Drogen

So gefährlich leben Journalisten im mexikanischen Drogenkrieg

"Einmal hielten mich Kartell-Mitglieder für einen US-Agenten und bedrohten mich mit einer Handgranate" – der Journalist Ioan Grillo über seine riskante Arbeit im Schussfeld der Drogengangs.
Journalist Ioan Grillo
Foto: Renato Miller

Anfang Oktober interviewte ein amerikanischer Journalist in der mexikanischen Großstadt Chihuahua einen mutmaßlichen Drogendealer. Dann wurden die beiden von vier bewaffneten Männern überfallen, die den Dealer erschossen und den Journalisten schwer verletzten. Im Sommer wurden in Mexiko innerhalb einer Woche drei Journalisten getötet. Seit 2000 kamen 153 Journalisten in dem lateinamerikanischen Land gewaltsam ums Leben.

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Dass die mexikanischen Drogenkartelle auch weiterhin viele Morde in Auftrag geben und medienwirksam inszenieren, haben die neun Leichen gezeigt, die im August an einer Brücke in der Stadt Uruapan aufgehängt wurden. 2018 war insgesamt das blutigste Jahr im mexikanischen Kartellkrieg: Trotz der Hoffnungen, die man in den neu gewählten sozialistischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador setzte, stieg die Zahl der Toten auf über 30.000.

Durch den Drogenkrieg sind mittlerweile rund 250.000 Mexikaner und Mexikanerinnen ums Leben gekommen – die meisten davon stammten aus normalen Arbeiterfamilien und waren einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Was den Krieg immer weiter antreibt: die Milliardengewinne der Kartelle durch den Verkauf von Drogen und die Waffen, die von den USA aus über die Grenze gelangen.

Um die Komplexität und die Gefahren des mexikanischen Kartellkriegs besser zu verstehen, haben wir uns mit dem Journalisten Ioan Grillo getroffen. Grillo berichtet seit vielen Jahren über die blutigen Auseinandersetzungen und Entwicklungen in Mexiko. In unserem Gespräch geht es um die Big Player der Kartelle, das eigene Berufsrisiko und mögliche Lösungen für das Gewaltproblem.


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VICE: Kannst du uns die wichtigsten Figuren und Organisationen im mexikanischen Drogenkrieg nennen?
Ioan Grillo: Derzeit gibt es viele Parteien, zum Beispiel Sinaloa, das älteste und berüchtigste Kartell mit Chapo Guzman und seinen Söhnen an der Spitze. Dann gibt es das Jalisco New Generation Cartel in Guadalajara und Los Zetas, das erste paramilitärische Kartell – inzwischen jedoch in mehrere Splittergruppen aufgeteilt. Das Gulf Cartel, das Juarez Cartel und das Tijuana Cartel spielen ebenfalls wichtige Rollen. Nicht zu vergessen sind aber auch die Dutzenden kleineren Kartelle, etwa die Guerreros Unidos oder Los Rojos.

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Wo sind diese Kartelle aktiv?
Auf der ganzen Welt. Die großen Kartelle haben überall ihre Leute. Sie sind natürlich stark in den USA, in der Karibik und in Südamerika vertreten, aber auch in Großbritannien, Europa, China und sogar Russland machen sie ihre Geschäfte.

Wie konnten die Kartelle die Kontrolle erlangen, die sie heute haben?
Da gab es keinen "Urknall". Was aber eine große Rolle bei dieser Entwicklung gespielt hat: Im Jahr 2000 verlor die Partido Revolucionario Institucional ihre absolute Vormachtstellung in der mexikanischen Politik. Das wirkte sich negativ auf die Kommunikation zwischen den kommunalen Polizeikräften aus. Wo früher noch ein relativ stabiles Korruptionssystem von oben nach unten herrschte, wurde plötzlich alles und jeder bestochen. Und das brachte Chaos mit sich.

Ein weiterer Faktor war die neue Route, über die das Kokain aus Kolumbien in die USA kam. Nachdem der Weg über die Karibik nach Miami blockiert wurde, gingen die Lieferungen über Zentralamerika nach Mexiko. Dort kauften die Kartelle das Kokain direkt an der Grenze und verkauften es weiter Richtung Norden. Die Geschäfte und Gewinne wurden größer. Und mit mehr Geld kam auch mehr Gewalt.

"Wenn keine stabile Regierung, kein Geld und keine Familie vorhanden sind, rutschen junge Menschen schnell auf die schiefe Bahn ab."

Gibt es neben den Drogen noch andere Einnahmequellen der Kartelle?
Bei den Rauschmitteln gibt es fünf Hauptprodukte. Marihuana bringt viel Geld, weil die Herstellung günstig und die Gewinnspanne groß ist. Die Legalisierung in den USA hat dem Ganzen jedoch ziemlich zugesetzt. Dann gibt es Kokain, was schon immer am meisten Geld abgeworfen hat. Die Kartelle können das Kilo Koks an der Grenze für nur 2.000 Dollar kaufen und dann zu einem viel höheren Preis weiterverkaufen. Und natürlich kommen da noch Heroin, Methamphetamin und seit Neuestem auch das gefährliche Opioid Fentanyl dazu.

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Abgesehen davon verdienen die Kartelle mit allen möglichen anderen Dingen Geld. Sogenannte Huachicoleros klauen zum Beispiel Rohöl. Dann übernehmen viele Kartelle verschiedene Plantagen und Minen und machen mit Avocados, Limetten, Eisen und Holz Gewinn. Dazu kommen noch abscheuliche Praktiken wie Menschenschmuggel und -handel.

Weiß man, wie viel die Kartelle so verdienen?
Das ist unmöglich zu sagen. Der Rand Drug Policy Research Center schätzt aber, dass in den USA jährlich 150 Milliarden Dollar für illegale Drogen ausgegeben werden. Davon geht ein Teil nach Mexiko und dort direkt in die Taschen der Kartelle und ihrer Führungsriegen.

