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Darum wollte ich nicht wissen, ob ich an der Krankheit leide, die meinen Bruder tötete

Adam starb mit 21. Ich befürchtete jahrelang, als Nächster dran zu sein.
Foto: bereitgestellt vom Autoren

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Er war zu jung, um zu sterben. Adam hatte fünf Monate zuvor noch seinen 21. Geburtstag gefeiert, sein Herz glich bei seinem Tod aber dem eines alten Mannes. Zumindest sagten das die wenigen Ärzte, die überhaupt schon mal von Adams Krankheit gehört hatten. Diese Krankheit wird in Fachkreisen als "papillare Fibroelastose" bezeichnet. Meine Hände schwitzen schon, wenn ich diesen Begriff nur auf meinem Bildschirm sehe. Bei diesem seltenen Leiden wächst ein gutartiger Tumor in einer der Herzklappen – und man merkt das Ganze in der Regel erst dann, wenn es schon zu spät ist. 21-Jährige sollten von so etwas nicht betroffen sein.

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Zwar hatte sich Adam in den Wochen vor seinem Tod über Schmerzen in der Brust beschwert, aber kein Arzt der Welt hätte bei einem so jungen Mann direkt an papillare Fibroelastose gedacht. Nein, stattdessen gingen die Ärzte von Asthma aus und schickten meinen Bruder mit einem Inhalator wieder nach Hause. Drei Tage später war Adam tot. Das Krankenhaus bekam sogar erst dann etwas von seinem Tod mit, nachdem meine Mutter einen Fragebogen aus dem Briefkasten gezogen hatte, in dem sie die Behandlung bewerten sollte.


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Wäre ich doch nur zusammen mit Adam gestorben. Dieser Gedanke wollte in den sechs Monaten nach dem Tod meines Bruders nicht aus meinem Kopf verschwinden. Wenn ein Freund stirbt, ist das schon mehr als hart, aber der eigene Bruder? Das ist noch mal ein ganz anderes Level. Ich aß nur noch selten, konnte nicht mehr einschlafen und mir war alles egal. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, von meinen Angstzuständen und Depressionen erdrückt zu werden. Jeder Passant auf der Straße sah aus wie Adam. Jedes Schmerzgefühl war für mich wie ein Todesurteil.

Obwohl papillare Fibroelastose nur so selten vorkommt, zweifelte ich keine Sekunde daran, dass mich die Krankheit genauso hinraffen wird wie meinen kleinen Bruder. Ich glaubte nicht an Schicksal, hielt es aber dennoch für möglich, als Nächstes dran zu sein. Dabei hätte eine einfache Untersuchung alle meine Sorgen verschwinden lassen können: ein Echokardiogramm, also die Untersuchung des Herzens mittels Ultraschall. Adam hatte nie die Chance, sich so untersuchen zu lassen. Und ich brauchte Jahre, bis ich mich dazu überwinden konnte.

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Das Problem in meiner Familie lautet: Wir machen uns ständig Sorgen, egal ob um unsere Gesundheit oder um unser Umfeld.

Ich hatte schon immer mit Angstzuständen zu kämpfen – und zwar nicht mit der "Oh Gott, lachen die über mich?"-Angst, sondern mit der schlimmeren "Ich werde heute sterben"-Variante. Allerdings habe ich diese Störung im Laufe der Zeit weitgehend in den Griff bekommen. Leider erst nach viel zu vielen Panikattacken. Keine Ahnung, wie oft ich schon panisch nach irgendwelchen Symptomen gegoogelt oder meinen Körper nach Knoten abgetastet habe. Ab und an rief ich sogar bei allen meinen ehemaligen Sexpartnerinnen an, um sicherzugehen, dass mich keine von ihnen mit HIV angesteckt hat.

Das Problem in meiner Familie lautet: Wir machen uns ständig Sorgen, egal ob um unsere Gesundheit oder um unser Umfeld. Leider kam bei meinem Bruder auch noch Sturheit dazu. Ein Beispiel: In den letzten Monaten seines Lebens musste Adam eine Schlinge am Arm tragen, weil er eine Kugelhantel wütend durchs Zimmer geschleudert und sich dabei die Rotatorenmanschette in der Schulter gerissen hatte. Zwar war er aufgrund der Schmerzen sehr besorgt, aber er weigerte sich auch wochenlang, zum Arzt zu gehen. Er lief lieber mit einer lädierten Schulter durch die Gegend.

Monatelang suchte ich nach einem Grund, meine Angst zu überwinden und erneut zum Arzt zu gehen – aber ich konnte keinen finden.

Aber nicht jeder Schmerz lässt sich ignorieren. Etwa ein dumpfer Schmerz in der Brust. Das wusste auch Adam. Aufgrund der falschen Diagnose ging er in den letzten Tagen seines Lebens jedoch davon aus, dass sein Herz gesund sei. Und das nur, weil die Ärzte nicht daran dachten, einen bestimmten Test durchzuführen.

