Kurze Pause, ich gucke hoch. Die mutmaßlichen Langzeitstudenten in Reihe 1 schauen mich neugierig an. Wie konnte es nur soweit kommen? Von vorne: Seit jeher fühle ich mich von Poetry Slams provoziert. Von den Künstlerinnen, die mit gespielter Überwindung ihr Seelen-Inneres preisgeben. Von den Zuschauern, die ganz unkonventionell auf Bierkästen oder Sitzkissen rumlümmeln.Dabei einen Gesichtsausdruck aufsetzen, der unmissverständlich verrät: "Ich habe meinen Fernseher ja schon vor Jahren weggeschmissen." Und ganz besonders provoziert mich Julia Engelmann, dieser fleischgewordene WG-Putzplan.Aber es geht hier nicht um Einzelpersonen, sondern um das gesamte Genre. Um all das, was Poetry Slams zu sein behaupten: ungeschminkt und schonungslos, irgendwie verpeilt, aber doch liebenswürdig. Alles ein riesiger Bluff.Von Nervosität bei den Slammenden keine Spur, dank der Teilnahme am Bundesfinale von "Jugend debattiert" sitzt jede Betonung im ab - ge - hack - ten Sla - mmerflow. Authentisch ist hier gar nichts. Das ist zumindest mein Eindruck. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nur einen Poetry Slam in meinem Leben besucht. Und den auch nur, bis ich mich zur Pause in eine nahegelegene Kneipe flüchtete."Als du zu mir zogst, war ich allein: Die Miete hoch, die Wohnung klein, die Frage aller Fragen: Willst du, willst du, willst du mein Mitbewohner sein?"
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Auch Marios Schwärmereien über seine Singlejahre, als er noch "bei offener Tür kacken" konnte und nicht von seiner Freundin mit Deko-Artikeln terrorisiert wurde, lassen sich mühelos auf die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in einer WG ummünzen. Bei mir klingt das dann so:
Gag für Gag klopfe ich Marios Gesamtwerk nach slamtauglichen Passagen ab. Die enorme Entwicklung vom ersten Bühnenprogramm ("Männer sind Schweine, Frauen aber auch") bis zu den aktuellen Nummern ("Männer sind faul, sagen die Frauen"). Die Show im ausverkauften Olympiastadion vor 70.000 Menschen gucke ich mir in voller Länge an, zwei Mal.Bei Wikipedia lese ich, dass Mario Barth in Kreuzberg aufwuchs. Wäre der "peinlichste Berliner 2008" ein erfolgreicher Slammer, wenn er zwanzig Jahre später geboren worden wäre?In mein Gedicht baue ich alles ein, was Gender-Experte Barth zum Geschlechterverhältnis erforscht hat. Den Langenscheidt mit dem Titel Deutsch – Frau/Frau – Deutsch: Schnelle Hilfe für den ratlosen Mann. Aber vor allem Marios Freundin, die laut ihm zu blöd ist, um den Unterschied zwischen Nilpferd und Nashorn zu peilen.Dass SIE "im Dialog kocht", während ER "beim Fressen seine Ruhe haben will". Eine feine Beobachtung: Für Männer ist Essen Nahrungsaufnahme, für Frauen Selbstverwirklichung. Lässt sich prima auf den prätentiösen Mitbewohner umschneidern, der die Gerichte aus der Netflix-Serie Chef's Table nachkocht . Mein erfundener Mitbewohner hat selbstverständlich auch keine Ahnung von Filmen für die Zielgruppe "echte Kerle". Den Lieblingsort einer jeden Frau, wie Barth sie sich vorstellt, nämlich Outletstores in den letzten Provinznestern, passe ich Berliner Verhältnissen an. Ich wähle einen angesagten Club, mit dessen Besuch man beim Mittagessen in der Mensa prahlen kann."Jetzt ist alles anders, Duftstäbchen im Pfandglas. Nur ein Satz (Einsatz) in vier Wänden später, Welcome Home schmeichelt der Fußabtreter, Dekoterror brüll ich wütend in mein Inneres hinein, muss erst lernen mich zu zügeln, die Miete hoch, die Wohnung klein. Früher, ach früher war hier Totentanz, mittags fiel der Hosenzwang, bei offner Tür zum Klo gegang’, Verschimmeltes war Wohnbestand"
Mein Gedicht soll aber nicht einfach lustig sein. Es muss auch ernste Momente geben, die ich mit brüchiger Stimme und Kloß im Hals vortragen kann. Auch Mario zieht ja nur über Frauen her, um ihnen am Ende zu sagen, dass wir Männer ohne sie einfach nicht können.Ich beschreibe also, dass mich der streberhafte Lebensstil meines Mitbewohners anfangs tierisch nervt. Der Putzfimmel, das aufwändige Gekoche und die Spaziergänge über den Wochenmarkt – alles entnommen aus Marios Stand-ups."Es gibt vieles, das uns im Weg ist. Du hältst 4 Blocks für ’nen Spielmodus bei Tetris und Nächte im KitKat für ein Erlebnis, tanzt da splitternackt im Käfig, auch ich hab’s versucht, beim Türsteher – vergeblich."
