Hunde, Orgien und reichlich Alkohol – Das Leben als Crust Punk
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Martine Blue

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Hunde, Orgien und reichlich Alkohol – Das Leben als Crust Punk

Die Filmemacherin Martine Blue war jahrelang Punk. Anlässlich ihres neuen Films 'Hunting Pignut' haben wir mit ihr über die turbulente Zeit gesprochen.

Martine Blue war 24, als sie die Annehmlichkeiten ihres bürgerlichen Lebens hinter sich ließ. Sie hatte sich in einen Crust Punk – zu Deutsch auch liebevoll "Kruste" genannt – verliebt und verbrachte die folgenden acht Jahre in besetzten Häusern, containerte, trank reichlich Alkohol, kackte in Tüten, prügelte sich und bereiste die Welt mit ihrem Hund.

Ihre Erlebnisse aus dieser turbulenten Zeit dienten als Grundlage für ihren neuen Film Hunting Pignut, der diese Woche in die kanadischen Kinos kommt. Wann der Film bei uns zu sehen sein wird, ist noch unklar.

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Wir haben Blue gefragt, wie es sich lebt, wenn man nicht weiß, wo die nächste Mahlzeit herkommt – und warum sie diese Zeit vermisst.

VICE: Wie würdest du einen Straßenpunk beschreiben?
Martine Blue: Für mich ist das eine politische Ideologie absoluter Freiheit kombiniert mit Hedonismus. Es geht darum, keinen Job und keine geräumige Wohnung oder gar ein Haus zu haben. Es geht darum, Häuser zu besetzen, sich per Anhalter fortzubewegen, auf Güterzüge aufzuspringen und sich sein Essen aus Mülltonnen zu fischen. Es ist eine Ideologie, in der deine Zeit wertvoller ist als Geld. Einen gewissen Look hat es auch: dreckig, zerfleddert, ein Haufen Patches, buntgefärbte Haare als Dreadlocks oder kurzgeschoren. Viele Punks reisen mit Hund und Rucksack umher.

Was ist das größte Vorurteil gegenüber Straßenpunks?
Dass alle ständig nur saufen und Drogen nehmen – oder dass sie Geld nur für Alkohol und Drogen sammeln. Manchmal brauchte mein Hund eine Impfung oder so. In Europa habe ich auf der Straße Stepptanz gemacht, damit ich das Geld für das Flugticket meines Hundes zusammenkriege. Die Leute denken, wir seien alle Alkoholiker oder ständig auf Heroin. Das stimmt einfach nicht. Insgesamt schauen die Menschen von oben auf einen herab.


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Wie bist du in dieser Subkultur gelandet?
Ich lebte in Toronto und eine Freundin war bei mir zu Besuch. Ein Freund von ihr wiederum reiste gerade per Anhalter von der Ost- zur Westküste und ich bot an, dass er die Nacht bei mir schlafen könnte. Ich habe mich dann in ihn verliebt und bin ihm sogar in den Westen hinterhergereist, um ihn besser kennenzulernen. Wir sind schließlich zusammen nach New York City ins C-Squat gezogen. In NYC ist es legal, Häuser zu besetzen. Wenn ein Gebäude zehn Jahre oder länger besetzt ist, dann kann die Stadt es nicht mehr räumen. Die ersten paar Jahre, die wir dort gelebt haben, gab es kein fließend Wasser. Wir haben in Tüten gekackt und in Flaschen gepinkelt. Jemand mit Geld hat uns dann aber freundlicherweise 3.000 US-Dollar vorgestreckt, damit wir das Gebäude mit Wasser versorgen konnten. Wir haben ihn monatlich abbezahlt. Die letzten paar Jahre, die ich dort gelebt habe, gab es auch eine Gemeinschaftsdusche.

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Was haben deine Eltern davon gehalten?
Für die war das sehr typisch für mich. Sie machten sich zwar schon Sorgen, aber ich war erwachsen. Es gab nichts, was sie tun konnten. Sie fanden sich schließlich damit ab, dass ich das eher vorübergehend machen würde – was ich letztendlich auch tat. Aber es hat mich für immer beeinflusst. Es ist immer noch ein großer Teil meiner Persönlichkeit und meine Freunde aus der Zeit sind mir immer noch sehr nah und lieb. Auch wenn ich nicht mehr auf der Straße rumhänge und ein Haus habe, habe ich nicht das Gefühl, dass sich meine Ansichten groß geändert haben.

