Wir haben junge Deutschtürken gefragt, wie sie zu Erdoğan stehen

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Wir haben junge Deutschtürken gefragt, wie sie zu Erdoğan stehen

"Ich mag Erdoğan, er ist der Beste und ein Ehrenmann. Ich selbst war bisher nur einmal in der Türkei – für einen Monat. Ich fände es sogar besser, wenn er hier Präsident wäre."

Ich bin Deutschtürkin und liebe Deutschland und die Türkei, aber Erdoğan finde ich scheiße. Meine Mutter hat mir immer gesagt: "Ich will, dass du auf eigenen Beinen stehst und dir von keinem etwas sagen lässt." Und so durfte ich Jungs mit nach Hause bringen, in Bars gehen, Schnaps trinken und auch Schweinefleisch essen. Kurzum: Ich konnte selbst entscheiden, wie ich mein Leben leben möchte – auch, weil meine Familie nicht besonders religiös ist.

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Deshalb rollen sich mir schon beim Gedanken daran, dass meine alte Heimat sich auf dem Weg zu einer Autokratie befindet, die Zehennägel hoch. Es ist nicht OK, Webseiten zu verbieten, weil man mit Gegenstimmen nicht klarkommt. Es ist nicht OK, Journalisten zu verhaften, weil einem ihre Meinung nicht passt. Es ist nicht OK, Tausende Lehrer, Richter oder Professoren zu entlassen, weil sie ihren Job machen. Deshalb habe ich mein Kreuz bei der Abstimmung für die Verfassungsreform in der Türkei bei Nein gesetzt.

Seit Montag dürfen in Deutschland rund 1,4 Millionen Menschen mit türkischem Pass darüber entscheiden, ob der türkische Präsident noch mehr Macht bekommen soll. Heißt konkret: Das Parlament hat dann kaum noch etwas zu sagen, der Präsident besetzt alle Führungspositionen im Staat selbst und darf länger im Amt bleiben – fünf statt bisher vier Jahre.

Was werden meine Landsleute ankreuzen? Wir haben uns auf den Straßen Neuköllns umgehört, fast jeder Zehnte dort ist türkisch. Die Erste, die wir treffen, ist Gamze.

Gamze, 21, derzeit in Mutterschutz, hat davor ihr Fach-Abi gemacht

"Ich würde mit Ja stimmen, weil meine Familie, insbesondere mein Vater, sehr für Erdoğan ist. Und was meine Familie mir sagt, glaube ich. Deswegen vertraue ich Erdoğan, was die Zukunft unseres Landes betrifft. Die Mehrheit der Türken hat ihn gewählt. Das machen die Leute ja nicht einfach so, sondern weil sie ihm zuhören und sehen, was er für das Land macht. Ich würde zu ihm immer Ja sagen, selbst wenn ich in der Türkei leben würde oder Erdoğan hierzulande Präsident wäre. Bisher sind meiner Meinung nach keine negativen Dinge unter seiner Führung passiert. Die Deutschen haben Angst vor der Türkei, deshalb berichten sie Negatives über ihn. Sie fürchten, dass Erdoğan sehr mächtig und die Türkei unabhängig von Ländern wie Deutschland wird."

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Cemal, 22, Security-Mitarbeiter

"Ich mag Erdoğan, weil er für mich der Beste und ein Ehrenmann ist. Seine Art und Weise gefällt mir. Ich stimme mit allem, was er sagt, überein. Das, was er sagt, machen die Leute. Das finde ich gut. Nur die Nichtsgönner und Neider haben meiner Meinung nach was gegen ihn. Na ja, und meine Eltern sind gegen Erdoğan. Sie finden, dass er alles falsch macht. Dann sagen sie immer, dass sie schon sehr oft in der Türkei waren und erlebt haben, was dort schief läuft. Ich selbst war bisher nur einmal in der Türkei – für einen Monat. Für mich schien dort alles in Ordnung. Ich fände es sogar besser, wenn Erdoğan hier Präsident wäre. Er würde mehr Arbeitsplätze schaffen, mehr Lohn auszahlen. Erdoğan ist ein Lieber. Wenn ich ihn treffen könnte, würde ich ihn gerne umarmen und ein Selfie mit ihm machen. Jetzt ist mein Eis geschmolzen. Erdoğan würde so etwas niemals zulassen."

