wie auch Psychologen bestätigen. Die Denkweise von psychisch Erkrankten ist dabei häufig so in sich abgeschlossen, dass Menschen ohne Fachwissen oder direktes Wissen um die Vorgeschichte der betroffenen Personen kaum eine Möglichkeit haben, die Signale überhaupt richtig zu deuten.

Auch Silvia*, die ebenfalls an einer manischen Depression leidet, erzählt von einem ähnlichen Verhalten in ihrem Job. „Wenn ich gesagt habe ‚Lasst mich in Ruhe arbeiten', war das eigentlich meine Art, einen Hilfeschrei abzugeben. Nur hat den niemand außer mir verstanden."

Silvia ist im Gegensatz zu Laura einige Jahrzehnte älter und steht—eigentlich—mitten im Leben. Sie wurde in ihrem Leben drei Mal „gebrochen", wie sie sagt. Gemeint sind damit Vergewaltigungen—aus einer davon ging ihre erste Tochter hervor, die inzwischen den Kontakt zu Silvia abgebrochen hat.

Als ich mit ihr spreche, erzählt Silvia, dass sie erst am Tag davor ihre Arbeit verloren hat. „Ich habe meinen Job verloren, weil ich lange davor schon meine Konzentration verloren hatte. Und das liegt wiederum daran, dass ich immer schon manisch-depressiv war. Jetzt bin ich wieder in dasselbe alte Loch gefallen."

Für sie war die Arbeit lange Zeit der letzte Anker—und das einzige, das sie davor bewahrte, wieder drei Tabletten täglich einnehmen zu müssen. Einen Tag nach der Kündigung weiß sie, dass sie bald wieder zu dieser Routine zurückkehren müssen wird.

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Genau wie Laura hatte auch Silvia eine verantwortungsvolle Position und arbeitete als Expertin für Firmengründungen in einem Notariat. Zuerst 40 Stunden, dann 20. „Ich bin leider einfach nicht mehr die Person, die 40 Stunden oder mehr arbeiten kann", sagt sie.

Auch Josef Wallner, Experte und Berater bei der Arbeiterkammer Wien sagt, „Die richtigen Jobs sind für Betroffene nicht unbedingt einfach zu finden. Es hilft nichts, für psychisch Erkrankte eine Stelle zu finden, in der sie 60 Stunden arbeiten und mit mehreren Überforderungen gleichzeitig klarkommen sollen."

Das Problem sei aber nicht nur, sich seelische Krankheiten einzugestehen und entsprechend zu handeln, sondern auch, diese überhaupt richtig zu erkennen. „Oft können Betroffene die Symptome selbst nicht richtig deuten. Dauermüdigkeit ist häufig ein erstes Anzeichen für eine schwere Depression", sagt Wallner. „Und wenn jemand an einer schweren Depression leidet—was keineswegs nur eine einfache Gemütsverstimmung ist—, schränkt das die Arbeitsfähigkeit massiv ein. Aber häufig sehen Betroffene nur, dass sie im Job nicht mehr mithalten können und zweifeln noch mehr an sich selbst, anstatt sich Hilfe zu suchen."

Auch Silvia hat lange dagegen angekämpft, sich einzugestehen, dass sie eigentlich Unterstützung bräuchte. Je mehr Störeinflüsse auf sie zukamen—mit je mehr zwischenmenschlichem White Noise sie zu kämpfen hatte—, umso schwieriger wurde auch der Job selbst für sie. „Eigentlich kann ich sehr gut arbeiten, aber nur, wenn man mich eben auch in Ruhe arbeiten lässt", sagt sie. „Was ich gar nicht kann, ist mit Streitereien und Tuscheln umgehen. Leider war das bei uns aber alltäglich."

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Ich war einfach ausgepowert. Wenn man sich nichts anmerken lassen darf, ist das noch ein zusätzlicher Kraftaufwand. Man legt Make-up auf und beißt sich eben durch.

Anfangs versuchte Silvia noch, den zusätzlichen Stress auszuklammern. Von ihren Vergewaltigungen—oder, mit Silvias eigenen, nicht von Tätern vorbelasteten Worten: Brechungen—erzählt sie am Arbeitsplatz niemandem. Auch, dass sie manisch-depressiv ist, weiß nur ihre Familie. In dieser sieht sie im weitesten Sinne auch die Ursache ihrer Probleme. „Meine Mutter hat immer Druck ausgeübt", erinnert sie sich. „Ich konnte dem nie entsprechen." Silvias Schwester ist geistig behindert und als Erwachsene immer noch auf dem Entwicklungsstand einer 11-Jährigen. „Umso stärker wurde ich von unserer Mutter gedrillt—egal, ob im Sport, beim Lernen oder sonst wo. Ich denke, meine Mutter hatte ebenfalls Erlebnisse hinter sich, die sie nicht verarbeiten konnte. Es ist genau dasselbe bei ihr. Ein Teufelskreis." Auch bei Silvia verläuft der Abstieg als Spirale: Je verschlossener sie wird, umso mehr zieht sie die falschen Männer an—und desto mehr Männer- und Familienprobleme entstehen rund um sie.

