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Waffenrecht

Die Schweiz ist nicht das Waffenparadies, zu dem es die 'Daily Show' macht

Acht Millionen Menschen, zwei Millionen Schusswaffen: Massenschießereien gibt es in der Schweiz zwar selten, das Land hat trotzdem ein Problem.
The Daily Show über Schweiz und Waffen keine Massenschiessereien in der Schweiz
Foto: Screenshot von YouTube aus dem Video "Switzerland: so many guns, no mass shootings" von The Daily Show

Wer an die Schweiz denkt, landet schnell bei Berglandschaften, Käse, Taschenmessern und teuren Uhren. Seit dem Wochenende gehören auch Waffen dazu. Am Wochenende stellte die US-Satiresendung The Daily Show ein fünfminütiges Video online, in dem es um die Frage geht, wieso es in der Schweiz zu keinen Massenschiessereien kommt. Und das obwohl von 100 Einwohnern rund 30 eine Waffe besitzen. Auf die Gesamtbevölkerung von 8.3 Millionen Einwohnern, sind das 2 Millionen Schusswaffen. Das sind mehr Waffen pro Kopf als im Kosovo, im Irak oder in Frankreich.

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Dennoch kam es in den vergangenen 15 Jahren zu keiner einzigen Massenschiesserei. Das letzte Mal kamen Menschen bei einem Anschlag mit Waffen im Jahr 2001 ums Leben. Damals, beim Zuger Attentat, wurden 14 Politiker von einem Selbstmordattentäter erschossen. Es stimmt also, was die Daily Show sagt: Attentate mit Waffen sind in der Schweiz tatsächlich kein grosses Thema.

Das Problem, dass die Schweiz mit Waffen hat, liegt tiefer. Und das wird in dem Video nicht erwähnt. Nach Finnland ist die Suizidrate durch Schusswaffen in dem Alpenland so hoch, wie in keinem anderen europäischen Land, wie eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgefunden hat.

Im Video der Daily Show sagt Mikko Leinonen der als Waffenexperte für die Schweiz auftritt: "Wir respektieren Waffen, weil wir den obligatorischen Militärdienst haben." In der Schweiz muss jeder psychisch und physisch gesunde Mann zum Militär. Während der Rekrutenschule wird jedem die Ordonnanzwaffe, das persönliche Sturmgewehr, ausgehändigt. Nachdem die Rekruten durch den Schlamm gerobbt und kilometerlang marschiert sind, dürfen sie dieses, wie ein Andenken aus dem Schullager, mit zu sich nach Hause nehmen. Deshalb stehen in der Schweiz so viele Waffen in den Kleiderschränken. Die meisten holen sie dann hervor, wenn sie zum obligatorischen Schiessen antraben müssen. Manche töten sich damit aber auch selbst.


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Von 2000 bis 2010 wurden rund ein Drittel aller Schusswaffensuizide in der Schweiz mit einer Waffe verübt, die über die Armee in Umlauf kam. Das hat eine Studie herausgefunden, die im Fachmagazin Swiss Medical Weekly erschienen ist. Darin heisst es: "Vor allem jüngere Männer zwischen 25 und 45 Jahren suizidierten sich mit einer Waffe, deren Herkunft mit der Armee in Verbindung zu bringen ist." Eine Studie der Universität Zürich bestätigt das. Die Verfügbarkeit von Waffen und die Suizidrate in der Schweiz zeige "eine hohe Korrelation" auf. Anders gesagt: Je mehr Schusswaffen in Schweizer Haushalten, desto mehr Suizide.

Schusswaffen tragen zur häuslichen Gewalt in der Schweiz bei

Die Schweizer setzen ihre Waffe also nicht öffentlich, sondern vielmehr im Privaten ein. Dazu gehören nicht nur Suizide, sondern auch häusliche Gewalt. Das ist ein weiterer Punkt, den das amerikanische Video auslässt: "Vorhandene Zahlen aus polizeilichen Statistiken und Ergebnisse von Studien zeigen, dass Schusswaffen in einem nicht zu unterschätzenden Anteil bei Gewalt im häuslichen Bereich verwendet werden", schreibt das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Mann und Frau in seinem Informationsblatt. In den letzten sechs Jahren konnten ein Drittel der Todesfälle durch häusliche Gewalt auf Schusswaffen zurückgeführt werden. Die Frauenzeitschrift annabelle erkannte bereits vor zehn Jahren einen Handlungsbedarf und beteiligte sich aktiv an der "Initiative für den Schutz vor Schusswaffengewalt".

Was die Daily Show richtig erkannt hat: Kommt es zu einem Vorfall, werden in der Schweiz dank der direkten Demokratie die gesetzlichen Bestimmungen meist rasch angepasst. So wurde zum Beispiel 2010 beschlossen, dass die Rekruten einen Waffenerwerbsschein vorweisen müssen, um die Ordonnanzwaffe mit nach Hause zu nehmen.

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Dennoch wird in der Schweiz, ebenso wie in den USA, unerbittlich über das Waffenrecht gestritten. Im Frühjahr 2019 stehen in der Schweiz die Anpassung der Waffenrichtlinien nach EU-Richtlinien an. Im Zuge dieser Diskussion schreckte die Schweizer Waffenlobby nicht davor zurück, Suizid als Argument für den Waffenbesitz aufzuführen und nicht etwa dagegen. SVP-Nationalrat und Präsident der Schweizer Waffenlobby Pro-Tell, Jean-Luc Addore, sagte damals im Gespräch mit VICE: "Die Rolle des Staates ist es, die öffentliche Sicherheit sicherzustellen und nicht den Einzelnen zu schützen. Ansonsten müsste man ja auch Fahrzeuge, Brücken und Züge verbieten. Das wäre schon ein bisschen zu viel, nicht?"

Wenn der Schweizer Waffenexperte im Video der Daily Show findet, es gehe letztenendes um gesunden Menschenverstand kann man abschliessend feststellen, dass der Begriff in den USA wie in der Schweiz dehnbar ist. Und die Behauptung, dass die Schweiz kein Problem mit Waffen habe, ist schlicht falsch.

Notrufnummern für Suizidgefährdete bieten Hilfe für Personen, die an Suizid denken – oder sich Sorgen um einen nahestehenden Menschen machen. Die Nummer der Telefonseelsorge in der Schweiz ist: 143. Hier gibt es auch einen Chat. Trauernde Angehörige von Menschen, die Suizid begangen haben, finden bei Organisationen wie Refugium Hilfe.

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