Wie es sich anfühlt, Opfer rechten Terrors zu werden
Alle Fotos: Eva L. Hoppe

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Das andere Neukölln

Wie es sich anfühlt, Opfer rechten Terrors zu werden

In Neukölln gibt es seit zwei Jahren eine Anschlagsserie mit Hunderten Straftaten. Ferat Kocak und seine Familie hätten dabei sterben können.

Ferat Kocak weiß nicht, warum er wach wurde. Es ist drei Uhr nachts, als er ans Fenster geht. Draußen ist es etwas heller als sonst, das Licht flackert rötlich. Unter dem Fenster brennt sein weißer Smart im Carport. Kocak war mit seinem Wagen bis an die Garagenwand gefahren, damit seine Scheibe nicht zufriert. Es sollte kalt werden in dieser Nacht auf den ersten Februar 2018. Hinter dem Garagentor verläuft die Gasleitung.

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Ferat rennt zu den Schlafzimmern, er weckt seine Eltern. Er schreit. Sie eilen aus dem Haus, so gut es geht. Beide sind Rentner, sie wohnen zusammen in einem Einfamilienhaus in Neukölln Süd. Dann versucht Kocak, mit einem Feuerlöscher das Haus zu retten. Er kann das Auto nicht mehr löschen, das sieht er sofort. Er besprüht die Hauswand mit dem Löschschaum, will verhindern, dass die Isolierung des Hauses Feuer fängt. Er ist sich sofort sicher, dass es Rechtsextreme waren. Er kennt die Muster der Anschläge, es hat viele von ihnen geben in den vergangenen Jahren, oft genug hat er gegen sie demonstriert. Kocak hatte damit gerechnet, dass er irgendwann an der Reihe sein könnte.

Zehn Minuten dauert es, bist die Feuerwehr da ist, dann kommt auch die Polizei. Kocak sagt, dass er denkt, dass der Anschlag ihm galt. Und dass Rechtsextreme dahinterstecken könnten. Noch in der Nacht kommt das Landeskriminalamt und sichert Spuren, am nächsten Morgen kommt der Staatsschutz. Ferat Kocak ist ein Linker, für die Partei Die Linke trat er 2016 als Direktkandidat im Wahlkreis Gropiusstadt/Buckow Nord für die Abgeordnetenhauswahl an. Er verliert, aber einer rechten Gruppierung fällt er trotzdem auf. Und damit auch seine Heimatadresse, die bei jedem Kandidaten öffentlich einzusehen ist.

Seit 2016 haben Rechte in Neukölln 13 Autos abgebrannt, die Polizei zählt für 2017 125 rechte Delikte im Bezirk: Gewalttaten, Sachbeschädigungen und sogenannte Propagandadelikte. Stolpersteine werden zum Jahrestag der Reichspogromnacht 1938 aus dem Boden gerissen. Die Mobile Beratungsstelle Rechtsextremismus (MBR) spricht von einer Anschlagsserie, die im Mai 2016 begonnen hat. Es sind Brandanschläge, Steinwürfe, Bedrohungen, Vandalismus.

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Das Besondere an dieser Serie ist, dass die Täter in großem Umfang an persönliche Daten ihrer "politischen Gegner" gekommen sein müssen, vermutet die MBR. Bei Ferat Kocak ist klar, woher die Täter seine Adresse kannten, in den meisten Fällen ist unbekannt, wie sie an die Daten ihrer Opfer kamen. Die Täter greifen gezielt Adressen an, an denen Feinde wohnen. Bei früheren Serien wurden meist Kneipen oder Clubhäuser angegriffen, öffentliche und bekannte Orte, dieses Mal sind es vor allem Privatadressen. Der MBR sind bisher 21 Fälle bekannt, in denen die Rechten ungebetene Hausbesuche machten. Linken Politikern und Aktivisten schmieren sie Beschimpfungen an die Hauswände und Hausflure, markieren ihre Türklingeln und schmeißen ihre Scheiben ein. Und immer wieder brennen Autos. Die Menschen, die angegriffen werden, sind keine Linksradikalen. Es sind Kommunalpolitiker der SPD und der Linken, es sind Buchhändler, Bewohner der Hufeisensiedlung, die sich gegen rechts engagieren, oder potentiell jeder, der sich schon einmal öffentlich gegen rechte Gewalt ausgesprochen hat.