Veysel, 18, Schüler

Vor einem Späti treffen wir auf Tuncay und Veysel. Tuncay hilft im Geschäft seiner Eltern aus. Veysel macht gerade Abitur und hat Politik als Leistungskurs. Er will unerkannt bleiben, weil sein Politiklehrer Erdoğan hasse. Daraufhin sagt sein Kumpel Tuncay, dass er auch lieber anonym bleiben möchte.

"Ich würde Ja ankreuzen. Die ganze Macht liegt dann in Erdoğans Händen. Dadurch kann er Gesetze schneller durchsetzen. Wenn das Parlament sich überall einmischt, dauert es viel länger, bis Erdoğan seine Pläne umsetzen kann. Ich persönlich bin gegen die Todesstrafe. Erdoğan ist ein Befürworter – eigentlich ein Widerspruch. Aber meine innere Stimme sagt mir einfach, dass ich Erdoğan vertrauen kann. Dass er Leute ins Gefängnis gesteckt hat, kann ich zum Beispiel nur befürworten. Aus Sicherheitsgründen müssen Leute, die unter Verdacht stehen, festgenommen werden. Außerdem ist mir Meinungsfreiheit nicht wichtig. Warum ist es denn wichtig, dass jeder sagen kann, was er will? Wenn jemand was Falsches sagt, soll er dafür auch bestraft werden."

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Tuncay, 20, Schüler

"Ich werde wählen gehen und das ankreuzen, was mein Onkel mir sagt. Wahrscheinlich Ja, weil mein Onkel Erdoğan mag. Und was mein Onkel sagt, stimmt für mich auch. Er sagt, dass diejenigen, die mit Nein stimmen, dafür seien, dass die Türkei so bleibt, wie sie ist. Die Ja-Wähler seien dafür, dass die Türkei wirtschaftliche Fortschritte macht. Er sagt, dass Erdoğan will, dass die Türken schöne Autos fahren wie die Leute hier in Deutschland. Außerdem soll in der Türkei der größte Flughafen der Welt gebaut werden. Das war eigentlich in Berlin geplant, die waren aber zu langsam. Da dachte Erdoğan: Dann mache ich das eben. Das macht mich als Türke mächtig stolz."


Echt jetzt? Ich hatte damit gerechnet, auf ein paar Fans zu treffen. Aber ich bin nur Erdoğan-Befürwortern begegnet (mehr als die hier Vorgestellten) und ihre Argumente waren schlichtweg schockierend: Autokratie ist doch toll. Und wenn mein Vater, mein Onkel oder wer auch immer sagt, das ist gut, dann ist es auch gut.

Ich habe sie gefragt: Warum findest du Erdoğan so gut? Was hat er deiner Meinung nach für die Türkei getan? Wie findest du es, dass er Twitter oder YouTube sperrt oder wahllos Menschen ins Gefängnis steckt? Antworten habe ich kaum bekommen. Meist sagten sie dann "Ähm …" oder "Hmm …". Oder sie schwiegen einfach.

Nach dem Tag in Neukölln kehren die Fotografin und ich verstört zurück in die Redaktion. Kann es sein, dass die von uns befragten Deutschtürken die Entwicklungen in der Türkei durch eine rosarote Brille sehen? Oder informieren sie sich einfach nicht über Politik? Eine Studie der Zeit von 2016 fand heraus, dass fünf Prozent der Menschen in Deutschland aktuelle politische und kulturelle Entwicklungen egal sind. Hatten wir einfach Pech und nur Leute erwischt, die zu diesen fünf Prozent gehören?

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Wir beschließen, am nächsten Tag zum türkischen Generalkonsulat in Berlin zu fahren und dort Leute zu befragen, die ihre Stimme zur Verfassungsänderung abgeben. Hoffentlich denken dort mehr von ihnen so wie ich.

Morgens halb zehn in Deutschland: Statt Knoppers eine Schlange von etwa 50 Personen, alle mit türkischen Pässen in der Hand. Einige von ihnen sind in Begleitung der Familie gekommen, viele wollen nicht mit uns sprechen. Ein Vater beschimpft uns als Lügenpresse und sagt zu seiner Tochter auf Türkisch: "Sprich nicht mit denen. Die deutschen Medien verbreiten nur Lügen über die Türkei und unseren Präsidenten." Sie dreht sich weg.