Wie gewinnen die Kartelle neue Mitglieder?
Wenn keine stabile Regierung, kein Geld und keine Familie vorhanden sind, rutschen junge Menschen schnell auf die schiefe Bahn ab – vor allem, wenn dort leichtes Geld winkt. In der Regel fängt es mit den Straßengangs an, den Kids werden ein Handy und pro Woche 50 Dollar in die Hand gedrückt, sie sollen dann an der Ecke erstmal Wache stehen. Irgendwann bekommen sie größere Aufträge, zum Beispiel Drogenlieferungen oder Auftragsmorde.

"Manchmal ist es sogar eine Art Schutz, wenn man über das organisierte Verbrechen berichtet."

Erzählst du den Leuten, dass du Journalist bist, wenn du in gefährlichen Gegenden recherchierst?
Immer. Ich will nicht, dass irgendjemand denkt, ich würde für ein verfeindetes Kartell oder die amerikanische Drogenbehörde DEA arbeiten. Manchmal ist es sogar eine Art Schutz, wenn man über das organisierte Verbrechen berichtet. Wenn ich zum Beispiel den Anführer der brasilianischen Verbrecherorganisation Comando Vermelho spreche, kommt mir in Rio de Janeiro niemand dumm, weil ich ja "zu denen gehöre".

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Aber in Mexiko werden Journalisten oft zum Ziel der Kartelle?
Die Gründe dafür sind meistens erschreckend kleinlich. Manchmal sind die Kartelle sauer, weil wir etwas veröffentlichen, das ihnen nicht gefällt. Ein Kollege wurde beispielsweise umgebracht, weil er den Kommentar einer trauernden Mutter veröffentlicht hatte, in dem sie die Kartelle als Feiglinge bezeichnete. Dann sind sie oft wütend, weil wir nicht über etwas schreiben, etwa über Morde mit Symbolcharakter. Eine Zeitung aus Juarez hat da mal eine Schlagzeile gebracht, die direkt an die Kartelle gerichtet war: "¿Qué quiere de nosotros?" – also "Was wollt ihr von uns?".

Wann war es für dich am gefährlichsten?
Einmal war ich im mexikanischen Bundesstaat Michoacán unterwegs, als mich Kartell-Mitglieder für einen DEA-Agenten hielten und mich mit einer Handgranate bedrohten. Dann hat mir das Jalisco-Kartell mal damit gedroht, in meinem Hotel nach potenziellen Entführungsopfern zu suchen. Ein anderes Mal konnte ich gerade noch so der Straßensperre eines Kartells entgehen. Die Liste geht noch ewig weiter.

Wen finden die Kinder im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa besser, den Kartellboss Chapo Guzman oder Che Guevara?
Natürlich El Chapo. Die Ideologie spielt hier eine wichtige Rolle. Was den Kartellen an politischer Agenda fehlt, machen sie mit merkwürdigen Überzeugungen wieder wett. Bei den Los Zetas ist es zum Beispiel so, dass kein Toter zurückgelassen wird. Das geht dann so weit, dass sie ihre toten Kameraden aus den Leichenhäusern klauen. Viele Kartellbosse, etwa Nazario Moreno, halten sich selbst für Götter. Und dann gibt es noch den Robin-Hood-Aspekt, also dass man sich für den kleinen Mann und die armen Leute einsetzt. Das ist vor allem den kleinen Kartellen wichtig.

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"'Weichere' Drogen wie Kokain oder Marihuana würde ich entkriminalisieren oder gar legalisieren."

Wie würdest du gegen die Drogen- und Gewaltprobleme in Mexiko vorgehen?
Es braucht eine Reform der Drogenpolitik. Die Kartelle dürfen nicht mehr so viel Geld dafür bekommen, sich gegenseitig abzuschlachten. Bei schwer zu legalisierenden Drogen wie Heroin muss man den Süchtigen helfen, denn Sucht ist die Grundlage für Überdosen und den Profit der Kartelle. "Weichere" Drogen wie Kokain oder Marihuana würde ich entkriminalisieren oder gar legalisieren.

Dann darf man die jungen Menschen nicht auf die schiefe Bahn geraten lassen. Die Gesellschaft muss diesen jungen Leuten etwas bieten, man muss in die Sozialarbeit investieren und etwas gegen die ungleiche Vermögensverteilung unternehmen. In sozial schwachen Gegenden haben es die Kartelle nämlich besonders leicht.

Und natürlich braucht es eine vertrauenswürdige Polizei. Aber wie erreicht man das? In Nicaragua ließen sich die Behörden trotz der vorherrschenden Armut wohl lange nicht von den aufstrebenden Gangs kaufen, aber inzwischen soll sich das auch geändert haben. In Kuba ist die Verbrechensrate viel niedriger, was aber wohl an dem relativ autoritären System liegt. Und in Ländern wie Chile gibt es weniger Verbrechen, aber auch ein höheres Pro-Kopf-Vermögen.

Wie schätzt du die Entwicklung unter dem neugewählten mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador ein?
Nach seiner überlegen gewonnenen Wahl gab es einen Moment der Hoffnung. Die ersten acht Monate von Obradors Präsidentschaft waren allerdings enttäuschend. Es gibt wieder mehr Gewalt, die Wirtschaft stagniert. Natürlich kann man das nicht alles an Obrador festmachen, dafür ist das alles viel zu komplex. Aber seine Strategien wirken weder durchdacht, noch sind sie erfolgreich.

Blickst du optimistisch in die Zukunft?
Das weiß ich nicht. Es ist aber auch nicht mein Job, optimistisch zu sein.

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