Die Geheimhaltung ihrer Familiengeschichte wurde zu einer zusätzlichen Belastung. „Ich war einfach ausgepowert. Wenn man sich nichts anmerken lassen darf, ist das noch ein zusätzlicher Kraftaufwand. Man legt Make-up auf und beißt sich eben durch."

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Mit demselben Verhalten hielt sich auch Laura in ihrer Agentur lange Zeit über Wasser—bis es irgendwann einfach nicht mehr ging. Heute erscheint es ihr völlig logisch, dass ihr eigenes Verhalten die Situation zusätzlich verkompliziert hat. „Wenn man sich zu lange von sich selbst ablenkt, kann das nicht gut gehen. Aber das herauszufinden, hat etwas gedauert", sagt sie. Wichtig war für sie aber auch eine andere Erkenntnis: „Ich habe gelernt, dass Freunde nicht immer der beste Weg sind, um ein Problem zu verarbeiten. Freunde sind einfach oft zu involviert. Außerdem haben sie auch zu wenig Ahnung von psychischen Erkrankungen. Bei sowas kann einem nur ein Psychologe oder Psychiater helfen."

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Die Schwierigkeit besteht für die meisten Betroffenen aber schon darin, überhaupt diesen ersten Schritt zu gehen. „Auch, wenn Arbeitnehmer psychische Erkrankungen in Österreich nicht dem Arbeitgeber melden müssen, ist der Arbeitsmarkt insgesamt sehr wohl diskriminierend gegenüber psychisch Kranken", sagt die Sozialpädagogin Beate Wehringer. „Sie weisen keinen lückenlosen Lebenslauf auf, ihr Leistungsvermögen und ihre sozialen und kommunikativen Fähigkeiten reichen oft nicht aus, um im normalen Arbeitsleben zu bestehen."

Josef Wallner von der Arbeiterkammer ergänzt, dass die Institutionen „nicht sonderlich gut darauf eingestellt" wären, auf die Bedürfnisse von psychisch Erkrankten einzugehen. Das liegt zu einem Teil daran, dass im Arbeitsalltag allein die Erkennung schwierig wäre. „In der Regel wenden sich die Leute ja auch nicht aufgrund ihrer psychischen Erkrankung an die Arbeiterkammer. Wir erfahren zuerst nur, dass sie gekündigt oder entlassen wurden—und erst auf Nachfrage wird dann der Grund dahinter klar."

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Prinzipiell stünde die Arbeiterkammer natürlich als Anlaufstelle für alle Menschen mit konkreten Sachproblemen am Arbeitsplatz zur Verfügung—aber in der Praxis hätten Menschen mit seelischen Problemen oft gar nicht mehr die Ressourcen, sich aktiv um Hilfe zu kümmern. „Es gibt kein rotes Telefon, an das sich Betroffene wenden können. Das wäre sicher wünschenswert, ist aber praktisch kaum umzusetzen", sagt Wallner.

Wie schnell Menschen mit psychischen Problemen aktiv etwas dagegen unternehmen, ist für den Arbeitskammer-Experten „manchmal auch eine Bildungsfrage. Es gilt dasselbe wie bei einer körperlichen Krankheit. Wenn man nicht zum Arzt geht, wird es irgendwann zu spät sein. Hier muss der Betroffene oder sein Umfeld eine entsprechende Stelle ansteuern."

Daran scheiterte es bei Silvia nicht. Sie war auch während ihres Notariats-Jobs in Behandlung. Irgendwann war ihre Erkrankung aber trotz der Hilfe ihrer Gesundheitspsychologin und ihrem Willen zum „Durchbeißen" zu präsent—und Silvia auch für ihren Chef nicht mehr tragbar. „Mein Chef ist einer der nettesten Menschen", erzählt sie, „aber irgendwann hat auch er gemeint, so würde es einfach nicht mehr gehen. Ich verstehe ihn. Wir reden hier immerhin von einem wirtschaftlich geführten Betrieb."

