Die bewegenden Biografien der LKW-Fahrer an der grössten Schweizer Raststätte
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Die bewegenden Biografien der LKW-Fahrer an der grössten Schweizer Raststätte

"Das ist mein Leben, der Laster ist meine Geliebte, das ist Freiheit."

Ständig unterwegs, ewige Freundschaften, Abenteuer am Laufmeter, die grosse Freiheit. Vor allem das: die grosse Freiheit. Für ihn ist das Zeug aus alten Zeiten. Ürsu, ein Lastwagenfahrer, steht auf dem Parkplatz der Raststätte Grauholz. Der Autobahnabschnitt ausserhalb der Stadt Bern ist einer der ältesten der Schweiz—und auch einer der meistbefahrenen. "Früher hat es sie gegeben, diese Fernfahrer-Romantik", sagt Ürsu, aber jetzt sei alles hektisch geworden. "Verstopfte Strassen, enge Zeitpläne, Überwachung rund um die Uhr und zum Monatsende ein Lumpenlohn." Mit den Jungen tauschen möchte der 61-jährige Berner schon lange nicht mehr.

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Tatsächlich fehlt es an Nachwuchs, und das bereits seit Jahren. Der Job ist anspruchsvoll, das Risiko hoch, das Pensum beachtlich. Auf dem Papier beträgt die Arbeitszeit im Schnitt 48 Stunden die Woche bei maximal 13 Stunden pro Tag, was allerdings dreimal wöchentlich auf 15 Stunden erhöht werden darf. Dass die Fahrer 60 und mehr Stunden pro Woche arbeiten, ist trotz vergleichsweise repressiver Gesetze in der Schweiz ein ziemlich offenes Geheimnis. Und das bei einem Anfangslohn von 4.300 Franken plus Spesen. In Deutschland sind es um die 2.000 Euro, Tendenz eher nicht steigend.

Ein Grund dafür sei, dass Fahrer aus Mittel- und Osteuropa ihre Dienste zu Dumping-Preisen anbieten. Oder genauer: Die Spediteure beispielsweise aus Holland, Deutschland oder der Schweiz, die solche Fahrer anstellen. Diese kommen aus Estland, Litauen, Polen, Ungarn, Rumänien, Weissrussland oder der Ukraine, sie sind oft Wochen, manchmal sogar Monate lang unterwegs und sitzen, essen und schlafen auf weniger als drei Quadratmetern. Was sie verdienen—zwischen 600 und 800 Euro—, das reicht daheim kaum für den Unterhalt einer Familie aus. Der Druck seitens europäischer Transportunternehmen, welche die "Fahrer aus dem Osten" anstellen, sei oft unmenschlich. Viele hätten Angst, den Job zu verlieren, und würden deshalb zu jedem Preis fahren. Da ist schon mal von den "Sklaven der Landstrasse" die Rede.

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Ich bin an der Raststätte Grauholz auf die Fernfahrer zugegangen und habe mit ihnen geredet—manchmal nur kurz, manchmal stundenlang, manchmal mit Händen und Füssen und dann und wann mit dem Google-Translator. Viele von ihnen sind voller Geschichten, nur wenige haben Hoffnung und fast alle reden sie von dieser Sehnsucht in der Fremde, endlich wieder daheim zu sein.

Fjodor, 53, aus Kasachstan

"Seit fast drei Monaten bin ich jetzt unterwegs. In zwei Wochen fahre ich mit einem Freund aus Weissrussland zurück. Er ist Fernfahrer wie ich, hat Familie, ein kleiner Junge und eine Tochter. Für mich ist das einfacher, denn mein Sohn ist erwachsen. Ich will nicht klagen. Man zahlt mir 750 Euro im Monat. Daheim würde ich vielleicht 100 kriegen. Wenn überhaupt."

Kristjan, 26, aus Estland

"Warten, warten. Stunden, manchmal Tage. Das ist das Schlimmste. Auf meinen ersten Touren hatte ich noch ein Buch dabei. Jetzt bin ich nur noch am Handy. Sobald ich fahren kann, geht es mir besser. Es macht mir nichts aus, dass ich nicht weiss, wo ich nächste Woche bin. Unterwegs sein, das tut mir gut. Das beruhigt mich. Wenn ich nur nicht warten muss.

Der Druck nimmt zu. Wir werden ständig überwacht. Von der Spedition, den Kunden, der Polizei. Wie lange ich das noch mache? Mal schauen. Vielleicht höre ich ja auf, wenn ich eine Freundin habe."