Dann aber, Achtung: Plot Twist, befreit mich mein Mitbewohner aus meinem selbstgewählten Gefängnis. Den Wochenenden, die ich ungewaschen hinter zugezogenen Gardinen verbringe. Gewärmt von der glühenden Konsole."Dein Leben ist ein Berliner Untergrundfilm, der Titel: Ein Brustbeutel für jede Lebenslage , mein Leben ist ein VICE-Artikel: Wie ich 365 Tage dieselbe Unterhose trage."
Auf der S-Bahn Fahrt nach Babelsberg stelle ich mir zwei Halbe gegen die Aufregung rein. Ich beäuge die anderen Fahrgäste kritisch. Alle könnten potenzielle Konkurrenz sein. Mein Gegenüber trägt einen Herschel-Rucksack: verdächtig. Kleine Generalprobe in der Bahn, meine Begleitung erteilt letzte Ratschläge."Und wenn mich schlaflose Nächte und Lampenfieber plagen, als müsste ich ein ausverkauftes Olympiastadion bespaßen, ich mich allein fühl dank all dieser Ängste, sagst du gelassen: Kennste, kennste, kennste."
Die Gäste im Waschhaus rätseln noch, ob ich lustig sein will oder tatsächlich so ein tristes Leben führe. Vereinzelte Lacher bei einer Zeile, in der das Wort Sex vorkommt. Sonst mehr so geräuschvolles Schnauben durch die Nasenlöcher, man fühlt sich unterhalten.Ein langgezogenes "Ihhh", als ich erkläre, das ganze Jahr dieselbe Unterhose zu tragen. Dann kein überschwänglicher, aber motivierter Applaus. Und 29,5 Punkte. Na also, nur knapp hinter dem Paris-Korrespondenten. Für ein Dreier-Finale könnte das reichen."Und das ist noch nicht der Tiefpunkt unser sexlosen Beziehung. Ich sei bekloppt, weil ich die Wochenenden vor der Konsole verplemper, während du mit Weidenkorb im Arm über den Markt am Kotti schlenderst. Du sagst, ich sei primitiv, aber glücklich, und Mario Barth alles andere als witzig, wer sich an solch stumpfer Scheiße überhaupt erfreut – deutsch –Mitbewohner/Mitbewohner – deutsch."
Ich schaue mich nach den Notausgängen um. Nach dem Liebesgedicht eines jungen Mannes, dessen Bedeutung sich in zu vielen Nebensätzen verliert, liege ich meinen Berechnungen nach weiterhin auf Finalkurs.Eine Newcomerin kämpft sich mit zittrigen Händen durch ihre Gedanken zum Thema Schwangerschaftsabbruch und der Reform der § 218 ff. StGB. Sie kehrt die Verhältnisse um. Wie sich Frau Seehofer in einem Matriarchat wohl zu der Frage positionieren würde?Bedächtiges Schweigen im Waschhaus. Als die Jury ihre Punkte verteilt, beginnt eine Diskussion, ob man über so ein wichtiges politisches Statement abstimmen kann, man einen Text schlecht bewerten kann, ohne den Inhalt abzulehnen. Nach einem Hin und Her zwischen Moderator und Veranstalter die Entscheidung: Man kann.Das war es mit Platz drei und dem erhofften Finale. Gegen die Selbstbestimmung der Frau kommt ausgerechnet Mario nicht an. Vielleicht ist das auch ganz gut so. Ich bin trotzdem stinksauer und fühle mich in meiner Schreiberehre gekränkt.Da lasse ich mich in einem literarischen Wettbewerb von einem Matze-Knop-Double und Yung Kohlrabi abziehen, das ist wirklich der Tiefpunkt."Was mir immer wieder bei langen Beziehungen auffällt, sind bestimmt auch viele Pärchen heute Abend hier, die sich fragen: Lange Beziehung, wie macht man dat, mensch, lange Beziehung ?"
Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat."Diese Neue in meinem Alten zeigt mir deutlich, was ich bin. Ein Verlierer zum Verlieben, ein zu groß gewordnes Kind. Und erkenne ich dich jetzt durch den hellen Schein, denk ich an den Anfang, die Miete hoch, die Wohnung klein."