Wie sahen deine Tage als Punkerin aus?
Ich habe Stepptanz und Straßenmusik gemacht, um an Geld zu kommen. Ich bin rumgereist, habe viel geschrieben, reichlich getrunken und generell Spaß gehabt. Wenn ich gerade nicht in einem besetzten Haus gelebt habe, ging die meiste Zeit dafür drauf, Essen und einen Platz zum Schlafen zu finden. Ich brauchte Stunden, um eine gute Stelle ausfindig zu machen. Ich habe viel auf Dächern geschlafen. Die schienen mir sicherer zu sein. Auf der Straße wollte ich nicht schlafen. Ich habe containert und das Essen kontrolliert – immer in der Hoffnung, dass keine komischen Chemikalien drüber gekippt wurden. Ich bin per Anhalter gereist und auf Züge aufgesprungen. Per Anhalter brauchst du etwa doppelt oder dreimal so lang, um irgendwohin zu kommen. Die Züge bringen dich nicht immer dahin, wo du denkst, und du wartest lange an den Depots. Dort musst du dich mit Sicherheitsleuten rumschlagen, die dich entweder vom Gelände schmeißen oder die Bullen rufen.

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Als ich mein eigenes Zimmer im C-Squat hatte, habe ich mir ein Bett gebaut. Ich hatte einen Kühlschrank, einen Herd – ich hatte eine komplette Küche. Ich hatte auch eine 16mm Kamera und einen Schneideraum. Wir hatten Elektrizität und alles. Wir fanden ständig Möbel auf der Straße. In New York lebten so viele reiche Leute, die einfach ihren Kühlschrank auf die Straße stellten, weil er nicht zur neuen Küche passte.

Ich sehe das so: Du zahlst immer mit deiner Zeit – so oder so. Entweder du arbeitest für Geld oder du investierst deine Zeit, um die Sachen selbst zu machen.

Gab es Hierarchien innerhalb der Szene?
Es beruht alles sehr auf Gleichheit, allerdings gab es auch Gewalt. Wir haben viel getrunken und viele haben dazu Drogen genommen. Das kann dich im Kopf ziemlich kaputtmachen. Die Gewalt vermittelte auch einen Eindruck von Chancengleichheit. Es gab keinen Anführer oder irgendwas in der Art. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen hatte die stärkere Person in der Regel allerdings die Oberhand. Wir haben nie die Bullen gerufen – das war ein absolutes Tabu. Die Streitigkeiten wurden also untereinander geklärt oder halt nicht.

Wie wurden Frauen behandelt?
Frauen waren ziemlich gleichgestellt. Ich habe mein Auto selbst repariert und an meinem Zimmer gearbeitet. Ich war damals viel mehr handwerklich unterwegs als heute. Jetzt habe ich einen Ehemann und wenn er etwas schneller kann, dann lasse ich ihn das machen. Ich hatte einen Ratgeber für meinen Van und wenn etwas kaputt war, habe ich mir die entsprechenden Teile besorgt und es selbst gemacht. Diese Dinge – dein Auto reparieren oder etwas bauen – fressen auch sehr viel Zeit. Die Frauen in dieser Subkultur sind ziemlich hart. Wir verfügten über eine Menge Fähigkeiten, die wir vielleicht nie entwickelt hätten, wenn wir nicht diesen hohen DIY-Anspruch gehabt hätten. DIY war aber auch notwendig, weil wir nie Geld hatten.

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Was war mit Sex?
Für mich war das wie in Hollywood. Die Szene war ziemlich weitläufig und es kamen immer neue Reisende vorbei. Die meisten von uns waren jung und sahen ziemlich gut aus. Manche waren richtig schön. Es kam zu einigen Paarungen. Allerdings hielten die Beziehungen in der Regel nicht sehr lang, weil immer jemand Neues und Interessantes auftauchte, in den man sich verknallte. Während meiner drei Jahre im C-Squat hatte ich allerdings einen Freund. Ich war nie lange Single. Es gab auch Orgien und Dreier. Wenn Leute trinken und Drogen nehmen, kann das schon passieren.