Alexandr, 36, aus Weissrussland

"Fjodor ist mein Kumpel. Wir fahren oft zusammen, reden über alles Mögliche, über das Leben bei uns Zuhause, über unsere Probleme und was danach kommt. Ich meine, wenn wir dann mit dem Fahren aufhören. Manchmal habe ich Angst heimzukehren, vor allem, wenn wir lange unterwegs waren. Man weiss ja nie, ob sich etwas verändert hat.

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Klar, wenn es geht, telefoniert man mit der Familie, man skypt, sieht sich im Computer. Aber trotzdem: Vielleicht ist ja alles anders, wenn ich heimkomme. Wer kann das schon wissen, wie kann man sich da sicher sein? Wir haben schon viel erlebt, glaub mir."

Anatoli, 35, aus Weissrussland

"Ich fuhr von Weissrussland nach Litauen, dann durch Polen und Deutschland in die Schweiz. Zuerst transportierte ich Holz, später Möbel, dann Blumen. Auf dem Rückweg Kaffeekapseln oder sonst irgendetwas. Manchmal bin ich Monate unterwegs. Ich weiss nicht, wie ich dir das sagen soll. Aber ich bin oft traurig. Ich denke an daheim, wir haben einen kleinen Hof, es ist schön dort. Aber es gibt keine Arbeit bei uns. Was will ich machen?

Allein der Führerschein hat mich ein Vermögen gekostet, ich kann jetzt nicht einfach aufhören. Ob ich mich an eine Firma verkauft habe? Ich weiss nicht, was du meinst. Ich muss Geld verdienen."

Mike, 56, Sizilianer, in Deutschland aufgewachsen

"Jetzt sage ich dir mal was und schreib das ruhig auf: Ich hatte früher selbst ein Dutzend Trucks, habe alles Mögliche transportiert, ich meine: wirklich alles. Ich war in Südafrika, in den Staaten, in Russland, auch an gefährlichen Orten wie Mexiko oder Kabul. Und ich habe so richtig fett Kohle gemacht. Dann hatte ich alles satt. Wollte einfach weg von diesem Leben. Jetzt fahre ich für 2.500 Euro im Monat, bin zum vierten Mal verheiratet—mit einer Russin. Die weiss noch, was Familie ist.

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Ja, unsere Arbeitsbedingungen sind scheisse, der Verkehr, der Druck, die Fahrer aus dem Osten. Alles Scheisse. Aber egal: Ich bin jetzt 56 und werde fahren bis zum Umfallen. Das ist mein Leben, der Laster ist meine Geliebte, das ist Freiheit. Kapierst du? Bene. Und nein, ich lass dich nicht in meinen Truck. Nicht einmal mein Bruder darf das. Das bringt Unglück. Und vergiss nicht zu schreiben, dass ich Sizilianer bin."

Andriy, Mitte 30, aus der Ukraine

"Ich fahre jetzt seit zwei Jahren, es ist die einzige Arbeit, die mir Geld bringt. Eigentlich ist alles gut, wenn da nicht diese Bilder wären. Meistens kommen sie vor dem Einschlafen, aber manchmal auch beim Fahren. Sie sind in meinem Kopf. Ich wurde verwundet und in ein Spital gebracht, da war alles ganz hell. Einer neben mir hatte sein Bein ab und so ein Loch im Bauch. Fürchterlich. Ich habe das nie vergessen können. Und jetzt hocken diese Bilder in meinem Kopf fest.

Ein Freund von mir hat das auch, aber in seinem Kopf ist es dann dunkel und schwer, sagt er. In meinem ist es hell. Wie damals im Spital. Meinst du, ich werde noch verrückt? Nein, keine Fotos, das möchte ich nicht. Und nenn mich Andriy und erzähl denen, dass ich Mitte 30 bin und aus Donezk komme. Oder nein, aus Odessa. Und schreib, dass ich ein gutes Leben möchte. Nicht viel mehr, aber doch ein Gutes. Geht das?"

Jakub, 34, aus Polen

"Ich fahre vier Wochen am Stück. Dann bin ich ein paar Tage in Warschau bei meiner Frau und den Kindern. Ich transportiere Topfblumen und Tulpen von Holland in die Schweiz, nach Italien, Spanien, egal wohin. Ja, mir fehlen meine Töchter, und wenn du es genau wissen willst: Das macht mich fertig. Morgen hat die Jüngere Geburtstag und ich sitze hier im Lastwagen, weit weg von daheim."

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Denis, 57, aus der Ukraine

"Wie das so ist, wochen- oder monatelang unterwegs zu sein? Mir macht es nichts aus, allein zu essen, allein zu schlafen, allein zu trinken. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich meine, es ist besser, sich nicht vorzustellen, wie es anders sein könnte, oder? Manchmal ist es schon schwer.

