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Gefängnis

Ich habe einen Neonazi in meiner Gefängnis-Lesegruppe

Ein Häftling, der zum Hitler-Verehrer erzogen wurde, hat mich dazu gebracht, meine eigene Denkweise zu hinterfragen.
Illustration von Calum Heath

Dieser Artikel wird in Zusammenarbeit mit The Marshall Project veröffentlicht.

Mein Herz schlug schneller. Mir wurde auf einmal ganz warm, ich riss mir meinen Pulli runter. Im Aufsatz meines Schülers hatte ich soeben gelesen: " Mein Kampf war meine wichtigste Lektüre."

Ich leite eine Gefängnis-Lesegruppe namens Words Beyond Bars im US-Bundesstaat Colorado. Es handelt sich dabei um ein Bildungsangebot. Im größten Gefängnis des Staats treffen wir uns alle zwei Wochen in einem Klassenzimmer aus Betonziegeln. Das letzte Buch, das wir vergangenes Semester lasen, war Tiergarten – In the Garden of Beasts: Ein amerikanischer Botschafter in Nazi-Deutschland von Erik Larson. Der Autor untersucht aus psychologischer Sicht die Amtszeit des US-Botschafters William Dodd während der Anfangsjahre des Dritten Reichs. In meiner Gruppe löste das Buch viele Diskussionen aus, über Weltpolitik, das Ende der "Dichter und Denker"-Ära in Deutschland und über Hitlers effektiven Populismus.

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Doch obwohl mein ehrenamtliches Engagement in einem Männergefängnis stattfindet, hatte ich mit einem Aufsatz wie diesem nicht gerechnet.

"Ich hasse Regierungen, da kommt nie was Gutes bei raus und die meisten Menschen in der Regierung sind furchtbar", schrieb mein Schüler, der für einen tätlichen Angriff mehr als 60 Jahre absitzt. "Es gab eine Zeit, da war der Name Hitler ein ruhmreicher. Für mich und die Menschen in meiner Umgebung war er 'Onkel Adolf'."

Seine Worte brachten mich dazu, an dem Mantra zu zweifeln, auf das ich mich für meine Arbeit im Gefängnis besonders konzentriert hatte: Alle haben ein Recht auf ihre eigene Meinung, auf ihre eigene Geschichte. Konnte ich daran noch festhalten, jetzt wo ich wusste, wie er dachte? Ich kannte bereits sein Verbrechen, und das hatte bei mir keine so starke Reaktion ausgelöst. Sollte das jetzt alles ändern?

Die 25 Teilnehmer meiner Gruppe haben alle erdenklichen Abstammungen, sie sind Schwarze, Weiße, Latinos, amerikanische Ureinwohner. Alle müssen nach der fertigen Lektüre eines Buchs ein Essay schreiben, in dem sie ihre Gedanken darüber ausdrücken. Als Kursleiterin nehme ich diese Arbeiten mit nach Hause und beurteile sie. Oft bin ich beeindruckt von diesen tiefgründigen Denkern und ihrer Analyse der Handlungen, Figuren und Schauplätze.

Nur gehörte in diesem Fall zur Handlung der nicht-fiktive Völkermord an Juden und Jüdinnen.

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Hatte ich vielleicht mit diesem Buch eine schlechte Wahl getroffen? Ein Lebenslanger aus der letzten Gruppe hatte mir eine Anfrage geschrieben; das Werk gehöre zu seinen Lieblingsbüchern. Und es hatte fünf Sterne auf Amazon, also hatte ich es genommen.

Bei unseren Diskussionen zu Larsons Buch kamen Fragen auf wie: "Warum haben alle die Juden so sehr gehasst?" Oder: "Ist euch schon mal aufgefallen, dass Hitler genauso perfektes Timing hatte wie Donald Trump?" Irgendwann teilte ich auch mit der Gruppe, dass meine eigenen Eltern bereits 1933 aus Deutschland geflohen waren – weil sie Juden waren und somit verhasst.

Doch in diesem Essay war ich zum ersten Mal damit konfrontiert, dass einer meiner Schüler rassistische Sichtweisen hatte und sich mit dem "Überleben der weißen Rasse" beschäftigte. Dass er diese Ansichten recht respektvoll und wortgewandt mitteilte, machte es fast noch schlimmer. Er war schon seit drei Sitzungen in der Gruppe und hatte unsere Lektüre immer verschlungen. Danach teilte er aufmerksame und interessante Beobachtungen. Er war eine Bereicherung für das Programm und geizte auch nicht mit Lob für die anderen Teilnehmer. Ich hatte ihn wirklich gemocht.