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Ich weiß nicht, wie oft ich "papillare Fibroelastose", "Echokardiogramm" und "Kardiologe in meiner Nähe" bei Google eingegeben habe. Ich weiß nicht, wie oft ich schon einen Termin beim Arzt ausgemacht habe, nur um ihn dann wenige Tage vorher wieder abzusagen. Ich weiß nicht, wie oft ein gezerrter Muskel in meiner Fantasie zu einem gutartigen Tumor in meinem Herzen wurde. Und ich weiß nicht, was mich letztendlich dazu gebracht hat, wirklich zum Arzt zu gehen. Ich habe allerdings zwei Anläufe gebraucht, um das Echokardiogramm durchführen zu lassen – das Echokardiogramm, das meinen Verstand gerettet hat.

Beim ersten Anlauf schaffte ich es fast. Ich hatte einen Termin ausgemacht, aber am Tag der Untersuchung machte ich mir durch mein selbstsabotierendes Verhalten alles kaputt. Zum Beispiel dachte ich ungewöhnlich lange über mein Outfit nach, ich wollte mich vor dem Kardiologen ja nicht lächerlich machen. Und beim Umsteigen ließ ich mich in der U-Bahn-Station in ein 30-minütiges Gespräch mit einer Tierrechtsaktivistin verwickeln, obwohl ich sowieso schon viel zu spät dran war. Letztendlich betrat ich die Arztpraxis eine Stunde später als vereinbart und der Kardiologe war natürlich schon längst zum nächsten Patienten übergegangen.

Monatelang suchte ich nach einem Grund, meine Angst zu überwinden und erneut zum Arzt zu gehen – aber ich konnte keinen finden. Irgendwann schiss ich einfach drauf und vereinbarte einen neuen Termin.

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Ich erkläre an dieser Stelle kurz, wie ein Echokardiogramm abläuft: Im Grunde ist das wie ein Ultraschall fürs Herz, du bekommst diesen typischen Glibber auf die Brust geschmiert und dann fährt der Kardiologe mit einem Gerät über dein Herz, das an eine Fernbedienung erinnert. Und schon sind die Größe, Form und Pumpkapazität des Organs in Echtzeit zu sehen. Die ganze Prozedur ist einerseits total faszinierend, andererseits aber auch richtig beängstigend, wenn man nicht weiß, was einen erwartet. Zum Glück hatte ich schon eine grobe Vorstellung, als ich mein T-Shirt im Behandlungszimmer auszog. "Hoffentlich klappt das, meine Brust ist unglaublich behaart", sagte ich scherzhaft zu der Frau, die die Maschine bediente. Sie verzog keine Miene.

Die Untersuchung dauert ziemlich lange. Man muss minutenlang still daliegen, sich dann von einer auf die andere Seite drehen, dann wieder aufrecht dasitzen und sich hinlegen. Das Schlimmste für mich war, während der gesamten Prozedur kein einziges Mal Erleichterung zu verspüren. Wenn dir ein Arzt ein Stethoskop an die Brust hält und du anschließend tief ein- und ausatmen sollst, dann kannst du normalerweise anhand seiner Reaktion ausmachen, ob alles in Ordnung ist oder nicht. Bei einem Echokardiogramm liegst du nur still da und versuchst, das unklare Bild des kleinen Fernsehapparats zu deuten, während es im Hintergrund piept und brummt. Da half es nicht, dass die Arzthilfe mein Echokardiogramm mit starrer Mine durchführte. Wortlos und konzentriert wirkte sie so, als würde sie eine Landkarte studieren – bloß, dass mich diese Landkarte wortwörtlich am Leben hielt.

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In diesem Moment war für mich alles klar: Sie holt jetzt den Arzt, der mir die Hiobsbotschaft verkündet.

Schließlich wischte sie den Glibber ab, wies mich an, mein T-Shirt wieder anzuziehen, und verließ das Zimmer. In diesem Moment war für mich alles klar: Sie holt jetzt den Arzt, der mir die Hiobsbotschaft verkündet. Ihr könnt euch sicher schon denken, dass ich damit falsch lag, ich lebe noch. Der Kardiologe setzte sich zu mir und teilte mir mit, dass ich kerngesund sei.

"Bei Ihrem Bruder", sagte er dann plötzlich in einem mitfühlenden Ton, "kann man nur schwer sagen, was passiert ist. Das kommt nur sehr selten vor." Ich nickte zustimmend, als ich mein Hemd zuknöpfte. "Sie können jederzeit für ein weiteres Echokardiogramm wiederkommen, aber Sie müssen sich wegen nichts Sorgen machen", meinte der Arzt abschließend. Ich schüttelte seine Hand und ging nach Hause.

Ich glaube, wir Menschen streben ständig nach Momenten der absoluten Klarheit. Ich habe solche Momente schon erlebt, aber meine Heimfahrt nach dem Arztbesuch war davon meilenweit entfernt. Zwar war ich ruhig, gleichzeitig aber auch traurig. Traurig, weil mein Bruder keine Gewissheit darüber hatte, wie es seinem Herz ging. Und traurig, weil ich selbst fünf Jahre lang gewartet habe, mir diese Gewissheit zu verschaffen.

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