Meine alte Mutter ist krank, sie ist in einem Heim. Wenn ich daran denke, möchte ich nach Hause, sie besuchen, mit ihr über früher reden. Sie hat viel gelacht, sie war ein fröhlicher Mensch. Das Schlimmste wäre: Sie stirbt plötzlich und ich bin nicht da. Aber manchmal bin ich auch froh, weit weg zu sein. So ist das. Mehr kann ich dir nicht sagen."

Lazio, Mitte 40, aus Rumänien

"Ich fahre nur noch für Deutsche oder Holländer. Bei uns in Rumänien kommt erst der Lastwagen, dann der Mann. Hier ist es umgekehrt. Verstehst du, was ich meine? Deshalb sage ich: 'Für mich ist es gut so. Sehr gut sogar.' Ich weiss gar nicht, wieso die anderen immer jammern. Ich kann zum ersten Mal an eine Rente denken. Ich brauche keine Angst zu haben, wenn ich zum Arzt muss, dass der mich wegschickt, nur weil ich kein Geld habe. Das ist ein gutes Gefühl.

Wie lange ich noch hier stehen muss? Vielleicht zehn Minuten, vielleicht ein paar Tage. Kommt darauf an, ob mein Chef etwas für mich hat und wo er mich hinschickt. Ja, ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Und du?"

Jan, 65, aus Holland

"Eigentlich wäre für mich diesen März Schluss gewesen, jetzt fahre ich noch bis Oktober, dann bin ich 25 Jahre beim selben Unternehmen. Das gibt ein Fest. Hinter dem Steuer bin ich seit über 40 Jahren. Was sich verändert hat? Ach, mehr Verkehr, weniger Zeit, zu viel Stress. Und dann die aus dem Osten. Die machen in Rumänien, Polen oder Russland für viel Geld den Führerschein, kommen zu uns und sagen: 'Nimm mich, ich fahre zu jedem Preis, egal wie lang, egal wohin.'

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Versteh mich richtig, das ist nicht ihre Schuld. Nein, schuld sind unsere Spediteure, die sie für die Hälfte oder einen Drittel des Lohns anstellen. Das ist nicht gut. Nein, das ist wirklich nicht gut."

Ronaldo, 54, aus Portugal

"Sagen wir zwei Bier, ein Mal Schnitzel mit Pommes, dazu einen Salat, dann einen Kaffee plus einmal richtig Duschen. Das macht auf einer Raststätte wie dieser bald mal 40 Schweizer Franken. Gut, in Deutschland kostet das vielleicht die Hälfte. Aber egal, ich könnte mir das nicht einmal für 10 Euro leisten, nie und nimmer. Das Essen bringe ich selber mit, immer genug Fleisch, ein paar Eier, Gemüse im Glas. Mein Bruder, weisst du, ist Bauer. Für alles andere, na ja, es gibt immer eine Lösung."

Toni, 46, aus Mazedonien

"Ich habe meine eigene Firma, wir sind vier Fahrer. Doch, ich komme voran, aber der Job ist knallhart. Sparen kann eine Spedition ja nur an zwei Orten: beim Diesel und beim Fahrer. Und jetzt überleg mal. Es ist ganz einfach: Wer am günstigsten fährt, kriegt den Zuschlag. Daran wird sich auch in den nächsten Jahren nichts ändern.

Ob ich mir Sorgen mache? Und wenn ich dir jetzt sage: Ja—was würde das ändern? Schau: Meine Fahrer sind zuverlässig, ich bin mein eigener Chef, ich habe eine Familie, die Kinder sind gesund. Ich habe Fotos von ihnen, willst du sie sehen?"

Ürsu, 61, aus Bern

"Exakt am 3. September vor 40 Jahren habe ich mit dem Fahren angefangen. Sicher, das Geschäft ist härter geworden, aber das ist doch überall so. Was mir zu denken gibt: Früher warst du noch wer als Fahrer, man hatte Respekt vor dir, auch auf der Strasse. Du konntest stolz sein, einen Truck zu fahren. Und es gab Freundschaften, wir halfen uns gegenseitig aus.

Heute schaut doch jeder für sich. Kein Wunder, viele fahren für einen Hungerlohn, vor allem die aus Osteuropa. Dahinter stecken Spediteure, die aus den Fahrern alles rausquetschen. Hauptsache, es kostet nichts. Seien wir ehrlich: Sklavenhalter sind das. Ja, sowas geht einem schon viel durch den Kopf auf diesen langen Fahrten."

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