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Für die MBR ist klar, dass die Anschläge aus dem militanten Neonazi-Netzwerk "Nationaler Widerstand Berlin" (NW-Berlin) kommen. Die Anschläge wurden auf Facebook von dem Kanal des NW-Berlin begleitet. Die Seite ist mittlerweile offline genommen worden, nachdem sie eine Karte veröffentlicht hatte, auf denen jüdische Einrichtungen in Berlin markiert worden waren. Auch davor hatte der "NW-Berlin" Listen veröffentlicht: von Heimen für Geflüchtete und den Parteibüros der Parteien im Viertel – ausgenommen der NPD.

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Die Angriffe der Rechten ähneln sich. Die MBR berichtet, dass sich an sechs Wohnadressen große Graffitis fanden, gesprüht mit roter Farbe und in Versalien. Sie nannten Vor- und Nachnamen und beleidigten ihre Opfer alle auf die gleiche Weise als "Rote Sau". Manchmal drangen die Rechten sogar in die Hausflure ein und hinterließen auch dort Schriftzüge. In den Nächten, in denen sie unterwegs waren, suchten sie nicht nur einen, sondern immer gleich mehrere Adressen auf. So war es auch in der Nacht, als Ferat Kocaks Auto brannte. Nicht nur sein Smart stand in Flammen, sondern auch das Auto von Heinz Ostermann, einem Buchhändler, der sich gegen rechts eingesetzt hat.

Seit einem Jahr sucht nun die Einsatzgruppe Rechtsextremistische Straftaten in Neukölln mit sechs Beamten des Landeskriminalamtes nach den Tätern. Die Polizei Berlin gründete ihre übergreifende "Operativgruppe Rechtsextremismus" schon 2007, noch vor den Anschlägen. Auch sie ist in Neukölln tätig, betreibt dort Netzwerkpflege und sogenannte offene Aufklärung. Aber auch zwei Jahre nach dem Beginn der Anschläge gibt es keine Verhaftung. Noch nimmt die Politik die Polizei in Schutz. Der Berliner Innensenator Andreas Geisel von der SPD sagte gegenüber dem RBB: "Ich kann politisch Ermittlungserfolge nicht erzwingen." Auch Ferat Kocak hatte Probleme mit der Polizei. Die Beamten seien freundlich und einfühlsam gewesen, aber einen festen Ansprechpartner hätten sie ihm nicht gegeben. Als er fragte, an wen er sich bei der Polizei wenden könne, gab die Polizei ihm den Rat, einfach die Notrufnummer anzurufen, wenn was sein sollte.

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Aber Kocak will wissen, was die Polizei bis jetzt gemacht hat. Er hat sich mit den anderen Opfern vernetzt und sich einen Anwalt genommen, um sich über die Arbeit der Polizei zu informieren. Es ist ein laufendes Verfahren, deswegen sei ihm schon klar, dass hier nicht alle Informationen zu bekommen seien, aber: "Wir müssen der Behörde das Gefühl geben, dass sie was machen müssen." Wenn Kocak darüber spricht, wie es ihm geht, dann sagt er, er habe Angst, sei wütend und ratlos. "Aber das Schlimmste ist die Hilflosigkeit." Die, die ihn schützen sollen, kommen nicht vorwärts. Berlins Innensenator gibt sich in der Zeit geschlagen: "Wir haben es hier tatsächlich mit einem besonders komplizierten Fall zu tun." Vermutlich ist es eine kleine Gruppe von Tätern, sie kommen nachts und bewegen sich schnell, sie kennen den Ort und wenn sie Autos anzünden – so hat es die Polizei gegenüber Kocak gemutmaßt –, legen sie Grillanzünder auf die Reifen und verschwinden.

Für die lokale Antifa war schnell klar, wer dahinter steht. Sebastian T., ein ehemaliger NPD-Funktionär, Anfang 30. Die Antifa hat ihn seinerseits schon zu Hause besucht und sein Haus "markiert", er wohnt in unmittelbarer Nähe der Gropiusstadt, in der Ferat Kocak Wahlkampf machte. Kurz nach den Anschlägen auf die Autos von Kocak und Ostermann durchsuchte die Polizei vier Wohnungen, eine davon gehörte wohl auch Sebastian T. Die Polizei hat zunächst niemanden festgenommen, aber Laptops, Speicherkarten, eine Kamera, Handys und "schriftliche Unterlagen" beschlagnahmt, die sie zur Zeit auswertet. Auch die Behörden nennen mittlerweile mit "ungewöhnlicher Offenheit" T.s Namen, obwohl seine Schuld noch nicht feststeht.