Hast du dich sicher gefühlt?
Es gab kein Gesetz und keine Regeln. Alles ging. Ich habe mich nicht immer sicher gefühlt. Es gab Gewalt. Aber ich wurde auch als Kind gehänselt und bin dementsprechend mit der Einstellung aufgewachsen, dass ich unglaublich hart sein muss. Das hat mich zu dieser Szene auch hingezogen. Ich habe jahrelang Kampfsport gemacht, damit ich richtig kämpfen konnte. Ich bin mehrmals in Schlägereien gelandet und habe keinen Rückzieher gemacht. Ich hatte damals einen gewissen Ruf als Kämpferin.

Wenn ich allein mit meinem Hund unterwegs war, habe ich manchmal dumme Sachen gemacht. Als ich zum Beispiel per Anhalter in die Südstaaten gereist bin, bin ich mehr als einmal bei jemandem eingestiegen, bei dem ich mir dachte: "Das war richtig dumm. Was machst du hier?" Dann saß ich da neben einem fetten Lastwagenfahrer, dem widerliche Gedanken durch den Kopf gingen. Meistens waren es meine eigene Dummheit und Unbedarftheit, die mich in unsichere Situationen gebracht haben.

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Wie haben "normale" Menschen dich behandelt?
Wenn wir in ein Geschäft gegangen sind, haben uns viele angeguckt, als ob wir gleich was klauen würden. Das haben wir gelegentlich auch getan. Ganz unberechtigt waren ihre skeptischen Blicke also nicht. Ansonsten gingen sie eigentlich immer davon aus, dass wir alle Drogen nehmen. Generell schaute man auf uns herab. In NYC war man uns allerdings gewohnt. Wir hatten uns an der Lower East Side etabliert.

Wenn es im Sommer richtig heiß war, haben wir ein Planschbecken vor dem Haus aufgestellt und uns darin betrunken. Die Leute aus der Nachbarschaft sind dann vorbeigekommen und haben uns Bier ausgegeben.

Warum hast du mit diesem Leben aufgehört?
Mit 30 wollte ich einfach zurück nach Kanada und wieder zur Uni. Kurz nach 9/11 bin ich dann zurückgezogen.

Jetzt bist du verheiratet und hast dein eigenes Haus. Würden deine Freunde dich heute nicht als Sellout bezeichnen?
Wir sind jetzt alle älter und weiser geworden. Wir denken anders als früher. Ich bin allerdings immer noch Teil dieser Szene. Mein Mann und ich haben meinen Film, Hunting Pignut, in den Südstaaten gezeigt und wir haben bei der Gelegenheit einen Haufen Freunde besucht, die ich seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Viele von ihnen sind genau wie wir. Die meisten leben auf dem Land und sind erwachsener geworden. Wirklich auf die Probe werde ich gestellt, wenn ich den Film im C-Squat zeige, wo ihn ein Haufen meiner Freunde auf einmal sehen wird. Ich hoffe, sie finden ihn ehrlich – egal, ob sie ihn mögen oder nicht.

Ich glaube nicht, dass ich mich verkauft habe. Ich bin immer noch eine arme Indie-Filmemacherin. Ich wollte mit Hunting Pignut die liebevollen und die kunstvollen Seiten zeigen, genau so wie die anderen Aspekte – die Gewalt. Ich wollte zeigen, wie toll und schön es in dieser Welt sei konnte. Du gehst ständig an solchen Leuten auf der Straße vorbei und hast keine Ahnung, wie ihr Leben eigentlich aussieht.

Viele meiner Freunde sind am Drogenkonsum gestorben, insbesondere an Heroin – es ist das Schlimmste. Einige meiner Freunde schlagen sich noch mit den Spätfolgen ihres hohen Drogenkonsums herum. Wenn sie nicht sterben, können sie später schwere Probleme deswegen davontragen. Du kannst süchtige Menschen nicht aufhalten. Das ist das Beschissene daran. Es war alles frei und schön, aber auch das war ein Teil davon.

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