Ich nippte an meinem Kaffee und las weiter seine Selbstoffenbarung. Er erläuterte, dass die weiße Kultur in den USA heute im Begriff sei unterzugehen, und ich fühlte mich betrogen. Wie hatte ich so leidenschaftlich darauf bestehen können, unsere Lesegruppe könne in den Teilnehmern einen tiefgreifenden Wandel auslösen? Das Modell sieht vor, dass es sich um eine kleine Gruppe von Lesern handelt, die miteinander interagieren. Dabei sitzen wir im Kreis, um die Gleichwertigkeit aller Teilnehmer zu betonen. Dass alle Teilnehmer mindestens ein schweres und oft gewaltsames Verbrechen begangen haben, spielt dabei keine Rolle. Ich glaube fest daran, dass diese Männer mehr sind als ihre Verbrechen, die oft Jahrzehnte zurückliegen.

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Warum also musste ich nun so an diesem Mann zweifeln? Immerhin kannte und respektierte ich ihn eigentlich. War ich etwa die Heuchlerin? Er belog mich doch gar nicht, sondern erzählte nur seine Wahrheit. Vielleicht hatte mich tatsächlich jemand in die Irre geführt, nur war dieser jemand ich selbst. Ich hatte geglaubt, ich könne diese Männer annehmen, wie sie sind, doch das währte nur so lang, bis ihre Ansichten meine eigenen Grenzen verletzten. Vielleicht hatte ich auch eine romantische Vorstellung davon gehabt, inwiefern das richtige Buch sie "heilen" kann.

Ich dachte an die Worte des Gefängnisdirektors. Er behauptete, die Häftlinge würden sich nur für die Lesegruppe anmelden, um ihren Zellen zu entkommen und eine Frau zu sehen.

Gegen Ende seines Aufsatzes räumte mein Schüler ein, es habe ihn ein wenig Mut gekostet, von seiner Vorgeschichte zu erzählen. Als er mit der Schilderung seiner Erziehung fertig war, schrieb er: "Ich habe mich davon noch nicht vollständig losgesagt, aber von dem extremen Hass, den die Anhänger der Nazi-Partei verbreiten, habe ich mich inzwischen distanziert."

Dann kam er wieder auf die Lesegruppe zu sprechen. "Ich habe einen Weg gefunden, diese erdrückenden Bande zu durchtrennen. Ich habe mich Words Beyond Bars angeschlossen, einer Lesegruppe. Sie hilft den Menschen, sich zu öffnen und die Dinge aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Man erweitert seinen Horizont und verbringt Zeit mit Leuten, mit denen man normalerweise nicht reden würde."

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Es war meine Liebe zur Literatur, die mich zu diesem Beruf führte. Gleichzeitig ist es mir ein Anliegen, unsere amerikanische Kultur der Masseninhaftierung etwas menschlicher zu machen. Die Männer sind in der Regel höflich, dankbar, engagiert und verzweifelt auf der Suche nach mehr Bildung. Sie sehnen sich nach Bestätigung und einer Chance, innerhalb des grauen Gefängnis-Einerleis ihre Individualität zu bewahren.

Der Schluss des Essays war gleichzeitig rührend und ein wenig verstörend. Der Autor schloss mit: "Ich würde alles dafür geben, ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu sein. Und dieser Wunsch hat dazu geführt, dass ich mich langsam verändere. Innerhalb des begrenzten Raums im Gefängnis habe ich ein gewisses Maß an persönlicher Freiheit erlangt. Freiheit im Gefängnis – man stelle sich nur vor."

Als ich die letzten Zeilen gelesen hatte, fühlte ich mich nicht länger betrogen. Ich zweifle auch nicht länger daran, ob Erik Larsons Buch eine gute Wahl war. Und ich verstehe diesen Mann jetzt besser als zuvor. Er ist einer von vielen.

Karen Lausa ist die Entwicklerung und Leiterin von Words Beyond Bars, einer Lesegruppenreihe für Gefängnisse in Colorado.

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