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Die Bezirksverordnetenversammlung in Neukölln fordert jetzt von der Polizei, dafür zu sorgen, dass die Serie als "Terror" eingestuft wird. "Es liegt nahe, dass der mangelnde Erfolg von Polizei und Justiz, Täter festzustellen und vor Gericht zu bringen, von den Brandstiftern offenbar als Ermutigung zur Fortsetzung ihrer Taten verstanden wird", heißt es in der "Entschließung gegen den Terror" der Bezirksverordnetenversammlung. Wenn die Serie als Terror eingestuft wird, würde die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen übernehmen.

Ferat Kocak wollte in diesem Jahr eigentlich politisch kürzertreten. Er arbeitet jetzt an einer Hochschule, mag seinen Job. "Mit dem Anschlag haben die Täter sich ein Eigentor geschossen", sagt Kocak im Gespräch mit VICE. Seitdem er zum Opfer geworden ist und damit ein Symbol, hat er politisch Gewicht gewonnen. Er trifft die Führung der Partei. Seine Botschaft gegen die Gewalt von rechts ist "Solidarität ist unsere Alternative", er tritt auf Kundgebungen auf, vernetzt die Menschen. Am 4. Februar, wenige Tage nach dem Anschlag, spricht er vor einigen hundert Menschen in Neukölln. Auf seiner Facebook-Seite hat er ein Video davon hochgeladen. Da steht er auf den Stufen vom Rathaus, eine Frau hält ihm das Mikrofon an den Mund und als er zu reden beginnt, erwartet man eine laute, wütende Rede. Doch er beginnt leise, zurückhaltend. Er stellt sich vor, seine Eltern. Seine Mutter nennt er eine Frauenrechtlerin, seinen Vater einen Gewerkschafter und "kurdisch-alevitischen Dichter". Dann sagt er: "Ich bin ein Opfer rechter Gewalt."

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Er will nicht so sehr über sich sprechen, er will über das Problem reden. Er liest die Rede von einem roten Klemmbrett ab, ballt die Faust zwei Mal, warnt: "Nicht mehr lange, dann werden auch Menschen brennen." Trillerpfeifen und Klatschen aus der Menge, Grüne, Linke, Gewerkschaften, SPD. Er wendet sich an die Täter: "Ganz klar: Die Angst meiner Mutter ist ein riesen Gewinn für dich. Ich werde das nicht kleinreden können: An dem Tag hat sich nichts schlimmer angefühlt, als meine zitternde, weinende Mutter in den Armen zu halten. Du hoffst, dass du einen Aktivisten gegen rechts einschüchtern kannst? Dabei hast du tausend Aktivisten überhaupt erst aufgeweckt." Am Ende bittet er um eine Gedenkminute für alle Opfer rechter Gewalt: "Mögen ihre Herzen weiter in uns schlagen."

Wegziehen will er nicht. "Meine Großeltern sind hierher migriert, weil sie in der Türkei verfolgt wurden. Ich werde jetzt nicht von hier weggehen, weil ich Gewalt ausgesetzt bin. Ganz im Gegenteil. Je mehr ich diesen Angriffen ausgesetzt bin, desto mehr verwurzel ich mich hier." Verwurzelt ist er im Süden Neuköllns. Dort, wo die Menschen mit weniger Geld wohnen, erzählt Kocak. Dort, wo die wohnen, die schlechtere Jobs haben: "Deswegen spürt man die soziale Spannung, weil sie die Schuld bei den Geflüchteten und den Migranten sehen." Er will im Süden Frieden schaffen, er will zeigen, dass die Menschen mehr gemeinsam haben, als sie trennt. Er baut auf Gemeinschaft und Solidarität, er will die Menschen dazu bringen, miteinander zu reden.

Kocak ist nicht immer so beherrscht. Er lässt seine Posts auf Facebook von Freunden checken, damit ihm nichts herausrutscht. Er habe in manchen Momenten "extreme Wut", mit der er klarkommen müsse. In die Heckscheibe seines Leihwagens hat er ein Pappschild geschoben: "Familie Kocak is watching you, du Hurensohn!" Nur falls nochmal jemand wiederkommt.

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