Kurz darauf kamen die Sommerferien und jeder zog für zwei Monate zurück in sein Bundesland. An einem sonnigen Nachmittag bekam ich plötzlich einen Anruf von ihr. Hier ist der Ablauf unseres Telefonats aus meiner Erinnerung.„Hallo, Eva*?"„Hallo, Markus. Willst du mich in Kärnten besuchen kommen? Es ist alles der Wahnsinn hier, es ist so schön, ich habe die ganze Zeit Orgasmen. Musikalische Orgasmen und alle Arten von Orgasmen. Du musst aber nicht unbedingt vorbeikommen, du kannst auch einfach FM4 einschalten und dich mit mir synchronisieren. Überleg's dir einfach! Tschüs!"Ich dachte, sie wäre bekifft. Wie immer, wenn wir uns in der Zeit davor gesehen hatten, gab es kein wirkliches Gespräch, nur einen Abtausch von Statements. Eine Woche später rief sie wieder an. Das war unser zweites Telefonat, so gut ich mich daran erinnern kann:Anscheinend bin ich letzte Woche nackt über den Marktplatz gelaufen und meine Freunde haben eine Amtsärztin eingeschaltet. Die Ärzte sagen, ich habe eine manische Depression. Jetzt bin ich die meiste Zeit festgebunden.
„Psychische Krankheiten sind nach wie vor ein Tabuthema und die Betroffenen eine zunehmend alleingelassene, immer größere und leider auch immer jüngere Randgruppe", sagt Beate Wehringer*. Sie ist Sozialpädagogin bei der Laube und betreut seit über 30 Jahren seelisch belastete Menschen in ihrem Leben und durch den Beruf. „Die Krankheitsbilder unserer Besucher sind breit gestreut", erzählt sie. „Von Angststörungen über Schizophrenien bis hin zu Depressionen sind alle Gruppen vertreten."Wie alles im Leben existieren auch psychische Erkrankungen nicht im luftleeren Raum. Selbst, wenn Betroffene den Schritt hinaus gewagt und die richtigen Einrichtungen gefunden haben, gibt es keine einfachen Antworten und keine universelle Blackbox, der man das Problem füttert und die daraufhin Lösungen ausspuckt. Nirgendwo wird der Zusammenprall (und auch die Gegenläufigkeit) von persönlichen Bedürfnissen und unserem allgemeinen Gesellschaftssystem so deutlich wie bei psychischen Erkrankungen und dem Arbeitsmarkt.Psychische Krankheiten sind nach wie vor ein Tabuthema und die Betroffenen eine zunehmend alleingelassene, immer größere und leider auch immer jüngere Randgruppe.
Hätte mich jemand drauf angesprochen, was mit mir los ist, hätte ich auch die Wahrheit gesagt. Das hat aber nie jemand gemacht.
Anfangs versuchte Silvia noch, den zusätzlichen Stress auszuklammern. Von ihren Vergewaltigungen—oder, mit Silvias eigenen, nicht von Tätern vorbelasteten Worten: Brechungen—erzählt sie am Arbeitsplatz niemandem. Auch, dass sie manisch-depressiv ist, weiß nur ihre Familie. In dieser sieht sie im weitesten Sinne auch die Ursache ihrer Probleme. „Meine Mutter hat immer Druck ausgeübt", erinnert sie sich. „Ich konnte dem nie entsprechen." Silvias Schwester ist geistig behindert und als Erwachsene immer noch auf dem Entwicklungsstand einer 11-Jährigen. „Umso stärker wurde ich von unserer Mutter gedrillt—egal, ob im Sport, beim Lernen oder sonst wo. Ich denke, meine Mutter hatte ebenfalls Erlebnisse hinter sich, die sie nicht verarbeiten konnte. Es ist genau dasselbe bei ihr. Ein Teufelskreis." Auch bei Silvia verläuft der Abstieg als Spirale: Je verschlossener sie wird, umso mehr zieht sie die falschen Männer an—und desto mehr Männer- und Familienprobleme entstehen rund um sie.Die Geheimhaltung ihrer Familiengeschichte wurde zu einer zusätzlichen Belastung. „Ich war einfach ausgepowert. Wenn man sich nichts anmerken lassen darf, ist das noch ein zusätzlicher Kraftaufwand. Man legt Make-up auf und beißt sich eben durch."Ich war einfach ausgepowert. Wenn man sich nichts anmerken lassen darf, ist das noch ein zusätzlicher Kraftaufwand. Man legt Make-up auf und beißt sich eben durch.