Daneben der 23-jährige Student Faruk, der was zu sagen hat: "Ich werde Nein wählen. Ich bin Mitglied der Saadet Partisi. Was unser oberster Befehlshaber sagt, wählen wir, und er sagt Nein." So absurd seine Begründung auch sein mag – endlich mal ein Nein-Wähler.

Am Ausgang des Wahllokals kommen wir ins Gespräch mit Tuna und Nilay, die zusammen mit zwei weiteren Freunden gerade ihre Stimmen abgegeben haben.

Nilay, 32, Ernährungsberaterin

Nilay ist rechts im Bild, Tuna steht in der grünen Jacke neben ihr

"Ich bin vor drei Monaten nach Deutschland gezogen. Erdoğans Regime war der Hauptgrund dafür. Ich habe mit Nein gestimmt, weil man einer einzelnen Person nicht so viel Macht geben darf. Momentan möchte ich auf keinen Fall zurück in die Türkei, ich fühle mich dort nicht mehr wohl. Schon in den letzten zehn Jahren habe ich das gemerkt. Dort musst du ständig aufpassen, was du sagst, wie du zu Religion oder Politik stehst und ob du für oder gegen Erdoğan bist."

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Tuna, 31, Computeringenieur

"Ich habe auch Nein angekreuzt. Mit Erdoğan an der Spitze kann die Türkei zu keiner Demokratie werden. Bevor ich nach Deutschland gezogen bin, habe ich gemerkt, wie sehr Erdoğans Politik die Menschen in der Türkei spaltet. Der Hass zwischen den Menschen ist viel größer geworden. Es geht die ganze Zeit nur darum, ob man für oder gegen Erdoğan ist. Ich kenne Leute, die haben Freundschaften beendet, weil sie unterschiedliche Meinungen über ihn hatten."

Dann fällt ihm ein Mann ins Wort, bellt auf Türkisch: "Erdoğan wird zukünftige Entscheidungen nicht alleine treffen, er wird vorher sein Volk abstimmen lassen! Jetzt sag mir mal, was an einem Ein-Mann-Staat falsch sein soll?" Später stellt sich der Mann neben uns und sagt jedem, mit dem wir reden: "Sprich ja nicht mit denen. Die wollen nur Lügen verbreiten und euch schlecht darstellen."

Elif, 31, Künstlerin

"Ich habe Nein angekreuzt. Das war eher eine intuitive Entscheidung, es fühlt sich nicht richtig an. Aber es gibt einige Dinge in der Türkei, die verbesserungswürdig sind – wie Rechte für Minderheiten, Frauen oder Homosexuelle. Sobald Regierungen außerdem Gott als Grund für ihr Handeln nennen, gehen bei mir die Alarmglocken los. Als ich jung war, bin ich jeden Sommer in die Türkei gereist und habe meine Großeltern besucht. Die hatten Nachbarn, die sehr religiös waren. Trotzdem haben sich alle gut verstanden. Heutzutage ist das anders. Ich merke das bei mir selbst: Ich versuche, Menschen danach einzustufen, ob sie für oder gegen Erdoğan sind. Das gefällt mir nicht."

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Cem, 24, Gastronom

"Ich werde mit Nein stimmen. Erdoğan ist gegen die Ideale von Atatürk. Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft und Schiss, in die Türkei zu gehen, wenn er das Präsidialsystem durchsetzt. Ich bin sicher, dass die Mehrheit mit Ja stimmen wird. Die Mehrheit der Türkei ist für Erdoğan und die machen alles für ihn, egal was er sagt. Der Typ ist ein guter Schauspieler, kann reden und Menschen überzeugen."


Es bleibt ein fades Gefühl zurück. Nach meiner Umfrage kann ich überhaupt nicht einschätzen, wie die Wahl ausgehen wird. Es beruhigt mich zwar ein wenig, dass die Türken in Neukölln vielleicht am Ende gar nicht wählen gehen. Andererseits hatte ich vor dem türkischen Konsulat vielleicht auch einfach nur Glück, auf die – meiner Meinung nach – "richtigen" Leute zu treffen.

Das Ergebnis der Abstimmung werden wir am 16. April sehen. Doch selbst wenn Erdoğan verlieren sollte, könnten die Konsequenzen desaströs werden. Wenn das Ego von Machtmenschen gekränkt wird, sind sie unberechenbar. Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.