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Hört auf, Stalking zu romantisieren

Ein Mann, der eine Frau verfolgt, ist nicht süß, sondern übergriffig. Egal, wie "verliebt" er ist.
Ein Twitter-Screenshot
Screenshot: Twitter

Auf Twitter machte in den letzten Tagen ein Tweet die Runde, in dem eine Userin von ihrem Bekannten erzählte, der sich in eine Supermarkt-Mitarbeiterin "verliebt" hatte, die dann plötzlich weg war. Er fand heraus, dass sie die Filiale gewechselt hatte. Die Userin beschloss, ihm zu helfen, die Frau ausfindig zu machen. Der Tweet endete mit einem Herz. Von vielen wurde sie mit Entzücken aufgenommen. Ist das nicht romantisch?

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Nein, ist es nicht.

Die Supermarkt-Mitarbeiterin wusste vermutlich nichts von dem Mann. Oder sie wollte nichts von ihm wissen. Ansonsten hätte sie ihn wohl über ihren Filialwechsel informiert. Vielleicht hat sie ihren Arbeitsplatz sogar verlegt, weil er ihr bereits unangenehm aufgefallen war. Das ist alles schwer zu sagen. Aber von einem fremden Mann und seiner Komplizin in der ganzen Stadt gesucht werden, das wollte sie sicher nicht.


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Was sollte diese Suchaktion legitimieren? Dass er "verliebt" in die Unbekannte ist. Das darf es aber nicht. Wer das Bedürfnis hat, einer Frau nachzustellen, ist niemals verliebt, sondern übergriffig. Er scheint überzeugt davon zu sein, als Mann das Recht zu haben, dieser Frau ohne Rücksicht auf Verluste sein "Interesse" aufdrängen zu dürfen. Sie muss davon erfahren. Und zwar in einer Situation, in der sie reagieren muss. Im Supermarkt. An ihrem Arbeitsplatz.

Eine solche Obsessivität als "Verliebtheit" zu bezeichnen, ist eine Verharmlosung und Beschönigung männlichen Anspruchsdenkens. Er hat dieses Recht auf sie und ihre Aufmerksamkeit in keinster Weise. Sie hingegen hat sehr wohl das Recht auf Sicherheit; darauf, nicht beobachtet, überwacht oder verfolgt zu werden. Sein Anspruchsdenken wird romantisiert, ihre Autonomie jedoch nicht akzeptiert. Das ist Sexismus.

Geschichten wie diese gehen alle paar Wochen viral, werden erfreulicherweise aber nicht nur gefeiert, sondern auch zerlegt. Denn solche Übergriffe passieren täglich. Eine EU-weite Erhebung aus dem Jahr 2014 hat ergeben, dass etwa jede fünfte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von Stalking betroffen ist. Von dem Straftatbestand, versteht sich. Übergriffe beginnen jedoch schon viel früher und sind auch ohne juristische Strafbarkeit gewaltvoll und (re)traumatisierend.

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Trotzdem wird Stalking durch Medien und Gesellschaft normalisiert, romantisiert und sogar glorifiziert. Das hat mit dem patriarchalen Eroberungsmärchen zu tun: Die passive Frau muss vom aktiven Mann überzeugt werden. Das Ziel ist immer ein Ja, für den Weg gibt es kaum Regeln, denn "Liebe" kennt ja keine Regeln. Zumindest keine, die mit weiblicher Selbstbestimmung zu tun haben. "Liebe" ist im Eroberungsmärchen das, was der Mann als solche definiert. Was die Frau will, wird gar nicht erst gefragt. Männliche Aufmerksamkeit, so obsessiv sie auch sein mag, ist schließlich immer ein Kompliment! Stalking? Ach, was.

So laufen doch auch beliebte Hollywood-Romcoms wie Love, Actually, Hitch und Verrückt nach Mary ab. Auch die sind bei genauerer Betrachtung problematisch. Darüber wurde in den letzten Jahren vor allem in US-Medien viel berichtet. Julia R. Lippman, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der University of Michigan, hat schon 2015 eine Studie dazu veröffentlicht. Sie untersuchte, wie die als romantisch dargestellte Verfolgung von weiblichen Charakteren durch männliche Charaktere in Romcoms das Bild der Zuschauer und Zuschauerinnen von Stalking beeinflusst. Das Ergebnis überrascht nicht: Stalking-ähnliches Verhalten wird dadurch normalisiert. Das kann sich auch negativ auf die rechtliche Position von weiblichen Opfern von Stalking auswirken, weil Frauen lernen, Stalking-ähnliches Verhalten als eine Form der männlichen Zuneigung hinzunehmen und nicht als Grenzüberschreitung zu verstehen.

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Die Männer in Romcoms werden am Ende oft mit der Zuneigung der verfolgten Frau belohnt. Das bestärkt unrealistische Erwartungshaltungen von übergriffigen Männern. Ihnen wird ständig vorgegaukelt, dass es süß sei und zum Erfolg führe, einer Frau nachzustellen. Oft werden sie durch das Umfeld der Frau bestärkt, wenn es heißt, sie solle ihm eine Chance geben, er habe sich doch so bemüht. Stalking und der gesellschaftliche Umgang damit ist ein Problem.

Reagiert eine Frau auf die ungewollte Annäherung dann erschrocken, verängstigt und mit Zurückweisung, kann das für sie nachhaltige Konsequenzen haben. Sie reichen von Beleidigungen und Drohungen bis hin zu fortgesetztem Stalking, und können mit schwerer körperlicher und sexualisierter Gewalt oder sogar tödlich enden. Das zeigt ein aktueller Fall in Wien, bei dem ein Mann eine Frau erst stundenlang beobachtet, dann mit dem Fahrrad verfolgt hat, und schließlich mit einer Eisenstange fast totgeschlagen hat. Berichtet wurde anfangs von einem "gescheiterten Flirt" und von einer Tat aus "Frust". Der mutmaßliche Täter hatte laut eigener Aussage bereits mehreren Frauen nachgestellt. Die Verfolgung selbst wurde in der Berichterstattung allerdings weder eingeordnet noch problematisiert. Das passierte erst im Nachhinein, als zum Beispiel SPIEGEL-Kolumnistin Margarete Stokowski die Problematik aufgriff.

Wie wird die Supermarkt-Mitarbeiterin reagieren, sollten der Mann und seine Komplizin sie tatsächlich an ihrem neuen Arbeitsplatz aufsuchen? Wahrscheinlich wird sie Angst bekommen. Von einem fremden Mann angesprochen zu werden, der sagt, er habe sie in der ganzen Stadt gesucht, weil er so "verliebt" sei in sie, ist beängstigend. Sie muss sich ihre Reaktion gut überlegen. Vermutlich wird sie versuchen, freundlich zu bleiben. Sie wird sich fragen, ob sie es am Abend heil nach Hause schaffen wird. Und am nächsten Morgen wieder heil in die Filiale. Frauen diese Angst zu machen, ist nicht fair. Stalking ist nie romantisch, sondern immer eine Form von Gewalt.

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