Das allein ist noch nicht die Lösung aller psychischen Probleme. Arbeitsausfälle wird es immer geben. Psychische Erkrankungen lassen sich nicht aus unserer Welt verbannen. Aber, wie Sozialpädagogin Beate Wehringer sagt: „Menschen mit psychischer Beeinträchtigung brauchen mehr Perspektiven für Arbeit und Beruf, als lediglich die ‚Wahl' zwischen Integration oder Desintegration."Dafür müssen wir—als Gesellschaft—unser seelisches Befinden ernster nehmen. Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz muss evaluiert werden. Sie muss die Politik interessieren, die Arbeitsinspektoren und die Unternehmen selbst. Wenn geistige Gesundheit erst mal zur Business-Benchmark wird, weil sich damit auch der Unternehmenserfolg steigern lässt, werden auch die entsprechenden Maßnahmen folgen, um sie so gut es geht zu erreichen. Genau das ist die Stärke von funktionierenden Firmen: Sie passen sich an und finden neue Lösungen. Zwischen Taylorismus, der Menschen auf quantifizierbare Nummern reduziert hat, und modernem Management, in dem es um „Empowerment" und Mitarbeiterbonusprogramme geht, liegen Welten.Es wäre absurd, davon auszugehen, dass solche Veränderungen nicht passieren könnten. Jetzt müssen sie vor allem weitergehen. Im Moment gibt es noch keine Patentlösung, wie Arbeitskammer-Experte Wallner sagt. Was es aber schon heute gibt, sind einzelne Ansätze zur Verbesserung, zum Beispiel in der Form von fit2work, einem Präventiv-Instrument des Sozialministeriumservice zur Früherkennung von psychischen Erkrankungen. Auch die Psychosozialen Dienste in Österreich bieten Hilfe.Sozialpädagogin Wehringer hat für die Zukunft eine ganz klare, idealistische Vorstellung: „Ich wünsche mir, dass es in allen Bereichen des Lebens wieder mehr um den Menschen geht. Und dass soziale Arbeit in unserer Gesellschaft mehr wertgeschätzt wird. Nicht nur ideell, auch finanziell."Silvia weiß für sich jedenfalls, dass sie ihre manische Depression bei Job-Interviews in Zukunft thematisieren wird. „Das sind zwar meine Existenzängste, die ich damit aussprechen würde—aber andererseits: Es war auch eine Existenzangst von mir, meinen Job zu verlieren. Und das ist passiert, obwohl ich in meiner alten Arbeit geschwiegen habe. Man kann solche Dinge einfach nicht verhindern. Also sollte man zumindest damit leben können." Aktuell bekommt Silvia Unterstützung von ihrer Gesundheitspsychologin.Und was Eva, meine Kärntner Studentenheim-Bekanntschaft, angeht, habe ich in den letzten Jahren zwar ein bisschen den Kontakt verloren, aber inzwischen doch eine Antwort auf die Frage, wie Depression und Job vereinbar sind, bekommen. Eva hat ihre Ausbildung nach einer Pause abgeschlossen und ist heute Sozial- und Integrationspädagogin.Markus auf Twitter: @wurstzombieIch wünsche mir, dass es in allen Bereichen des Lebens wieder mehr um den Menschen geht. Und dass soziale Arbeit in unserer Gesellschaft mehr wertgeschätzt wird.
Anlaufstellen:
*Alle Namen wurden von der Redaktion geändertIllustrationen von Kathrin Fahrngruber