Eine einfache Lösung für Silvias Situation—und die vielen tausenden vergleichbaren—gibt es nicht. Das ist auch Silvia klar. Der Arbeitsmarkt ist, um es mit einem Modewort zu sagen, „befindlichkeitsagnostisch"—oder, weniger vorsichtig ausgedrückt, ganz einfach ignorant gegenüber den Bedürfnissen einzelner, sobald dadurch die Wirtschaftlichkeit leidet. Diese Diskriminierung ist ein systemisches Problem. Sie hört nicht bei psychischen Erkrankungen auf, sondern trifft genauso Menschen mit Behinderungen oder häufigen Krankenständen.

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Gleichzeitig herrscht aber in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch ein gravierender Unterschied zwischen seelischen und körperlichen Krankheiten. „Bei einem körperlichen Gebrechen wird ein Arzt konsultiert. Es ist auch völlig normal, wegen eines neuen Gebrechens immer wieder einen Arzt aufzusuchen. Bei psychischen Störungen ist das nach wie vor anders", meint Sozialpädagogin Wehringer. „Landläufig wird gemeint, das sei eine Sache von Gefühlen und Befindlichkeiten—und damit auch von Willensschwäche."

Dabei ist der Wille, etwas an seiner Lage zu ändern, bei psychisch Erkrankten oft eisern. Nachdem Silvia ihren Arbeitsplatz im Notariat verloren hat, will sie sich so schnell wie möglich die nächste Stelle suchen. Am Tag unseres Gesprächs hat sie gerade den Gang zum AMS und damit die Arbeitslosenmeldung hinter sich. Vor ihrem Chef, den sie als „einen der nettesten Menschen der Welt" beschreibt, hat sie ihre Situation noch geheim gehalten. Beim AMS hat sie ihr Problem nun bekanntgemacht und angegeben, dass sie einen 25-Stunden-Job sucht. „Mir wurde angeboten, ob sie mich wegen meiner manischen Depression nicht freistellen sollen. Ich habe abgelehnt—immerhin will ich ja einen neuen Job. Ich bin doch nicht behindert."

Aber nicht alle Menschen haben die gleiche seelische Stärke wie Silvia. Und nicht immer ist der Behördengang der erste Schritt zur Besserung. Das erklärt auch Josef Wallner von der Arbeiterkammer. Fallen Betroffene erst einmal aus ihrem Job und werden gekündigt oder sogar entlassen—wofür die Chancen bei zunehmenden Krankenständen generell höher stünden—, wird der Weg zurück in die Normalität in der Regel noch holpriger. „Das AMS behandelt die Leute nicht gerade mit übertriebener Sensibilität", sagt Wallner. „Stattdessen gibt es Sanktionen gegen Menschen, wenn sie Termine nicht wahrnehmen. Das wiederum führt zu Streichungen—und mit weniger Geld verbessert sich die Lage nur selten."

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Im Gegensatz zu Silvia, die ihren Notariats-Job unfreiwillig aufgeben musste, kündigte Laura ihre Agenturarbeit selbst. Der Schritt aus der Arbeit und ins Ungewisse war aber auch für sie etwas, zu dem sie sich erst mal durchringen musste. „Es dauerte zwei Monate, bis ich wirklich etwas unternahm", sagt sie. „Das führte dann zu einem ziemlich skurrilen Gespräch mit meinem Chef: Ich erzählte ihm, dass ich nicht mehr schlafen könnte und er meinte ironischerweise, dass das bestimmt nicht am Job liege, sondern dass ich eben eine Depression hätte."

Es ist wie die Frage nach dem Henne oder dem Ei. Auch Lauras Psychologin meinte, dass die Angststörung ein Teilgrund für ihre Schlaflosigkeit sein könnte; aber gleichzeitig ist diese auch nicht ohne Ursache entstanden. Zusätzlich zu den vielen Fällen von psychischen Erkrankungen, die am Arbeitsmarkt zu Problemen führen, gibt es auch eine alarmierende Zahl von Leuten, deren psychische Probleme erst an ihrem Arbeitsplatz entstehen. In einer Umfrage von Statistik Austria klagen vier von zehn Befragten über seelische Belastungen im Job—am häufigsten ausgelöst durch Zeitdruck und Überbeanspruchung.

Seit sie Job und Beziehung aufgegeben hat, geht es Laura nun wieder einigermaßen gut. Ob die Erkrankung „besiegt" ist oder nur „schlummert", lässt sich nie so genau sagen—aber eigentlich ist der Unterschied auch rein akademisch. Viel wichtiger ist für sie, dass Menschen offener mit ihren Problemen umgehen—sowohl gegenüber Ärzten, Psychiatern und psychologischen Betreuungspersonen, als auch gegenüber sich selbst.

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Auch Silvia hat fast dieselbe Botschaft. Als ich sie am Ende unseres Gesprächs frage, was sie den Menschen da draußen mitgeben möchte, sagt sie: „Einfach nur ehrlich sein. Sonst gar nichts. Ich weiß, das ist schwierig. Aber ich bin mir sicher, dass man mit seinen psychischen Problemen zuerst einmal selbst offen umgehen muss. Am besten schon beim Bewerbungsgespräch. Was hilft es einem, wenn man seinem Chef etwas vormacht und das Problem rauszögert?"

Es klingt paradox und auf jeder Ebene unfair, aber worüber man selbst als Betroffener nicht redet, kann für Außenstehende erst recht nicht zur Normalität werden. Die Last sollte natürlich nicht auf den psychisch Erkrankten liegen, aber Offenheit kann ein Weg sein, um diese Last an die Institutionen und Unternehmen weiterzugeben. Gesunde Menschen sind nicht nur glücklicher, sondern glücklichere Menschen sind auch die effizienteren Arbeitskräfte. Das hat 2014 auch eine Studie der Universität Warwick gezeigt— zufriedene Mitarbeiter sind demnach bis zu 12 Prozent produktiver als andere.

Ich wünsche mir, dass es in allen Bereichen des Lebens wieder mehr um den Menschen geht. Und dass soziale Arbeit in unserer Gesellschaft mehr wertgeschätzt wird.

Das allein ist noch nicht die Lösung aller psychischen Probleme. Arbeitsausfälle wird es immer geben. Psychische Erkrankungen lassen sich nicht aus unserer Welt verbannen. Aber, wie Sozialpädagogin Beate Wehringer sagt: „Menschen mit psychischer Beeinträchtigung brauchen mehr Perspektiven für Arbeit und Beruf, als lediglich die ‚Wahl' zwischen Integration oder Desintegration."

Dafür müssen wir—als Gesellschaft—unser seelisches Befinden ernster nehmen. Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz muss evaluiert werden. Sie muss die Politik interessieren, die Arbeitsinspektoren und die Unternehmen selbst. Wenn geistige Gesundheit erst mal zur Business-Benchmark wird, weil sich damit auch der Unternehmenserfolg steigern lässt, werden auch die entsprechenden Maßnahmen folgen, um sie so gut es geht zu erreichen. Genau das ist die Stärke von funktionierenden Firmen: Sie passen sich an und finden neue Lösungen. Zwischen Taylorismus, der Menschen auf quantifizierbare Nummern reduziert hat, und modernem Management, in dem es um „Empowerment" und Mitarbeiterbonusprogramme geht, liegen Welten.

Es wäre absurd, davon auszugehen, dass solche Veränderungen nicht passieren könnten. Jetzt müssen sie vor allem weitergehen. Im Moment gibt es noch keine Patentlösung, wie Arbeitskammer-Experte Wallner sagt. Was es aber schon heute gibt, sind einzelne Ansätze zur Verbesserung, zum Beispiel in der Form von fit2work, einem Präventiv-Instrument des Sozialministeriumservice zur Früherkennung von psychischen Erkrankungen. Auch die Psychosozialen Dienste in Österreich bieten Hilfe.

Sozialpädagogin Wehringer hat für die Zukunft eine ganz klare, idealistische Vorstellung: „Ich wünsche mir, dass es in allen Bereichen des Lebens wieder mehr um den Menschen geht. Und dass soziale Arbeit in unserer Gesellschaft mehr wertgeschätzt wird. Nicht nur ideell, auch finanziell."

Silvia weiß für sich jedenfalls, dass sie ihre manische Depression bei Job-Interviews in Zukunft thematisieren wird. „Das sind zwar meine Existenzängste, die ich damit aussprechen würde—aber andererseits: Es war auch eine Existenzangst von mir, meinen Job zu verlieren. Und das ist passiert, obwohl ich in meiner alten Arbeit geschwiegen habe. Man kann solche Dinge einfach nicht verhindern. Also sollte man zumindest damit leben können." Aktuell bekommt Silvia Unterstützung von ihrer Gesundheitspsychologin.

Und was Eva, meine Kärntner Studentenheim-Bekanntschaft, angeht, habe ich in den letzten Jahren zwar ein bisschen den Kontakt verloren, aber inzwischen doch eine Antwort auf die Frage, wie Depression und Job vereinbar sind, bekommen. Eva hat ihre Ausbildung nach einer Pause abgeschlossen und ist heute Sozial- und Integrationspädagogin.

Markus auf Twitter: @wurstzombie

Anlaufstellen:

Kontakt zu fit2work

Website der Psychosozialen Dienste in Österreich

Hilfe in der Krise: Notrufnummern-Übersicht


*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert

Illustrationen von Kathrin Fahrngruber